# taz.de -- Flüchtlinge in Libyen: Die Brutalität des Nichtstuns
       
       > In Libyen versagen Europa und Afrika. Ihre egoistische Schläfrigkeit beim
       > Thema Migration kostet Menschenleben – und wurzelt auch in der
       > Gaddafi-Zeit.
       
 (IMG) Bild: Geflohen, dem Krieg aber nicht entkommen: sudanesische Geflüchtete während der Kämpfe in Libyen
       
       Europa liebt extreme Lösungen. Der Kontinent, der im 20. Jahrhundert der
       Welt die Gaskammer und das Konzentrationslager, das Kolonialreich und den
       totalitären Staat bescherte, hat für Afrikas Flüchtlingskrise im 21.
       Jahrhundert eine Antwort anderer, doch im Ergebnis ebenfalls unmenschlicher
       Art gefunden: aussitzen. Irgendwann liegen die Migranten, die an Libyens
       Küste auf die Überfahrt warten, alle tot auf dem Grund des Mittelmeers oder
       in den Trümmern von Tripolis. Die europäische Zusammenarbeit funktioniert.
       Italien schottet seine Häfen gegen Flüchtlingsboote ab, [1][Frankreich
       liefert dem libyschen Warlord Haftar Raketen], aus Deutschland kommt die
       nötige Prise moralische Empörung, mit der man auch ohne Rückgrat aufrecht
       stehen kann.
       
       Es ist bezeichnend für den desolaten Zustand der europäischen Politik, dass
       in dieser Situation [2][der einzige Vorstoß auf Regierungsebene zur Rettung
       von Menschenleben von der Partei Horst Seehofers kommt.]
       Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) forderte vor einer Woche „eine
       gemeinsame humanitäre Initiative von Europa und den Vereinten Nationen zur
       Rettung der Flüchtlinge auf libyschem Boden“. Hier müsse die neue
       EU-Kommission vorangehen, ohne auf die Zustimmung aller Mitglieder zu
       warten.
       
       Ernsthaft aufgenommen wurde das natürlich nicht. Truppen aus Europa senden,
       um die 6.000 Menschen zu retten, die in libyschen Internierungslagern
       schutzlos dem Krieg ausgesetzt sind und jetzt von Menschenhändlern
       beschleunigt in seeuntüchtige Boote getrieben werden? Nein, so was tut
       Europa nicht. Jedenfalls nicht, wenn es nicht um festsitzende europäische
       Touristen oder Entwicklungshelfer geht. Bei denen würde man keine Mühe
       scheuen, um sie zu evakuieren.
       
       Eine Ursula von der Leyen, die als Verteidigungsministerin die Bundeswehr
       zu einem Turnverein heruntergewirtschaftet hat, dürfte als
       EU-Kommissionspräsidentin wohl kaum einen Militäreinsatz unterstützen, der
       in Libyen etwas bewirkt. [3][Das peinliche Spektakel, das die EU derzeit
       bei der Besetzung ihrer Chefposten veranstaltet], entspricht dem peinlichen
       Ergebnis europäischer Politik im Umgang mit seinen Nachbarn.
       
       ## Verantwortung: nicht nur in Europa ein Fremdwort
       
       Libyen ist Europas Scheitern. Niemand in der EU erhob Einwände, als im Jahr
       2011 Sarkozy und Cameron nach gewonnenem Krieg mit einem „Mission
       Accoomplished“-Triumphalismus dem Land den Rücken kehrten, sobald Gaddafi
       tot war. Keinen kümmerte es, dass die Kräfte des Volksaufstands gegen die
       Diktatur zersplittert und die Waffenarsenale unbewacht waren. Bei dem sich
       abzeichnenden Chaos in Europas unmittelbarer Nachbarschaft fehlte es an
       jeglicher politischen Weitsicht. Niemand in der EU widersprach, als Italien
       und Frankreich in den Jahren danach zwei rivalisierende Machtzentren in
       Libyen förderten und damit den aktuellen Krieg heraufbeschworen.
       Zehntausende Migranten haben Europas egoistische Schläfrigkeit mit dem
       Leben bezahlt.
       
       Derweil steckt Europa Millionensummen in von Europäern ausgedachte
       Programme, um von Europäern gezogene Grenzen zwischen Afrikas Staaten
       unüberwindbar zu gestalten und Afrikanern die Reisefreiheit zu nehmen. Im
       Sudan mit seiner laufenden Konterrevolution des Militärs gegen den
       Anti-Bashir-Volksaufstand sieht man aktuell, was passiert, wenn die
       Nutznießer solcher Programme stark genug werden, um sich an die Macht zu
       putschen. Fluchtursachen können gar nicht so schnell beseitigt werden, wie
       neue entstehen.
       
       Libyen ist aber auch Afrikas Scheitern. Niemand hindert afrikanische
       Staaten daran, selbst etwas für die am Mittelmeer gestrandeten Migranten zu
       tun und sich um die eigenen Landsleute im Exil in einer Weise zu kümmern,
       die sich nicht auf politische Verfolgung, geheimdienstliche Überwachung,
       öffentliche Geringschätzung und finanzielle Erpressung beschränkt.
       
