# taz.de -- Neutrale EU-Klimabilanz 2050: Save the date
       
       > In einem offenen Brief fordern Konzerne, Umweltschützer und auch
       > Mitgliedstaaten eine neutrale Klimabilanz bis 2050. Aber Berlin eiert
       > rum.
       
 (IMG) Bild: Deutschlands Klimaziele sind bisher noch alles andere als eingetütet
       
       Deutschland wird die Geister der Vergangenheit nicht los. Schuld ist nicht
       Adolf Hitler, sondern Helmut Kohl. Und Angela Merkel. Die Rede ist vom
       Klimaschutz in EU-Style: Erst ein großes, utopisches Ziel ausrufen. Von dem
       Umweltschützer sagen, es sei zu wenig, um die Erderwärmung erträglich zu
       halten, und bei dem die Industrie durchdreht und damit droht, morgen nach
       China auszuwandern. Dann ist es ein ausgewogenes, ein gutes Ziel. Danach
       zofft man sich, wie es erreicht werden kann.
       
       Ein solches Ziel fordern gerade viele. [1][Nicht nur die
       Fridays-for-Future-Jugend], sondern auch Typen wie Jean-Claude Juncker oder
       Emmanuel Macron. Letzterer hat als Inspiration für den EU-Gipfel am
       Donnerstag Anfang der Woche einen Brief an sämtliche EU-Regierungen
       verschickt, in dem kurz gesagt steht: Lasst uns beschließen, dass die EU im
       Jahr 2050 keine Klimagase mehr ausstößt. Spätestens 2050.
       
       Eine französische Revolution ist das nicht. Macron stellt sich damit nur
       hinter Junckers Kommission, die bereits im vergangenen November ein
       wörtlich „klimaneutrales Europa“ bis 2050 forderte.
       
       Das Ziel soll netto erreicht werden. Es kann also noch rauchende
       Schornsteine geben, nur muss jedes Gramm CO2 dann woanders wieder aus der
       Atmosphäre entfernt werden: durch Rausfiltern oder Wälder-Pflanzen, das
       weiß keiner so genau, lassen wir die Details weg. [2][Deutschland hat
       Macrons Brief nicht unterschrieben]. Frankreich, Belgien, Dänemark,
       Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Spanien und Schweden schon.
       
       In 31 Jahren würden dann alle Flugzeuge mit Biosprit fliegen, für den keine
       Regenwälder abgeholzt werden. Alle Autos würden elektrisch fahren, Strom
       käme komplett aus Wind oder Sonne (oder doch Atomkraft, weil fast Co2-frei,
       qui sait?), heizen würden wir alle mit, äh, mit was eigentlich?
       
       ## Brüssel muss Berlin mitzerren
       
       Menschen wie Christian Linder wären Vegetarier (es müssen ja alle weniger
       Fleisch essen), die Kühe pupsen nicht mehr, und nein, wir werden nicht in
       Asien produzieren, sondern weiter auf unserem Kontinent. In 31 Jahren wird
       recycelt, wo es nur geht, und die Einkaufstüten in den deutschen
       Fußgängerzonen quillen nicht über vor Mist, den eh keine braucht. Das steht
       in Macrons Brief so nicht drin, wäre aber die Konsequenz.
       
       Eine Utopie, aber so haben das Kohl 1995 und Merkel 2007 auch gemacht: Sie
       riefen Klimaziele aus, Kohl 1995 für Deutschland, 2007 vermittelte Merkel
       die bis zum Jahr 2020 für die EU. Europa verpflichtete sich, bis dahin 20
       Prozent weniger Klimagase als 1990 auszustoßen, 20 Prozent des
       Energieverbrauchs aus erneuerbaren Energien zu decken und die
       Energieeffizienz um 20 Prozent zu erhöhen. Das wird die EU schaffen, nur
       Deutschland reißt seine Klimaziele bis 2020.
       
