# taz.de -- Sexuelle Minderheiten in Ungarn: Die transfeindliche Autokratie
       
       > Im Windschatten repressiver Coronagesetze treibt Ungarns Premier Orbán
       > die Demütigung von trans Menschen voran. EU-Abgeordnete protestieren.
       
 (IMG) Bild: „Ich akzeptiere Dich“: Klare Ansage bei der Budapest Pride im Jahr 2014
       
       Krisztina Orbán, 43, lebt in einer kleinen Stadt mitten in Ungarn und
       arbeitet für die NGO Transvanilla, die sich für trans Menschen einsetzt.
       Schon seit Jahren versucht Krisztina auf deren Situation in Ungarn
       aufmerksam zu machen. Krisztina ist selbst trans und identifiziert sich als
       nicht-binär, also weder als Mann noch als Frau. Den Geschlechtseintrag auf
       offiziellen Papieren konnte Krisztina nie ändern, weil diese Möglichkeit
       für nicht-binäre Menschen bisher nicht bestand. Und in diesen Tagen ist die
       Situation noch einmal verschärft worden.
       
       „Als ich von dem neuen Gesetzentwurf gehört habe, habe ich minutenlang
       still in meinem Auto gesessen“, erzählt Máté, 41, aus Budapest beim
       Videocall-Interview. Er ist trans und heißt eigentlich anders, möchte aber
       lieber anonym bleiben. Der Gesetzentwurf, von dem er spricht, wurde von der
       ungarischen Regierung am 31. März vorgestellt. Er sieht vor, dass beim
       Standesamt und auf amtlichen Dokumenten nur noch das „Geschlecht bei
       Geburt“ vermerkt werden darf. Das würde ein Ende der rechtlichen
       Anerkennung von trans Personen bedeuten, denn so wäre es ihnen unmöglich,
       Namen oder Geschlecht zu ändern. Máté konnte sich minutenlang nicht
       bewegen, als er davon hörte. Er war schockiert. „Ich dachte nur: Das können
       sie nicht machen, so kann ich nicht weiterleben.“
       
       Máté hat sich 2018, mit 39 Jahren, als trans geoutet und lebt seither offen
       als Mann. Vor seinem Outing war er nicht glücklich. Er habe getrunken,
       Drogen genommen und hatte Suizidgedanken. „Ich konnte lange nicht
       beschreiben, was mit mir los ist, und wusste nichts von Transidentität“,
       sagt er. In offiziellen Dokumenten konnte er seinen Geschlechtseintrag noch
       nicht ändern, obwohl er bereits im Oktober 2018 einen Antrag stellte. Seit
       etwa zwei Jahren ist es in Ungarn aber de facto nicht mehr möglich, den
       Geschlechtseintrag zu ändern, [1][die Behörden setzen das Verfahren nämlich
       aus].
       
       Dass Mátés Geschlechtsidentität nicht anerkannt wird, führt immer wieder zu
       Problemen, sobald er sich irgendwo ausweisen muss. Bei Terminen bei der
       Bank wird er misstrauisch angeschaut, seine Identität in Frage gestellt und
       erst kürzlich wollte ihm eine Anwältin bei einem Termin nicht glauben, dass
       er die Person auf seinem Ausweis ist. Kein Wunder, sagt er, denn darin
       stehe, dass er eine Frau sei, obwohl er dem Augenschein nach ein Mann ist.
       „Ich kann so nicht mehr weitermachen.“
       
       ## Sondervollmachten wegen Corona
       
       Das mediale Echo auf den Gesetzentwurf fiel nicht besonders groß aus –
       auch, weil es [2][im Schatten des neuen Corona-Notstandsgesetzes
       eingereicht wurde]. Dieses neue Gesetz stattet Orbán mit sehr viel mehr
       Macht als vorher aus. [3][Während der Pandemie regiert er nun per Dekret],
       und zwar ohne zeitliches Limit – auch wenn das Parlament auf unbestimmte
       Zeit in Zwangspause geschickt werden würde. Volksabstimmungen und Wahlen
       sind damit ebenfalls auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Im Gesetz sind
       außerdem hohe Haftstrafen für die [4][Verbreitung von Falschmeldungen und
       Verstöße gegen die Quarantäneauflagen vorgesehen].
       
       Die Opposition versuchte zwar noch einen Fristablauf im Gesetz zu verankern
       und war dafür sogar bereit, einen Notstand von 90 oder 120 Tagen zuzulassen
       – allerdings ohne Erfolg. Eine Zweidrittelmehrheit fand Orbán mit den
       Regierungsparteien auch ohne Opposition, der er nun mangelnden Patriotismus
       vorwirft. Das Parlament, das Orbán zu großen Teilen den Rücken stärkt,
       entscheidet auch darüber, wann die Gefahrenlage wieder vorbei ist. Niemand
       könne schließlich aktuell sagen, wie lange die Krise anhalte, sagt Orbáns
       Staatssekretär Csaba Dömötör.
       
       Kritikerinnen und Kritiker werfen der Regierung vor, die weltweite
       Aufmerksamkeit für die Coronakrise auszunutzen, und der Ombudsmann des
       Parlaments, Jenő Kaltenbach, bestätigte, dass die ersten Erlasse nach
       Orbáns [5][Ermächtigung nicht alle mit der Krise zu tun hatten]. Die
       unabhängige Abgeordnete Bernadett Szél beschreibt den transfeindlichen
       Gesetzentwurf als Rückschritt. Sie versuchte im Justizausschluss im
       Parlament einen Brief von trans Menschen über die befürchteten Probleme des
       Gesetzes zu verlesen, wurde aber vom Vorsitzenden daran gehindert – der
       Brief sei nicht relevant. Szél versteht nicht, wieso sich die Regierung
       während einer Pandemie nicht um das Gesundheitssystem und um die
       finanzielle Unterstützung der Menschen kümmere. „[6][Das, was in Ungarn
       passiert, ist ein Skandal“, sagte sie].
       
