# taz.de -- Kolumne Behelfsetikett: Zeit verplempern mit Christa Wolf
       
       > … oder mit Ramona Pop, der der Kolumnist beim Flanieren jenseits des
       > heimischen Kiezes schon mal in der Metzgerei über den Weg läuft. Und auch
       > sonst erlebt er eine Menge.
       
 (IMG) Bild: Nein, das ist nicht Christa Wolf, sondern eine Fleischfachverkäuferin (Symbolbild)
       
       Das Buch passte gerade in meine Stimmung, obwohl es nicht September,
       sondern schon Oktober war. Die letzten sechs Wochen habe ich „Ein Tag im
       Jahr“ gelesen. Christa Wolf hatte 1960 nach einem entsprechenden Aufruf
       einer sowjetischen Zeitung angefangen, stets den 27. September eines jeden
       Jahres tagebuchartig zu beschreiben – ja festzuhalten. Denn wie die
       Schriftstellerin schnell merkte, ist vieles, was man tagein, tagaus erlebt,
       so beiläufig, so nichtig, dass es unser Gehirn für nicht würdig befindet,
       auf Dauer festgeschrieben zu werden.
       
       Ich wollte das 600-Seiten-Buch, das bis zum Jahr 2000 reicht, seit Langem
       mal in einem September lesen. Nun ja, es wurde November. Wie passend. Denn
       auf den letzten Seiten taucht ein Name auf, der aktuell wieder in den
       Schlagzeilen ist: „Herr Merz von der CDU sagt (im Radio; Anm. des Autors),
       die CDU werde notfalls mit der Rentenreform in den Wahlkampf gehen“,
       schrieb Christa Wolf am 27. September 2000. Wäre Friedrich Merz nicht aus
       der Versenkung aufgetaucht, hätte ich diese Passage überlesen.
       
       Meine Lieblingsstelle in dem Kaleidoskop aus Anekdoten, Erinnerungen, auch
       Traumfetzen, intellektuellen Diskursen und familiären Haushaltsbanalitäten,
       politischen und kulturellen Entwicklungen: „Wochenlang so gut wie nichts
       tun, nur die Tage verplempern. – Das wär’s, was ich jetzt auch möchte, sage
       ich.“ So sagt es Christa Wolf zu ihrem Mann Gerd; 1979 in ihrem Haus in
       Mecklenburg.
       
       Zeit verplempere ich liebend gern. Meist beim stundenlangen Spazierengehen
       an freien Tagen. Im Kiez immer wieder die gleichen Runden drehen ist die
       eine Variante. Die andere, die routinierten Wege bewusst zu verlassen. Weil
       man dann den eigenen Bezirk, in meinem Fall Friedrichshain, mit anderen
       Augen sieht.
       
       Plötzlich gibt es an der einen Stelle eine neue Tramhaltestelle. Einen
       neuen Hipster-Laden. Eine neue illegale Müllhalde. Ein neues
       Obdachlosenlager. Auf einmal ist der Fahrradstreifen in der Proskauer
       Straße endlich fertig grün angemalt. Die Fußgängerampel über die
       vielbefahrene Frankfurter Allee ist plötzlich doppelt so lang auf Grün
       eingestellt. Und am Ring-Center werden Weihnachtslichterketten angeschraubt
       …
       
       Auch Abstecher in Kieze, in denen man sonst nichts zu tun hat, sind eine
       super Empfehlung. Vergisst man nur allzu schnell im hektischen Alltag. Den
       innerstädtischen Horizont erweitern, nenn ich das. Da sieht man Sachen, die
       man sonst nicht mitbekommt: zum Beispiel Justizsenator Dirk Behrendt im
       Wedding ganz normal U-Bahn fahren oder Wirtschaftssenatorin Ramona Pop bei
       einem Fleischer im Prenzlauer Berg Hähnchenschenkel kaufen. Oder die
       Schauspielerin Adele Neuhauser, die die coole Kommissarin Bibi Fellner im
       österreichischen Tatort spielt, kreuzt in Mitte meinen Weg – was mir für
       ein paar Sekunden lang ein Lächeln auf die Lippen zaubert.
       
       ## Ein russischer Gruß
       
       Da sind viele amüsante Begebenheiten am Rande, wie diese etwa: Ein
       Gemüsehändler in Kreuzberg grüßt mich auf Russisch und ich erwidere spontan
       in der Sprache, die ich mal in der Schule gelernt habe. Bis ich das merke
       und auf Deutsch frage, warum er mich auf Russisch anspricht. Ich würde halt
       russisch aussehen, sagte er. Er habe hier viele russische Kunden, und da
       dachte er … Schon komisch, in Lichtenberg, im russischen Supermarkt, sehen
       die russischstämmigen Kassiererinnen sofort, dass ich kein Russe bin und
       sprechen mich auf Deutsch an, während Leute vor und nach mir, wieder ganz
       selbstverständlich, auf Russisch begrüßt werden.
       
       Nach der Episode fiel mir ein, dass ich früher in Clubs in
       feucht-fröhlicher Nacht auf die obligatorische Frage, wo ich denn herkäme,
       oft nicht das kleine Kaff in Mecklenburg (DDR) nannte, das niemand kannte,
       sondern Moskau. Ich streute ein paar russische Floskeln ein oder
       schwadronierte auf Deutsch mit russischem Akzent. Meist wurde mir geglaubt.
       Damals, Mitte der 1990er Jahre, ging das noch, da sprachen noch nicht so
       viele Russisch in der Stadt. Heute würde ich den Spaß nicht mehr machen.
       
       18 Nov 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Hergeth
       
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