       Dass ein Staat Verantwortung für seine Staatsbürger trägt, ist für die
       meisten afrikanischen Staaten, deren Selbstverständnis auf dem
       europäisch-kolonialen Erbe des Staates in Afrika als Ausbeutungsinstrument
       und Disziplinarinstanz gründet, ein Fremdwort. Es ist die freie
       Entscheidung afrikanischer Staatenlenker, an diesem Erbe festzuhalten,
       statt sich im Sinne von Menschenwürde neu zu erfinden.
       
       ## Europäische Werte immer nur für Europäer
       
       Die monströse Gaddafi-Diktatur, die das libysche Volk 2011 todesmutig aus
       den Angeln hob, war in Afrika weithin mehr Vor- als Schreckensbild.
       Diktatoren quer durch den Kontinent träumten davon, irgendwann auch einmal
       so unbekümmert mit Ölmilliarden um sich werfen zu können, die Welt vor sich
       zittern zu lassen und nach innen allmächtig zu sein. Arbeitsuchende aus
       ganz Afrika strömten nach Libyen in der Hoffnung, an dem Kuchen knabbern
       zu dürfen.
       
       Jahrelang huldigte halb Afrika dem Sonnenkönig Gaddafi, seiner Egozentrik
       und seinem Narzissmus, seiner Menschenverachtung, gepaart mit Rassismus,
       Sexismus und Brutalität. Der Kontinent ist voller Investitionsruinen aus
       libyschen Staatsgeldern. Die Afrikanische Union (AU), Afrikas Gegenstück
       zur EU, steht bis heute im Schatten ihres Geburtsfehlers, dass sie vor
       zwanzig Jahren von Gaddafi im libyschen Sirte aus der Taufe gehoben wurde.
       
       Nein, dieses Afrika kann den in Libyen gestrandeten Afrikanern nicht
       bieten, was sie suchen: ein menschenwürdiges Leben. Aber Europa tut es eben
       auch nicht.
       
       Die Wühlarbeit der Abschotter und Rassisten war erfolgreich. Jedes Mal,
       wenn heute von „europäischen Werten“ die Rede ist, hängt daran inzwischen
       ein unsichtbares Schild „Nur für Europäer“. Noch hat Afrika seine Antwort
       darauf nicht gefunden. Aber die Zeit drängt. Die Menschen können nicht mehr
       warten. Die brutale Lösung des Nichtstuns in der Flüchtlingsfrage rückt
       näher – und damit die große globale Schande des 21. Jahrhunderts.
       
       16 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kommentar-Kaempfe-in-Libyen/!5586314
 (DIR) [2] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5605918
 (DIR) [3] /Das-Europaeische-Parlament-vor-der-Wahl/!5606812
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Afrobeat
 (DIR) Afrikanische Flüchtende
 (DIR) Muammar al-Gaddafi
 (DIR) Diktatur
 (DIR) EU-Flüchtlingspolitik
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Libyen
 (DIR) Fluchtursachen
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Libyen
 (DIR) Eritrea
 (DIR) Sudan
 (DIR) Rechtsruck
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Deutscher Außenminister in Libyen: Maas von Ufo zur Abreise bewogen
       
       Tumulte, Bombenangst und ein Flüchtlingslager: Die Bilanz des kurzen
       Libyen-Besuchs von Bundesaußenminister Heiko Maas ist eher ungewöhnlich.
       
 (DIR) Neue Kommission zu Fluchtursachen: Die Diskussion muss wehtun
       
       Die Regierung setzt eine Kommission zu Fluchtursachen ein. Deren Arbeit
       darf aber nicht der hiesigen Migrationsdebatte untergeordnet werden.
       
 (DIR) Evakuierung von Flüchtlingen aus Libyen: Raus aus der Hölle
       
       Die Lage in Tripolis spitzt sich weiter zu. Nun wollen UN und Afrikanische
       Union rund 500 Flüchtlinge aus Libyen nach Ruanda evakuieren.
       
 (DIR) Luftangriff im Süden Libyens: Über 40 Tote in Mursuk
       
       Die LNA-Rebellen von General Haftar richten ein Butbad unter Würdenträgern
       des Toubou-Volkes an. Sie selbst sprechen von „tschadischen Rebellen“.
       
 (DIR) Eritrea-Festival in Gießen: Protest gegen die Diktatur-Party
       
       Beim Eritrea-Festival in Gießen feiert die Diktatur sich selbst. Nicht weit
       entfernt davon demonstrieren Menschen, die das gar nicht lustig finden.
       
 (DIR) Machtverteilung im Sudan: Neuer Rat mit altem Regime
       
       Eine Lösung schien in weiter Ferne. Nun hat sich die Opposition im Sudan
       mit dem Militär überraschend geeinigt. Doch viele Fragen bleiben offen.
       
 (DIR) Kommentar EU-Flüchtlingspolitik: Völlige moralische Verkommenheit
       
       Es ist Aufgabe der EU, die Flüchtlingskrise humanitär zu lösen. Viel mehr
       als unterlassene Hilfeleistung ist bisher allerdings nicht passiert.