# taz.de -- Diplomat über Geopolitik in Coronazeiten: „Die USA missbrauchen das Virus“
       
       > Wegen Corona könnte die US-Dominanz in der Welt vorbei sein, sagt der
       > Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani. Europa sei der Krisengewinner.
       
 (IMG) Bild: Dass US-Präsident Donald Trump und Chinas Präsident Xi Jinping sich gerne küssen würden, glaubt kein Mensch
       
       taz am wochenende: Herr Mahbubani, [1][die Coronaviruspandemie] hat bislang
       kein Land stärker getroffen als die Vereinigten Staaten, Chinas Erzrivalen.
       Halten Sie die Volksrepublik für den Krisengewinner?
       
       Kishore Mahbubani: Ich wäre zum jetzigen Stand sehr vorsichtig, denn der
       Kampf gegen Covid-19 ist noch lange nicht vorbei. Bislang scheint es so,
       dass China den Virusausbruch wesentlich besser gehandhabt hat. Aber wenn
       morgen eine US-Universität mit einem Wunderimpfmittel um die Ecke kommen
       sollte, würde die ganze Welt den USA applaudieren. Lassen Sie uns erst mal
       abwarten.
       
       Dennoch sprechen Sie vom Paradigmenwechsel von der westlichen Dominanz zum
       asiatischen Jahrhundert. Hat die Pandemie diesen Prozess beschleunigt? 
       
       Die Beschleunigung fand doch bereits vor Covid-19 statt. Bis zum Jahr 1820
       waren die größten Volkswirtschaften der Welt stets China und Indien. Nur in
       den letzten 200 Jahren haben Europa und die Vereinigten Staaten ihren
       Siegeszug angetreten. Gegenüber den 2.000 Jahren zuvor ist die westliche
       Dominanz eine Anomalie. Natürlich wird sie irgendwann ihr Ende finden.
       
       Die Zahl der Todesopfer der Pandemie pro Million Einwohner [2][liegt in
       den USA] und einigen europäischen Staaten im mittleren dreistelligen
       Bereich. In den asiatischen Ländern liegt der Wert dagegen unter 10. Es
       zeigt sich ein Muster der Kompetenz in der Handhabung der Krise in Ostasien
       – zumindest bislang.
       
       Viele europäische Länder haben in den letzten Wochen tatsächlich versucht,
       von den Beispielen Südkorea und Taiwan zu lernen. China hingegen gilt in
       Teilen auch als abschreckendes Beispiel: In den ersten Wochen nach dem
       Virusausbruch hat die Regierung Virusproben zerstört und Wissenschaftler
       mundtot gemacht. 
       
       Der große Fehler, den der Westen meiner Meinung nach begeht, ist,
       Gesellschaften in Schwarz und Weiß zu kategorisieren, während die Realität
       in allen möglichen Grautönen verläuft. Natürlich hat China Fehler gemacht –
       etwa den, Wissenschaftler wie den Whistleblower Li Wenliang zum Schweigen
       zu bringen. Es gab in der Anfangszeit eine große Verwirrung. Als China
       jedoch erkannt hat, dass sich ein schwerwiegendes Problem auftut, war die
       Reaktion absolut einmalig: Eine ganze Provinz mit 60 Millionen Menschen
       wurde zwei Tage vor dem chinesischen Neujahr abgeschottet.
       
       Die chinesische Regierung propagiert jedoch ihrerseits eine
       Schwarz-Weiß-Propaganda: Sie streitet nach außen jegliche Fehler ab und
       inszeniert sich mit ihren Maskenlieferungen als Retter der Welt. 
       
       Chinesen sollte man am besten nicht innerhalb einer öffentlichen Debatte
       konfrontieren. Meine Erfahrung mit chinesischen Diplomaten und
       Regierungsvertretern ist, dass sie im Privaten sehr informiert und
       nachdenklich sind. Ich habe keine Zweifel daran, dass sie im persönlichen
       Gespräch auch Fehler eingestehen werden. Es ist eben ein anderes System.
       Wir müssen mit einem China leben, das existiert – und nicht mit einem
       China, von dem wir uns wünschen, dass es existieren würde.
       
       Also auch mit einem China, das künftig eine selbstbewusstere Stellung
       einnimmt. Geben die Machtdemonstrationen im Konflikt um das Südchinesische
       Meer oder die Protestbewegung in Hongkong einen ersten Vorgeschmack auf die
       neue Weltordnung? 
       
       Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen China und den USA: Amerika
       glaubt, dass es die beste Gesellschaft der Welt ist und dass es jedem
       anderen Land besser ginge, wenn es die USA kopieren würde. Die Chinesen
       haben einen anderen Standpunkt, der vereinfacht gesagt lautet: Nur wir
       Chinesen können Chinesen sein. Ihr sucht euer System aus, das gut für euch
       ist, und wir tun das für uns. Wenn man jedoch China kritisiert, und ganz
       besonders jetzt, dann reagieren sie sehr sensibel. Jeder mächtige Staat
       verfolgt seine eigenen Interessen an erster Stelle. Jetzt, da China stärker
       wird, wird es natürlich auch durchsetzungsfähiger. Das ist schlicht die
       Realität.
       
       Welche Rolle sollte Europa in Bezug auf China einnehmen? 
       
       Europa hat derzeit eine große Chance, sich als geopolitischer Player für
       die Welt von morgen zu positionieren: Denn während der Konflikt zwischen
       China und den USA eskaliert, braucht die internationale Gemeinschaft eine
       Gegenkraft, die stark genug ist, zwischen beiden Weltmächten zu vermitteln.
       Es wäre derzeit eigentlich nur logisch, dass man gemeinsam gegen das Virus
       kämpft.
       
