# taz.de -- Ungarns autoritäre Staatsumbildung: Orbáns Wort ist jetzt Gesetz
       
       > Ungarns Ministerpräsident Orbán wettet schon jetzt darauf, dass die
       > Pandemie Autokraten wie ihn begünstigt.
       
 (IMG) Bild: Viktor Orbán baut darauf, dass die Europäer ihn auch dieses Mal nur ermahnen werden
       
       Ministerpräsident Viktor Orbán hat keine Zeit für die Befindlichkeiten
       anderer Staaten, und falls er ehrlich sein darf, verstehe er gar nicht,
       wieso einige auf so etwas Energie verschwenden. Das schrieb er dem
       Generalsekretär der Europäischen Volkspartei Antonio López-Istúriz White,
       nachdem dieser die Sorgen der konservativen Parteien um die Demokratie in
       Ungarn übermittelt hat.
       
       Das Schreiben ist gewohnt arrogant und folgt derselben Berechnung wie zu
       Zeiten der Flüchtlingskrise. Der ungarische Premier wettet schon jetzt auf
       die politischen Veränderungen, die diese Pandemie nach sich ziehen wird.
       Die Länder werden autokratischer, weil starke Machthaber die Maßnahmen
       effektiver umsetzen oder die tatsächliche Opferzahl besser verheimlichen
       können. Am Ende des Tunnels ist Licht, und es strahlt auf Autokraten.
       
       Selbstvertrauen kann Orbán aus der [1][Kapitulation der Europäer] in der
       Flüchtlingskrise ziehen. Auch damals ist er vorgeprescht mit teils absurder
       Härte. Er ließ einen Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze errichten. Das
       Land baute zwei geschlossene Zentren für die Abwicklung der Asylanträge
       gleich am Stacheldraht. Die nennt man zynisch Transitzonen, obwohl kein
       Durchgang gewährt wird. Wem erstinstanzlich das Bleiberecht verweigert
       wird, bekommt in der Zeit der Berufung nichts mehr zu essen. Man könne ja
       jederzeit nach Serbien zurückgehen, sagen die Behörden. Damit endet aber
       der rechtliche Weg nach Europa.
       
       Europa hat diese Maßnahmen Stück für Stück hingenommen und teilweise auch
       angenommen. Immer weniger Menschen regen sich darüber noch auf.
       Griechenland folgt in diesen Monaten Orbáns Politik, und die 26 übrigen
       Mitgliedstaaten lassen Athen in dieser Krise allein. Niemand will jetzt
       Flüchtlinge, und da kann man leider nicht zimperlich sein – diese Sicht ist
       weit verbreitet.
       
       ## In Rechtsstaaten unerhört
       
       Letzte Woche urteilte der Europäische Gerichtshof, Ungarn, Tschechien und
       Polen hätten die Flüchtlingsaufnahme nicht verweigern dürfen. Aber der
       Richterspruch fühlte sich an wie eine Ermahnung aus einer anderen Zeit. Wer
       will noch zu den alten Debatten zurück? Wer will sich noch einmal mit
       Menschlichkeit, Willkommenskultur und „Wir schaffen das“ verbrennen?
       Deutschland schafft es nicht einmal, 1.500 Kinder aus Lesbos abzuholen.
       
       Auf diese verkehrte Evolution setzt Orbán auch jetzt. Dabei nutzt er
       Möglichkeiten, die in Rechtsstaaten eigentlich unerhört sind: Er lässt auf
       unbeschränkte Zeit das Parlament und alle Stadträte des Landes entmachten,
       er friert den politischen Wettbewerb ein, indem er landesweite und
       kommunale Wahlen sowie Volksabstimmungen verbietet. Orbán kann mit Dekreten
       durchregieren und Gesetze missachten. Seine Partei regiert allein und hat
       die verfassunggebende Zweidrittelmehrheit. Es gibt keinen
       Koalitionsausschuss, er muss auf keine andere politische Kraft achten, von
       innerparteilichen Konkurrenten ganz zu schweigen. Orbáns Wort ist jetzt
       Gesetz.
       
       Er weiß schon, wie die europäischen Medien reagieren werden: Er wird
       ermahnt werden, als Diktator bezeichnet, und hier und da wird zu hören
       sein, auch Adolf Hitler habe sich in einem März ermächtigt. Das werden
       ungarische Regierungssprecher entschieden zurückweisen, der Nazi-Vergleich
       sei falsch, unangemessen, verletzend. Sie werden damit recht haben. Und
       Orbán wartet darauf, dass die europäischen Demokratien taumeln. Darauf,
       dass die Menschen merken, wie viel einfacher alles ist, wenn die
       Entscheidungsfindung keinen Koalitionsausschuss und kein Parlament braucht.
       Kommen Rechtspopulisten in Italien und Spanien an die Macht, dann sind mit
       Polen drei der fünf größten europäischen Länder auf seinen Kurs
       eingeschwenkt. Und vielleicht kommt sogar die Zeit der Marine Le Pen in
       Frankreich. Deutschland mag mit seinem Wahlrecht weniger anfällig sein,
       hilft aber mit der Verweigerung der Euro-Bonds, die politische Krise im
       Süden Europas zu vertiefen.
       
       Werden die europäischen Rechtsstaaten diese Krise verlieren, wird sich
       Orbán dorthin zurückarbeiten, wo er vor zwei Monaten schon mal war. Knapp
       fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise hat er sich wieder Respekt verschafft.
       Er war maßgeblich an der Beförderung von Ursula von der Leyen zur
       Kommissionspräsidentin beteiligt. Er führte die EU-Haushaltsverhandlungen
       im Namen der Visegráder vier (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) an.
       Er war als einziger europäischer Regierungschef an der Vereidigung von Jair
       Bolsonaro zum brasilianischen Präsidenten dabei, er begrüßte unlängst Putin
       und Erdoğan in Budapest und strahlte an der Seite von Trump im Weißen Haus.
       Und er musste sich dafür nicht einmal verstellen.
       
       ## In Ungarn ist eine Hasspresse entstanden
       
       Orbán wurde wieder salonfähig, ohne die skandalösen Gesetze zurücknehmen zu
       müssen. Und während er die erhöhte Aufmerksamkeit und Wichtigkeit in der
       Welt genoss, ließ er seine Medien brutal gegen [2][die früheren Gegner]
       austeilen: Flüchtlinge, NGOs oder andere europäische Politiker. Eine
       Hasspresse ist in Ungarn entstanden. Wen wundert, wenn am Ende dieser
       Verrohung in der Livesendung des staatlichen Nachrichtenkanals über den
       rechtsterroristischen Anschlag in Hanau als „Verteidigungsreflex“
       gesprochen wird?
       
       Orbán kennt keinen Rückwärtsgang. Und er wettet: Auch diesmal werden ihm
       die Länder Europas folgen. Er muss nur noch die Jahre aussitzen, bis auch
       die anderen einsehen, wohin der Weg hinführt. Dafür ist er in Ungarn
       vorbereitet – nicht einmal Strafen schaden ihm richtig. Denn er kann den
       Notstand nach Belieben verlängern, bis er nicht nur die Krise bekämpft,
       sondern auch die politische Auseinandersetzung gewonnen hat.
       
       Jetzt hängt es an den Regierungen und [3][Parteien Europas], ob Orbáns
       Wette aufgeht. Die ungarischen Wähler können sich nicht mehr wehren, ihre
       europäischen Mitbürger schon.
       
       6 Apr 2020
       
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