# taz.de -- Buch über „Integration“ in Deutschland: Rhetorik der Zärtlichkeit
       
       > Integration ist der falsche Ansatz für eine offene Gesellschaft, meint
       > Max Czollek. „Desintegriert euch!“ heißt seine Streitschrift.
       
 (IMG) Bild: Solidarität ist gut, aber dem neuen Nationalismus sollten sich JüdInnen in Deutschland nicht hingeben
       
       Groß ist der Wunsch, dass alles endlich normal sei. Der Prozess der
       „Wiedergutwerdung der Deutschen“, den Eike Geisel einst mit seinen
       Polemiken attackiert hat, soll endlich abgeschlossen werden. Dass das unter
       demokratischen und pluralistischen Bedingungen nicht klappen kann und warum
       es nicht nur gut, sondern sogar notwendig für die Gesellschaft ist, dass
       das nicht funktioniert, versucht Max Czollek in seinem eben erschienenen
       Pamphlet zu erklären.
       
       Schon der Titel „Desintegriert euch!“ macht deutlich, worum es geht: das
       Phantasma der „Integration“ als den – wie Czollek sagt: „neovölkischen“ –
       Versuch kenntlich zu machen, ein monolithisches „Wir“ zu konstruieren, wo
       es in Wirklichkeit nur das Mannigfaltige, das Widersprüchliche und das
       Ungleichzeitige gibt. Abgesehen davon, dass die erste große
       Integrationsleistung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR die
       Rehabilitierung und Einbindung alter Nazis war, der Czollek ein Kapitel
       widmet.
       
       Dem herrschenden Integrationsparadigma, das immer das Verhalten der
       „anderen“, niemals aber der Angehörigen eines angeblich naturwüchsigen
       Zentrums im Auge hat, stellt der Autor die Idee und Realität einer
       Gesellschaft als „Ort der radikalen Vielfalt“ entgegen. Seine naheliegende
       Frage lautet: „Ab wann gilt man nicht mehr als Integrationsverweigerer,
       sondern als frustrierter Deutscher?“ Wie lange strahlt der ominöse
       Migrationshintergrund eigentlich ab?
       
       Der Lyriker und Politikwissenschaftler Czollek spricht auch aus einer
       jüdischen Perspektive, weswegen er sich zuerst dem deutschen
       „Gedächtnistheater“ widmet. So hat Michal Y. Bodeman das seit den späten
       siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dem Spielplan stehende
       Stück benannt, in dem die Juden den Zweck erfüllen, den Deutschen die
       Zumutung der Vergegenwärtigung ihrer Untaten erträglicher zu machen und zu
       beglaubigen, dass der Nazispuk nun auch wirklich vorbei sei.
       
       ## Völkischem Denken Einhalt gebieten
       
       Der 1987 in der Hauptstadt der DDR geborene Autor ist es leid, von
       Altersgenossen zu hören, nun sei es mal genug mit den ewigen Hinweisen auf
       die Vergangenheit. Von der Wiedervereinigung zu Martin Walsers
       Paulskirchenrede („Monumentalisierung der Schande“), vom „Sommermärchen“
       bis zum Einzug der AfD in den Bundestag erblickt Czollek dasselbe Muster:
       Wer nicht Fahnen schwenken will, um die neue Normalität zu feiern, gelte
       als unpatriotischer Geselle. Seine Antwort: „Die Gemeinschaft der deutschen
       Täter*innen und ihrer Nachkommen muss es ertragen, wenn ein Teil der
       Bevölkerung ihren Wunsch nach Normalisierung nicht teilt.“
       
       Die „Juden“ und die „Deutschen“ treten im Gedächtnistheater als Figuren,
       nicht als reale Menschen auf. Ebendas ist laut Czollek das Problem, das
       erst erkannt werden muss, damit sich die fortschrittlichen Teile der
       Gesellschaft zu einem starken Bündnis zusammenschließen können, das nötig
       ist, um den metapolitischen Winkelzügen der Neuen Rechten und dem sich
       breit machenden völkischen Denken Einhalt zu gebieten. Desintegration
       bedeutet für Czollek unter anderem, die vereinnahmende deutsche
       Identifikation mit den jüdischen Opfern zu unterbrechen, die er in
       Gedichten wie in Reden von Politikern erblickt.
       