       Stattdessen haben sich die USA – leider und entgegen ihrem eigenen
       Interesse – entschieden, [3][das Virus als politische Waffe gegen China zu
       missbrauchen]. Europa hat die Kraft für jene multilaterale Führungsrolle,
       die zum Beispiel Frankreichs Präsident Emmanuel Macron repräsentiert.
       Gleichzeitig ist Europa jedoch sehr ehrerbietig gegenüber den USA geworden.
       Zu Zeiten des Kalten Krieges hat das noch Sinn gehabt. Heute jedoch sind
       die geopolitischen Interessen nicht mehr dieselben.
       
       Sondern? 
       
       Die größte Herausforderung für Europa kommt von der Bevölkerungsexplosion
       in Afrika. Im europäischen Interesse ist es, die wirtschaftliche
       Entwicklung Afrikas zu fördern. Schließlich gehen der zunehmende Populismus
       und Rechtsextremismus auf die Migration zurück. Und der heute größte
       Investor in Afrika ist China. Wenn China Afrika entwickelt, ist das ein
       geopolitisches Geschenk an Europa.
       
       Kommen wir zurück auf die Beziehung zwischen China und den USA: Viele
       Drohungen Trumps sind wohl der anstehenden Präsidentschaftswahl geschuldet.
       Wird der Konflikt auch darüber hinaus weiter eskalieren? 
       
       Leider denke ich, dass die Beziehungen in den nächsten Jahren weiter
       schlechter werden. Das hängt mit tiefen, strukturellen Ursachen zusammen –
       ganz egal ob Donald Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnt, auch wenn
       Letzterer sicher respektvoller gegenüber China auftreten würde. Seit 2.000
       Jahren gibt es nämlich die eiserne Regel: Wenn eine aufstrebende Macht
       dabei ist, die bisherige Nummer eins zu überholen, dann steigen die
       Spannungen – seit Sparta und Athen gibt es das. Zudem gibt es in der
       westlichen Psyche seit Jahrhundert die „Angst vor der gelben Gefahr“. Es
       ist politisch nicht korrekt, darüber zu reden, aber ich glaube, dass viele
       Entscheidungen der US-Regierung von dieser unbewussten Angst angetrieben
       werden.
       
       Rückblickend war es ein Trugschluss der USA, zu denken: Wenn China seine
       Wirtschaft reformiert wie Ende der 70er Jahre, wird es sich früher oder
       später auch politisch öffnen. 
       
       Das klingt sehr naiv für mich. Wieso denkt ein Land wie die USA mit nicht
       mal 250 Jahren Geschichte und dem Viertel der Bevölkerung Chinas, dass es
       China ändern kann – und nicht umgekehrt. Da kommt eine gewisse Arroganz
       durch.
       
       Man könnte manchmal meinen, Sie sind gegenüber der Demokratie nicht
       besonders freundlich eingestellt. 
       
       Ich glaube nach wie vor, dass jede Gesellschaft irgendwann demokratisch
       wird. Die Geschwindigkeit und auch die Art und Weise ist jedoch in jedem
       Fall unterschiedlich. Der beste Weg für China zu einer Demokratie ist ein
       innerer Weg. Je weniger die Welt von außen Druck macht, desto besser für
       China.
       
       Das bedeutet ja im Umkehrschluss, dass die internationale
       Staatengemeinschaft stillschweigend zuschauen soll, wenn Chinas Regierung
       Menschenrechtsverletzungen begeht? Das können Sie doch nicht ernsthaft
       wollen! 
       
       Natürlich sollte man Menschenrechte fördern. NGOs und internationale
       Institutionen sollten Vergehen kritisieren. Wenn Staaten das jedoch tun,
       dann hegen sie immer eine Doppelmoral. Ein Beispiel: Die EU ist gegen
       Folter und kritisiert jedes Land für seine Foltervergehen, bis auf eines –
       die Vereinigten Staaten. Siehe Guantánamo.
       
       Wer soll denn Ihrer Meinung nach entscheiden, wann ein Land reif für
       Demokratie ist? Taiwan ist seine autokratische Führung losgeworden, auch
       Südkorea ist eine Demokratie. 
       
       Welches Land war denn der größte Unterstützer des einstigen südkoreanischen
       Diktators? Die USA. Natürlich hat sich Südkorea gewandelt. Weil der
       damalige Diktator Park Chung Hee für die Bildung seiner Bevölkerung und für
       Wohlstand gesorgt hat. Wenn es eine große Mittelschicht gibt, dann wird sie
       für Änderungen sorgen.
       
       Jetzt klingen Sie naiv, wenn Sie so ein Szenario auch für China
       prognostizieren. Die Bevölkerung genießt einen Wirtschaftsaufschwung und
       exzellente Bildung, gleichzeitig wurde die Meinungsfreiheit unter Präsident
       Xi Jinping eingeschränkt. 
       
       Ich habe 1980 das erste Mal China besucht. In Peking gab es keine
       Hochhäuser und kaum Autos. Die Leute konnten ihre Kleidung nicht wählen,
       geschweige denn ihren Wohnort oder ihr Studium. Auslandsreisen waren tabu.
       Nun schauen Sie sich das jetzige China an. Jedes Jahr gehen etwa 300.000
       chinesische Studenten an amerikanische Unis. Aus der Perspektive der
       Chinesen haben die letzten 40 Jahre eine größere Verbesserung der
       Lebensqualität gebracht als die letzten 4.000 Jahre.
       
       23 May 2020
       
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