       Kohl und Merkel wussten nicht, wie sie die Ziele erreichen sollen, und sie
       haben sie auch nicht erreicht. Aber sie haben bei anderen eine Revolution
       ausgelöst – auch deshalb haben sich die Rollen vertauscht: Brüssel muss
       jetzt Berlin mitzerren.
       
       „An einer langfristigen Vision für Klimaschutz in Europa arbeiten die
       Deutschen gerade nicht mit“, sagt Wendel Trio, Vorsitzender des Climate
       Action Network Europe, das derzeit fast utopische Allianzen schmiedet: Die
       Dachorganisation aus über 1.700 NGOs verbündet sich mit Investoren wie
       Pensionsfonds und Versicherern, die 23 Billionen (kein Übersetzungsfehler)
       Euro verwalten sowie mit Großkonzernen wie Ikea oder Unilever. Sie alle
       fordern: Die EU soll bis 2050 jenes Utopia werden, das keine Klimagase mehr
       ausstößt.
       
       Solche Allianzen sind deshalb möglich, weil sich seit Kohl und Merkel sehr
       viel geändert hat: Technologisch, weil erneuerbare Energien so schnell so
       billig geworden sind und immer billiger werden, dass neue Kohlekraftwerke
       ökonomisch bald so blödsinnig erscheinen wie 1995 ein Solarkraftwerk.
       Gesellschaftlich, weil trockene Flüsse, Rekordhitze und immer heftigere
       Hurrikans das Denken auch derer ändern, die eben noch meinten, [3][die
       Klimakrise gehe sie nichts an].
       
       Politisch, weil den Stein, der Merkel und Kohl ins Rollen gebracht haben,
       seit dem Klimaschutzabkommen von Paris 2015 eine weltweite Lawine geworden
       ist. Ökonomisch, weil aus Klimaschutz ein Business Case wird: Mit den neuen
       Techniken lässt sich Kohle verdienen. Im Finanzsektor wird der Klimawandel
       zunehmend als Bedrohung für Anleger gesehen, weil sich die verblüffende
       Erkenntnis durchsetzt, dass in einer instabilen, heißen Welt nicht gut Geld
       verdienen ist.
       
       ## Ein Vorgeschmack auf die Konflikte
       
       Für die Politik ist das alles kein Elfmeter, es ist fast schon ein
       Einmeter, den es nur noch zu verwandeln gilt: Sollten auch die Staats- und
       Regierungschefs beschließen, bis 2050 den Kontinent aus Klimaschutzgründen
       komplett auf den Kopf zu stellen, wird es keinen Widerstand aus der
       Wirtschaft geben.
       
       Eine Absichtserklärung tut auch noch keinem weh – bisher will die EU bis
       2050 ja bereits 80 Prozent weniger CO2 ausstoßen. Das Ringen geht erst los,
       wenn es ans Umsetzen geht. Das ist der Grund, warum Deutschland als
       Klimaschutzland gerade ausfällt. Die Regierung streitet darum, wie sie ihre
       verbaselten Klimaziele bis 2020 nun bis 2030 schaffen soll. Mit einer
       CO2-Steuer auf alles oder durch mehr Emissionshandel?
       
       Der derzeitige Streit ist ein Vorgeschmack auf die Konflikte, die der
       epochale Wandel bis 2050 mit sich bringen wird: Es wird ökonomische
       Verlierer geben. Firmen werden verschwinden, Industrien werden verschwinden
       und neue entstehen. Werte vernichtet und neue geschaffen.
       
       Weil weder die Union, geschweige denn die Koalition in Berlin eine klare
       Position zum Wie des Klimaschutzes hat, hat sie auch keine zu Macrons
       2050-Vorstoß. Entsprechend eierte Regierungssprecher Steffen Seifert
       gestern in Berlin herum: „Wir begrüßen das, weil es immer gut ist, wenn man
       sich fragt, wo und wie man noch mehr tun kann“, sagt er. Nur Macrons Brief
       unterschreiben, das will Berlin dann doch nicht.
       
       9 May 2019
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arzt
       
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