       Das sehen auch 36 Abgeordnete des EU-Parlaments so, die sich am 15. April
       in einem Brief an die ungarische Regierung wandten. Darin wiesen sie auf
       eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs hin, nach dem
       trans Menschen ein Recht auf die Anerkennung ihres Geschlechts haben. In
       dem Brief wurde auch eine Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichts
       [7][vom Juni 2018 erwähnt, das die Namensänderung als Grundrecht für trans
       Menschen sieht].
       
       Máté macht sich derweil große Sorgen, dass der Gesetzentwurf Wirklichkeit
       wird. Er befürchtet, dass er mit dem neuen Gesetz Probleme bekommen könnte,
       seine Hormone verschrieben zu bekommen. Welche Auswirkungen das Gesetz
       haben könnte, sei nämlich noch nicht bekannt. Deshalb denke er darüber
       nach, auszuwandern, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob sich all die
       Probleme in einem fremden Land lösen würden. Schließlich habe er ungarische
       Dokumente und Papiere mit dem falschem Geschlechtseintrag. „Noch habe ich
       aber die Hoffnung, dass ich in Ungarn bleiben kann.“
       
       Der aktuelle Gesetzentwurf zum Geschlechtseintrag ist nicht der erste
       Versuch, queeres Leben in Ungarn unsichtbar zu machen. Nachdem Orbáns
       Regierung 2013 Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz in der
       Verfassung einschränkte, ließ sie in die Verfassung eintragen, dass
       kinderlose, unverheiratete oder gleichgeschlechtliche Paare rechtlich
       [8][nicht mehr als Familien anerkannt werden]. Zwei Jahre später, 2015,
       verhinderten Ungarn und Polen eine EU-Vereinbarung, die bürokratische
       Hürden für im Ausland lebende verheiratete und verpartnerte Paare abbauen
       sollte. Der Grund für die Ablehnung: Das Gesetz sollte auch für
       homosexuelle Paare gelten.
       
       [9][2018 ließ die Regierung das Fach Gender Studies von der Liste
       zugelassener Studiengänge in Ungarn streichen]. Das Studienfach wurde schon
       häufig von Regierungsvertretern angegriffen, weil es das Fundament der
       christlichen Familie untergraben wolle und Geschlecht nun mal biologisch
       determiniert sei. Im Februar 2020 beklagte Orbán in einem Brief an die
       Europäischen Volkspartei (EVP), dass sie der Genderideologie zum Opfer
       gefallen sei und das heterosexuelle Familienmodell aufgegeben habe.
       
       ## Gefühlt aussichtslose Situation
       
       Nachdem nun der transfeindliche Gesetzentwurf eingereicht wurde, reagierte
       Krisztina Orbán von Transvanilla zunächst mit einer Onlinepetition gegen
       das Gesetz, für die bereits mehr als 20.000 Unterschriften gesammelt
       wurden. Dass die Europäische Union nichts gegen die ungarische Regierung
       macht, kann Krisztina nicht verstehen, immerhin verletze das Land seit
       Jahren EU-Recht: „Es scheint fast so, als könne ein Land machen, was es
       möchte, sobald es einmal aufgenommen wurde.“
       
       Krisztina fühlt oft nichts mehr, die Situation sei zu aussichtslos:
       „Ständig versuche ich mich der neuen Situation in Ungarn anzupassen, obwohl
       ich oft einfach nur wegrennen möchte.“ Die Regierung könne schließlich
       machen, was sie wolle, niemand schreite ein. Trotzdem versuchen Krisztina
       und die NGO weiterhin Akteur*innen auf EU- und UN-Ebene auf die
       Situation in Ungarn aufmerksam zu machen. Mit den aktuellen Plänen der
       Regierung, so befürchtet Krisztina, werde die Gewalt gegen queere Menschen
       zunehmen. „Ich weiß nicht mehr, wie ich als Aktivist*in weiterarbeiten oder
       wie die Situation noch beeinflusst werden kann.“
       
       30 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://lmbtszovetseg.hu/sites/default/files/mezo/file/lmbtszov_research2019sept_en.pdf
 (DIR) [2] https://www.theguardian.com/world/2020/apr/02/hungary-to-end-legal-recognition-of-trans-people-amid-covid-19-crisis?CMP=share_btn_fb&fbclid=IwAR0gzVX6oZoB-zrC1NHNY2uus1FKjrznxMn4geFy2YATexT0sSdn7OktsXo
 (DIR) [3] /Ungarns-autoritaere-Staatsumbildung/!5673611
 (DIR) [4] https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/ungarn-orban-ermaechtigungs-gesetz-100.html
 (DIR) [5] https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-in-ungarn-notstand-im-schatten-der-pandemie.979.de.html?dram%3Aarticle_id=474144
 (DIR) [6] https://www.theguardian.com/world/2020/apr/26/hungary-prepares-to-end-legal-recognition-of-trans-people?fbclid=IwAR1MWupjQEaFaCrutI4BjLiU6iLGvZp8zYLGC3TqbB-bAR3m3Fvv7ywWkEo
 (DIR) [7] https://www.queer.de/detail.php?article_id=35902
 (DIR) [8] https://www.queer.de/detail.php?article_id=18760
 (DIR) [9] /Ungarn-schafft-Geschlechterforschung-ab/!5543755
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steven Meyer
       
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