# taz.de -- taz-Serie Was macht eigentlich …? (Teil 10): Eine Obdachlosen-Zeitung für viele
       
       > Der „Karuna Kompass“ verkauft sich besser als der Vorgänger
       > „Straßenfeger“. Ein Problem aber: Was tun gegen die aggressive Bettelei
       > am Hauptbahnhof?
       
 (IMG) Bild: Verkäufer Ronny holt sich die neueste „Karuna“-Ausgabe am Boxhagener Platz ab
       
       Der Wind pfeift kalt über den Europaplatz. Menschen mit und ohne Gepäck
       huschen vorbei, verschwinden im gläsernen Schlund des Hauptbahnhofs oder
       werden von ihm ausgespuckt. Katja Nowak, eine magere junge Frau mit
       Nasenpiercing, die eigentlich anders heißt, mustert die Vorbeieilenden und
       hüpft dabei von einem Bein aufs andere, so dass ihr Zeitungspacken über dem
       linken Arm wippt. Manchmal entschließt sie sich, geht auf jemanden zu,
       lächelt, hebt an: „Hätten Sie vielleicht Interesse …?“ Die meisten gehen
       weiter, bevor sie den Satz beendet hat.
       
       Nowak ist immer hier. Acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche verkaufen
       sie und ihr Mann die [1][Straßenzeitung Karuna Kompass], sie am linken
       Eingang zum Bahnhof, er an der rechten Tür. An schlechten Tagen, erzählt
       die Polin, würden sie nur neun oder zehn Stück los: „Das ist hart!“ Aber
       insgesamt reiche es zum Überleben – obwohl sie weder Hartz IV noch
       Sozialhilfe bekämen. Und es sei sogar ein bisschen besser geworden, seit
       sie die neue Zeitung Karuna Kompass haben, sagt sie. „Früher hatten wir ja
       den Straßenfeger, aber den wollte am Ende kaum noch einer kaufen.“
       
       Im vergangenen Sommer hatte [2][mob e. V.] das Aus für den
       traditionsreichen Straßenfeger verkündet. Der Verein konnte die Zeitung
       finanziell nicht mehr stemmen, die Rücklagen seien aufgebraucht, hieß es.
       Die Zeitung war 1994, zunächst unter dem Namen mob-Magazin, als
       Selbsthilfe-Projekt für Wohnungslose gegründet worden. 200 bis 250
       Verkäufer hatten zuletzt die Zeitung für 60 Cent ge- und für 1,50 Euro
       weiterverkauft.
       
       Doch die Auflage war immer weiter gesunken auf nur noch 12.000, erzählt
       Helmut Cladders. Der Rentner sitzt im „Karuna Pavillon“ am Boxhagener Platz
       in Friedrichshain, einem kleinen Café, in dem sich Verkäufer den Karuna
       Kompass abholen können. Cladders kümmert sich wie schon beim
       Vorgänger-Blatt um den Vertrieb. Mehrmals die Woche kommt er her, sieht zu,
       dass genug Ausgaben da sind, ist aber auch Ansprechpartner für die
       Verkäufer. Er schlichtet zum Beispiel, wenn es Streit gibt um Standorte.
       Seine Theorie zum Niedergang des Straßenfegers: „Erstens: Den Leuten sitzt
       das Geld nicht mehr so locker. Zweitens: Es gibt zu viele Leute, die
       Zeitungen verkaufen.“
       
       ## Luftiges Layout
       
       Nur zehn Tage nach dem Bekanntwerden des Aus im Juni hatte die
       Sozialgenossenschaft Karuna angekündigt, in die Bresche zu springen. Karuna
       kümmert sich mit zahlreichen Projekten in der Stadt um obdachlose
       Jugendliche, etwa in der [3][Erstanlaufstelle Drugstop] oder der
       Jugendinitiative Momo. Im Karuna Pavillon zum Beispiel können Jugendliche
       Sozialstunden abarbeiten und einen geregelten Tagesablauf üben. In einem
       der Projekte war gerade eine Zeitung namens Karuna Kompass entstanden, die
       noch zahlreich vorhandenen Exemplare stellte Karuna-Geschäftsführer Jörg
       Richert den Straßenfeger-Verkäufern zur Verfügung.
       
       Seit August letzten Jahres erscheint Karuna Kompass nun monatlich mit einer
       Auflage von 30.000. Richert ist zufrieden: „Die Zeitung verkauft sich sehr
       gut.“ Er hält bis zu 80.000 Exemplare in der Stadt für verkaufbar, der
       Straßenfeger habe in seinen Hochzeiten eine 60.000er-Auflage gehabt. Eine
       wesentliche Neuerung: Die VerkäuferInnen bekommen die Zeitung von Karuna
       umsonst, der Preis von 1,50 Euro fließt zu 100 Prozent in ihre eigene
       Tasche.
       