       In jüngerer Zeit ist in diesem Zusammenhang die Formel der
       „jüdisch-christlichen Kultur“ in Mode gekommen. Für Czollek ist sie „Teil
       des Versuchs, den Islam aus der deutschen Gesellschaft auszuschließen – und
       das Judentum bis auf weiteres nicht“. Czollek rät Jüdinnen und Juden, bei
       diesem Spiel nicht mitzumachen, und spricht eine drastische Warnung aus:
       „Beim nächsten Mal brennen vielleicht zuerst die Moscheen. Aber dann
       brennen auch die Synagogen. Ich mache mir da keine Illusionen.“
       
       Ist das Alarmismus, Ausweis linker Realitätsuntauglichkeit? Die Akademiker
       mit altdeutschen Vor- und Nachnamen, die jüngst die unter dem Kürzel #MeTwo
       versammelten Geschichten von Alltagsrassismus als wahlweise paranoides oder
       warmduscherisches Gejammer von Leuten, denen es zu gut geht, abqualifiziert
       haben, werden wohl sagen: Ja.
       
       ## Das „Potential physischer Bedrohung“ ist erhöht
       
       Czollek hat kein Bedürfnis, mit Rechten zu reden. Den Autoren des im
       vergangenen Jahr erschienenen Leitfadens, der dann doch keiner sein wollte,
       „Mit Rechten reden“, kreidet er vor allem an, dass diese sich mit Rechten,
       die brandschatzen und terroristische Vereinigungen bilden, gar nicht erst
       befassten: „Damit schließen die Autoren einen zentralen Aspekt rechter
       Politik von vornherein aus, nämlich ihre Gewaltförmigkeit.“
       
       Den Befund, man habe es beim Wirken der Rechten in erster Linie mit einem
       „Sprachspiel“ zu tun, kommentiert Czollek trocken, für ihn und seine
       Freunde erhöhe die Existenz der Neuen Rechten „vor allem das Potential
       physischer Bedrohung“.
       
       Auch in der Ansprache des Bundespräsidenten zum Nationalfeiertag 2017 war
       von „Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut“ die Rede, aber nicht
       von Hass, Rassismus und Gewalt, bemängelt Czollek. Frank-Walter Steinmeier
       sagte aber, „die Neuen“ müssten sich „Sprache, Grundgesetz, Demokratie und
       Geschichte“ aneignen.
       
       Czollek kommentiert böse: „In das Parlament zieht eine völkische rechte
       Partei ein, und Steinmeier ermahnt die zentrale Opfergruppe rechter Gewalt,
       sich zu integrieren.“ Das Phänomen, auf extremistisches Denken, Hass und
       völkische Ideologie mit dem Reflex zu reagieren, nun müsse man sich der
       „Sorgen und Nöte der Menschen“ annehmen, nennt Czollek „Rhetorik der
       Zärtlichkeit“.
       
       ## Stringent argumentiert, manchmal sogar lustig
       
       Dass die angebliche Fürsorgepflicht für Feinde der offenen Gesellschaft mit
       Lust und Verve erfüllt wird, wundert Czollek noch mehr: „Ich muss schon
       sagen, dass mich die Begeisterung überrascht hat, mit der viele deutsche
       Politiker*Innen und Publizist*Innen auf den Wahlerfolg der AfD reagierten.
       Es wirkte, als hätten sie regelrecht darauf gewartet, rechten,
       nationalistischen und nationalliberalen Positionen mal wieder einen Platz
       in ihren Homestorys, Interviews und Meinungsartikeln einzuräumen.“
       
       „Desintegriert euch!“ ist eine gut recherchierte und stringent
       argumentierende, manchmal sogar lustige Streitschrift, die zur rechten Zeit
       kommt – auch wenn Czollek nicht an jeder Stelle nachvollziehbar
       argumentiert und es beim polemischen Überspitzen von gegnerischen
       Positionen mit den Zitatbezügen manchmal nicht so genau nimmt.
       
       Seine vielleicht wichtigste Beobachtung: Die Mehrheitsgesellschaft kann den
       in ihren Reihen existierenden Rassismus, das Nachwirken
       nationalsozialistischer Prägungen und die beinahe täglichen Angriffe auf
       Flüchtlingsheime nicht wahrhaben, weil all das mit ihrem mühsam
       konstruierten Selbstbild kollidiert. Normalität herrscht also, wenn der
       Kaiser nackt ist, aber alle viel Energie darauf verwenden, sich einzureden,
       wie exquisit gekleidet er doch sei.
       
       25 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Gutmair
       
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