# taz.de -- Wählen mit Behinderung: „Ein Fehler im System“
       
       > Michel Arriens hat vor der Treppe eines Wahllokals gewählt, weil der
       > Zugang nicht barrierefrei war. Ein Gespräch über seine Erlebnisse am
       > Wahlsonntag.
       
 (IMG) Bild: Musste wegen nicht vorhandener Barrierefreiheit draußen wählen: Michel Arriens
       
       taz: Herr Arriens, wie sah Ihr Wahlsonntag aus? 
       
       Michel Arriens: Ich wollte mittags in St. Georg wählen gehen. Mir war im
       Vorfeld klar, dass das Wahllokal nicht barrierefrei ist. Weil es sich dabei
       aber um eine öffentliche Schule handelte, dachte ich, dass ich schon eine
       Lösung finden würde. Nicht barrierefrei kann auch heißen, dass dort nur
       eine Stufe oder eine schwere Tür ist. Das hätte mich nicht behindert.
       
       Hat also alles geklappt? 
       
       Vor dem Wahllokal war eine riesige Treppe, und ich konnte nicht ins Gebäude
       rein. Die Wahlhelfer*innen vor Ort waren ratlos, aber um eine Lösung
       bemüht. Sie schickten mich zum Bezirksamt Mitte.
       
       Und dann? 
       
       Dort erklärte mir die zuständige Wahlleiterin, dass ich in dem mir
       zugewiesenen Wahllokal wählen müsse – also in St. Georg. Ich schilderte ihr
       das Problem, konnte aber dennoch nicht vor Ort meine Kreuzchen machen. Die
       Wahlleiterin zeigte Verständnis, und wir fanden gemeinsam eine Lösung.
       
       Welche? 
       
       Ich habe in einer improvisierten Wahlkabine – einem Kinderstuhl mit
       Pappschachtel – vor dem Wahllokal in St. Georg gewählt. Ich musste also
       zwei Mal bei Regen durch die Hamburger Innenstadt. Erst dann konnte ich
       meine Kreuzchen machen. Menschen, die neben mir die Treppen hoch gingen,
       hätten in meine Wahlunterlagen sehen können. Auch meinen Stimmzettel konnte
       ich nicht selbst in die Urne werfen. Die Wahl war also nicht geheim.
       
       Sie [1][berichteten auf Twitter] von Ihren Erlebnissen. Einige Nutzer
       wiesen Sie auf die Möglichkeit der Briefwahl hin. 
       
       Briefwahl ist immer eine Alternative, aber nicht, wenn man alternativlos
       ist. Ich möchte – wie alle anderen auch – auf kurzfristige Ereignisse und
       Skandale, die meine Entscheidung beeinflussen könnten, bis zum Wahltag
       reagieren können.
       
       Und was ist mit einer Änderung des Wahllokals? 
       
       Klar, ich hätte einen Umweg gehen, vorab einen Antrag auf die Änderung des
       Wahllokals stellen und an einem barrierefreien Ort wählen können. Dann
       würde ich aber das Problem auf mich abwälzen und nicht auf Fehler im System
       hinweisen.
       
       Einige Menschen haben angeboten, Sie die Treppen hoch zu tragen. 
       
       Ich bin ein erwachsener Mensch und möchte nicht wie ein Kind getragen
       werden. So verliere ich das Gefühl der Selbstbestimmung. Wenn wir als
       Gesellschaft immer das Problem beim Einzelnen sehen und nicht beim System,
       dann liegt ja das Problem immer bei der Person mit Behinderung. Die soll
       sich durch die Welt tragen lassen und sich nicht so anstellen.
       
       Welche Barrieren gibt es für Menschen mit Sehbehinderung und Gehörlose bei
       der Wahl? 
       
       Beispielsweise gab es in keinem Hamburger Wahllokal
       Gebärdensprach-Verdolmeschung und auch keine Wahlbenachrichtigung in
       Braille-Schrift für Blinde. Die Linke forderte in einem Antrag den Abbau
       von Barrieren bei der Wahl.
       
       Der Antrag wurde abgelehnt. 
       
       [2][Weniger als 25 Prozent aller Wahllokale sind barrierefrei.] Wenn
       Entscheidungs_träger*innen davon ausgehen, das reiche aus und solchen
       Antrag ablehnen: Kann man machen, ist dann halt scheiße.
       
       Wie muss die nächste Wahl in Hamburg aussehen? 
       
       Die Wahl muss zu 100 Prozent barrierefrei sein und zwar bei der
       Benachrichtigung, bei den Wahlunterlagen und auch im Wahllokal. Eine
       Demokratie ist nur eine Demokratie, wenn auch alle Menschen teilhaben.
       
       Und wie steht es allgemein um die Barrierefreiheit? 
       
       Ich glaube, Hamburg kann Vorreiter werden in Sachen Barrierefreiheit. Bis
       2022 soll der Nahverkehr barrierefrei sein. Hamburg ist da bereits sehr
       weit. Aber man muss auch bedenken, dass Menschen beim Thema
       Barrierefreiheit überwiegend an berollte Personen wie mich denken.
       Gehörlose und Menschen mit Sehbehinderung haben größere Probleme in der
       Stadt. Weil ich mobil bin, komme ich ganz gut in der Stadt zurecht.
       
       25 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/RollerUndIch/status/1231612035546394626
 (DIR) [2] /Waehlen-mit-Behinderung/!5662728
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anastasia Trenkler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Hamburg
 (DIR) Behinderung
 (DIR) Barrierefreiheit
 (DIR) Wahl in Hamburg 2025
 (DIR) Menschen mit Behinderung
 (DIR) Leben mit Behinderung
 (DIR) Leben mit Behinderung
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Hamburg
 (DIR) Bundestag
 (DIR) Wahlen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Barrierefreie Wahllokale in Berlin: Kreuzchen mit Hindernissen
       
       Wählen ist ein Grundrecht, barrierefrei geht es trotzdem nicht immer.
       Dieses Jahr sogar noch weniger als sonst. Schuld ist Corona.
       
 (DIR) Wählen mit Behinderung: Zu viele Hürden
       
       Nur 24 Prozent der Hamburger Wahllokale sind barrierefrei. Betroffene
       fordern leichter zugängliche Informationen und mehr Unterstützung.
       
 (DIR) Bundestag beschließt Gesetzesänderung: Vollbetreute dürfen wählen
       
       Menschen mit Behinderungen, die in allen Angelegenheiten betreut werden,
       dürfen nun an Wahlen teilnehmen. Für die Europawahl kam die Reform zu spät.
       
 (DIR) Kommentar Ende Wahlrechtsausschluss: Kein „Wähler-TÜV“ für niemanden
       
       Niemand darf wegen einer Erkrankung oder kognitiven Behinderung vom Wählen
       ausgeschlossen werden. Eine überfällige Entscheidung.