       Die Druckkosten von 2.000 bis 3.000 Euro für den Kompass hat bislang die
       Sozialgenossenschaft übernommen. Aber Richert hofft, sie schon bald mit
       Werbeeinnahmen decken zu können. Die Redaktion – laut Richert machen auch
       Karuna-Jugendliche und Obdachlose mit – arbeitet ehrenamtlich.
       
       Optisch wirkt die neue Zeitung moderner als ihre Vorgängerin, mit einem
       luftigen Layout und großen Buchstaben. „Zeitung aus einer solidarischen
       Zukunft“ ist sie überschrieben und berichtet etwa in der neuesten fünften
       Ausgabe über den gescheiterten Google-Campus in Kreuzberg, in den – mit dem
       Geld des Internetkonzerns – auch Karuna einziehen wird. Im Heft davor ging
       es vor allem um den von Karuna organisierten Bundeskongress der
       Straßenkinder. Kurz: Wie der Name der Zeitung vermuten lässt, geht es viel
       um Karuna – allerdings nicht nur. Auch Ideen von anderen für Wohnungslose,
       etwa die Tiny-House-Initiative aus Seattle, werden vorgestellt.
       
       ## Mit oder ohne Verkäufer-Ausweis
       
       Den VerkäuferInnen, mit denen die taz gesprochen hat, gefällt Karuna
       Kompass gut. Natürlich sei es super, dass sie den gesamten Erlös behalten
       können. „Aber auch die Leute finden die neue Zeitung besser. Sie sieht gut
       aus, vielleicht ein bisschen sehr schickimicki“, sagt Petra Elten, die mehr
       als zehn Jahre am Hauptbahnhof stand, inzwischen aber nur noch selten
       kommt. „Man kann sie auf jeden Fall besser verkaufen als Motz oder
       Straßenfeger, auch weil die Leute erst mal neugierig sind.“
       
       Was der Endfünfzigerin nicht gefällt an der neuen Zeitung, ist die
       Vertriebsstrategie: Anders als den Straßenfeger kann den Karuna Kompass
       jeder am „Boxi“ oder im Karuna-Haus in Reinickendorf abholen – man muss
       sich nicht mehr als Verkäufer registrieren lassen. „Dann machen das auch
       Leute, die dem Ruf der Zeitung schaden“, glaubt Elten. Dagegen habe man mit
       dem offiziellen Straßenfeger-Verkäufer-Ausweis eine gewisse Glaubwürdigkeit
       und Seriosität gegenüber den Kunden beweisen können.
       
       Richert kennt diese Argumente. „Manche VerkäuferInnen wollten unbedingt
       einen Ausweis, um zu zeigen, dass sie legitimiert sind.“ Seit Kurzem gibt
       es daher auf Wunsch doch wieder Verkäufer-Ausweise, wenn auch ohne
       Lichtbild. Der Geschäftsführer von Karuna findet das eigentlich nicht
       nötig. „Wer sich Zeitungen holt und sie verkauft, egal wer das ist, wird es
       nötig haben“, sagt er.
       
       Tatsächlich hatte der Straßenfeger trotz Registrierungs- und Ausweispflicht
       ein Problem, das durchaus zum Niedergang der Zeitung beigetragen haben
       könnte, wie Elten und Nowak meinen: die zunehmende Zahl von VerkäuferInnen,
       die nicht wirklich Zeitungen verkaufen, sondern vor allem damit betteln.
       
       ## „Straßenfeger kaputtgemacht“
       
       Das seien „Rumänen“, sagt Elten, sie kenne das Phänomen vom Hauptbahnhof.
       Dort würden seit drei, vier Jahren die alteingesessenen Verkäufer von
       Bettlern aus diesem Land verdrängt, sagt Elten. „Ich habe nichts gegen
       Rumänen“, betont sie. „Aber am Hauptbahnhof agieren zwei richtige Banden,
       die von dort kommen.“ Die Bettler hätten meist nur ein – ziemlich
       zerfleddertes – Zeitungsexemplar und würden Bahnreisende teils aggressiv
       anbetteln, manche nur zur Ablenkung für einen geplanten Taschendiebstahl.
       „Damit haben sie den Straßenfeger kaputtgemacht“, ist sich Elten sicher.
       
       Und nicht nur das: Sie und andere Zeitungsverkäufer würden von
       Bandenmitgliedern immer wieder geschlagen, beschimpft, geschubst – viele
       KollegInnen seien dadurch schon vertrieben worden. Auch Elten hat kürzlich
       entnervt das Handtuch geworfen und ist zum Bahnhof Spandau weitergezogen.
       „Da verkaufe ich natürlich viel schlechter. Am Hauptbahnhof hatte ich viele
       Stammkunden“, klagt sie.
       
