# taz.de -- Kolumne Behelfsetikett: Feinster Zuckersand, zehn Zentimeter
       
       > Während unser Autor diese Kolumne schreibt, verabschiedet sich der Sommer
       > endgültig aus der Stadt. Hallo, Herbstblues!
       
 (IMG) Bild: Zum Glück kommen Gewitter ja nur selten über die Spree, weiß unser Kolumnist
       
       Als ich diese Kolumne beginne, herrschen in den Vormittagsstunden draußen
       noch 30 Grad. Als es im Wetterbericht dann hieß, es würde nun endlich
       (endlich?) kühler werden und zu einem Temperatursturz kommen samt Regen –
       da war mir schon klar, dass es wieder nur ein paar Tropfen regnen würde.
       Ich hatte das so im Gefühl.
       
       Bei diesem Gedanken fiel mir das alte Nachbarspaar ein, dass während meiner
       Kindheit in Mecklenburg oft vor dem Haus saß und vor allem das Wetter
       kommentierte. Sätze wie: „Das Gewitter kommt nicht über die Elbe“, haben
       sich tief in mein Gedächtnis gegraben.
       
       Nun, Gewitter kommen auch selten über die Spree. Will heißen: Um Berlin
       machen Unwetter ja glücklicherweise oft einen Bogen. Ich gebe selbst gerne
       solche Wetterprognosen ab (seit ein paar Jahren auch App-gestützt), ganz
       wie damals die Alten. Und manchmal plaudere ich mit dem hochbetagten
       Nachbarn aus dem Seitenflügel übers Wetter.
       
       Vor ein paar Tagen aber musste ich Herrn H., er ist nicht mehr gut zu Fuß,
       aus der Patsche helfen. Vor unserem Haus steht seit Wochen eine große
       Matratze. Leute aus dem Haus und Nachbarn aus den Häusern rundum entsorgen
       ihren Sperrmüll gern ganz bequem und schnell, indem sie ihren alten,
       runtergerockten Scheiß auf den Gehweg stellen. Was noch halbwegs zu
       gebrauchen ist, findet immer schnell einen Abnehmer.
       
       Die Matratze aber nicht. Dabei war sie sogar in Folie gewickelt – und das,
       obwohl es ja seit Monaten nicht geregnet hat, aber egal. Der Wind
       jedenfalls hatte einen Teil der Folie abgewickelt, und diese Folienschlange
       hatte sich nun, wie auch immer, um den Fuß von Herrn H. gewickelt. Er wurde
       ihr selbst nicht mehr Herr, also habe ich ihn befreit.
       
       Einen Tag später sah ich einen Mann vorm Haus, der vom schon zerschlagenen
       Spiegel einer Schranktür ein etwa handtellergroßes Stück herausbrach und in
       der Tasche verstaute, seine Hand blutete danach. Ich wundere mich in meiner
       Straße über gar nichts mehr. Ganz normaler Alltag vorm Balkon. Manchmal
       mutet das Leben in unserem Kiez wie einer der Andreas-Dresen-Filme an, die
       den Alltag der kleinen Leute so genau wie lakonisch beschreiben.
       
       ## Dann bricht der Sturm los
       
       Als ich mich ans Ende dieser Kolumne mache, von Mittagessen und
       Besorgungen und Kücheputzen unterbrochen, bricht der Sturm los. Und es
       regnet tatsächlich, aber doch nur die prophezeiten paar dünnen Tropfen.
       Dabei ist es so trocken, dass es am Ende des Gehwegs, wo schon immer die
       Gehwegplatten fehlen, feinsten Zuckersand hat, der zehn Zentimeter tief
       ist. Auch auf meinem Lieblingsfriedhof, der gleich um die Ecke liegt,
       vis-à-vis dem Friedrichshainer Krankenhaus, hat sich der Zuckersand von
       Woche zu Woche immer breiter und tiefer gemacht.
       
       Ich durchquere den Friedhof täglich morgens vor und abends nach der Arbeit.
       Man kriegt so etwas von der Natur und den Jahreszeiten mit. Gerade letzte
       Woche waren die Eichhörnchen so aktiv wie lange nicht. Es waren außerdem
       viel mehr Tiere als sonst zu sehen. Sie waren damit beschäftigt, Haselnüsse
       zu verbuddeln. Als ob sie geahnt hätten, dass das Wetter umschlägt und der
       scheinbar nie enden wollende Sommer nun doch endgültig zu Ende geht.
       
       Am vorletzten heißen Tag sah ich mal wieder eine Angestellte des
       Blumenladens auf dem Friedhof gegen Feierabend mit dem Schlauch ein paar
       Bäume und Sträucher rund ums Geschäft mit Wasser versorgen. „Sie Heldin“,
       habe ich gesagt. Die Frau fragt zurück: „Warum Heldin?“ Ich: „Na, weil sie
       an die Durst leidenden Bäume denken.“ Sie lacht und sagt: „Das müssten nur
       mehr Leute machen.“ Stimmt ja, Berlin braucht mehr Helden. Und Regen,
       Regen, Regen.
       
       Am Schluss der Kolumne angekommen, zeigt das Thermometer herbstübliche 18
       Grad. Der Herbstblues kann kommen. Aber hoffen wir trotzdem mal auf einen
       schönen, sonnigen und warmen Oktober.
       
       Viel Regen gab es dann tatsächlich auch noch, der vergangene Sonntag war
       nass. Seitdem blieb es wieder trocken.
       
       30 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Hergeth
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Dürre
 (DIR) Behelfsetikett
 (DIR) Friedrichshain
 (DIR) Lesestück Meinung und Analyse
 (DIR) Ökologie
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kolumne Behelfsetikett: Zeit verplempern mit Christa Wolf
       
       … oder mit Ramona Pop, der der Kolumnist beim Flanieren jenseits des
       heimischen Kiezes schon mal in der Metzgerei über den Weg läuft. Und auch
       sonst erlebt er eine Menge.
       
 (DIR) Überhitzung der Erde: Gaudi statt Klimakatastrophe
       
       Bis auf ein paar verrückte Eichhörnchen betrifft die Hitzewelle kaum
       jemanden. Dabei belegt der Sommer, wovor Forscher lange warnten.
       
 (DIR) Waldwirtschaft und Großbrände: Kein Wald vor lauter Bäumen
       
       In Brandenburg brennen die Kiefernwälder wie Zunder. Doch das Feuer ist
       auch eine Chance – für eine Rückkehr zum Naturwald.
       
 (DIR) Kommentar Klimaschutz: Nur die Bäume wissen, wie's geht
       
       Fotosynthese können Menschen nicht nachahmen. Umso wichtiger ist es, den
       Klimaschutz voranzutreiben. Zum Beispiel, indem man Bäume pflanzt.