       Vertriebsmann Cladders bestätigt Eltens Geschichte im Wesentlichen. Ohnehin
       habe es in den letzten Jahren zu viele Verkäufer am Hauptbahnhof gegeben,
       zeitweise bis zu zehn, sagt er. Aber als dazu noch mehr Verkäufer aus
       anderen EU-Ländern gekommen seien, „hat sich die Situation immer mehr
       zugespitzt“. Natürlich gebe es viele Nicht-Deutsche, die wie andere „ganz
       normal“ ihre Zeitungen verkaufen. Es habe aber zu Straßenfeger-Zeiten
       tatsächlich Banden gegeben, über deren Verhalten sich vermehrt Kunden
       beschwert hätten. „Einer hatte den Ausweis, hat Zeitungen geholt und an
       seine Leute verteilt, die damit gebettelt haben.“ Er selbst sei einmal von
       einem „Rumänen“, dem er deswegen den Ausweis weggenommen habe, fast
       verprügelt worden.
       
       Auch André Hoek hat am Hauptbahnhof Erfahrungen wie Elten gemacht. Hoek war
       bis vor wenigen Wochen dort Zeitungsverkäufer, inzwischen ist er
       Streetworker für Karuna und zuständig für die Kältebahnhöfe Lichtenberg und
       Moritzplatz. „Am Hauptbahnhof gibt es zwei Großfamilien, eine drinnen, eine
       draußen, sie betteln aggressiv und schlagen Verkäufer. Das ist ein
       Dauerthema“, sagt er. Er selbst sei im Frühling 2017 am Bahnhofseingang
       Washingtonplatz von Bandenmitgliedern verprügelt worden.
       
       ## „Keine Anzeigen von Obdachlosen“
       
       Hoek sagt, er habe versucht, dies bei der Bundespolizei, die für den
       Bahnhof zuständig ist, anzuzeigen. Eine Beamtin habe ihn gefragt, ob er
       obdachlos sei. Als er dies bejaht habe, habe sie ihn weggeschickt. „Die
       nehmen keine Anzeigen von Obdachlosen entgegen, das hat die Frau mir
       unmissverständlich gesagt.“
       
       Petra Elten berichtet dasselbe. Schon mehrfach habe sie versucht, bei der
       Bundespolizei Anzeige zu erstatten. Die Angriffe müssten ja auch auf den
       Überwachungskameras im Bahnhof zu sehen sein. „Aber im Gegenteil, man
       glaubt mir nicht. Ich habe sogar Gegenanzeigen wegen Vortäuschung einer
       Straftat bekommen.“
       
       Die Bundespolizei weist diese Vorwürfe zurück. Man sei unabhängig von der
       Person automatisch verpflichtet, einer Anzeige nachzugehen, so ein Sprecher
       zur taz. Tatsächlich gebe es im Hauptbahnhof sehr viele Anzeigen gegen
       wohnungslose Rumänen, vor allem, weil sie Hausverbote nicht beachteten.
       Selten würden auch Körperverletzungen und Diebstahl angezeigt. „Wir treffen
       dazu unsere Maßnahmen in Absprache mit der DB Sicherheit und der Berliner
       Polizei.“
       
       Letztere ist für die Bahnhofsvorplätze zuständig und erklärte auf
       taz-Anfrage, ihr lägen keine Erkenntnisse und Strafanzeigen zu „Bettlern,
       die im Bereich des Hauptbahnhofs ‚verprügelt‘ worden sind“, vor. Ansonsten
       sei man Hinweisen von Bahnreisenden auf „aggressives und organisiertes
       Betteln“ am Europaplatz nachgegangen, teils mit zivil eingesetzten Beamten,
       man habe aber nichts Entsprechendes feststellen können.
       
       ## Zeltlager an der Heidestraße
       
       In der Tat habe es aber im Sommer bis Herbst 2018 „vermehrt kleine Gruppen“
       von in der Regel „Personen aus dem osteuropäischen Raum, überwiegend
       Rumänen“, gegeben, die vor dem Bahnhof gebettelt hätten, so die Polizei in
       ihrer schriftlichen Antwort. Die meisten hätten in einem Zeltlager in der
       Heidestraße gewohnt, das seit November aber nicht mehr existiere – und
       seither habe man „nur noch vereinzelt rumänische Bettler“ festgestellt –
       aber Betteln an sich sei ja auch nicht verboten, wenn es nicht „als grob
       anstößige oder belästigende Handlung wahrgenommen wird“.
       
       Hoek und Elten bestätigen, dass es auf dem Europaplatz zuletzt etwas
       ruhiger geworden sei. Im Bahnhofsgebäude selbst seien die Banden jedoch
       nach wie vor sehr präsent. Und dass die Bundespolizei „massiv versagt und
       nichts tut“, würde Hoek sogar vor Gericht beeiden, wie er sagt.
       
       Was heißt all dies nun für Karuna Kompass? Noch, sagt Mitarbeiter Cladders,
       habe er von keinen Klagen wegen aggressiven Bettelns mit der neuen Zeitung
       gehört. Er habe auch noch nicht bemerkt, dass zweifelhafte Verkäufer sich
       vermehrt große Packen abholen würden. „Aber eigentlich warte ich nur
       darauf.“
       
       16 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://karuna-kompass.jimdofree.com/
 (DIR) [2] http://mob-berlin.org/
 (DIR) [3] https://www.komma-vorbei.de/
       
       ## AUTOREN
       
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