# taz.de -- Regierungskrise in Großbritannien: Chaostage der Konservativen
       
       > Zwei Ministerrücktritte innerhalb 24 Stunden – das gab es in
       > Großbritannien seit 1982 nicht mehr. Die Regierung zerfleischt sich über
       > den Brexit.
       
 (IMG) Bild: Kurios: Der Rücktritt von Außenminister Boris Johnson (links)
       
       BERLIN taz | Die Gerüchteküche überschlug sich, als am Dienstagvormittag
       Michael Gove, britischer Umweltminister und führender Brexit-Vordenker, auf
       einem Pressetermin nicht erschien. Schon am Montag war Gove einer
       Pressekonferenz ferngeblieben. Wollte er, fragten sich Journalisten, etwa
       zurücktreten, so wie seine Mitstreiter David Davis und Boris Johnson vor
       ihm? Hatte man etwas verpasst?
       
       Falsch. Gove war als Umweltminister auf einer Sondersitzung des gerade
       umgebildeten Kabinetts. Das war wichtiger als ein Presseauftritt mit einem
       südafrikanischen Ärmelkanalschwimmer, und am Vortag war wohl auch die
       Eröffnung der „Bees Needs Week“ (Woche der Bienenbedürftigkeit) verzichtbar
       gewesen. Vor Fernsehkameras bestätigte Gove später, er stehe „100 Prozent“
       hinter Theresa May, wolle „absolut nicht“ abtreten, und auf die Frage, ob
       die Premierministerin in Schwierigkeiten stecke, antwortete Gove beim
       Einsteigen in den Dienstwagen mit einem knappen „Nein“.
       
       Wenig später versicherte eine gewöhnlich gut informierte Quelle der taz,
       Michael Gove sei zurückgetreten, die Nachricht werde aber erst später
       bekannt gegeben. Insiderwissen? Fake News?
       
       Niemand konnte am Dienstag mit Sicherheit sagen, ob die Regierungskrise,
       die London seit Tagen erschüttert, bereits beendet ist oder gerade erst
       begonnen hat – und, falls Letzteres, wie weit sie gehen könnte und ob sie
       möglicherweise sogar zum Machtwechsel und zum „Exit vom Brexit“ führt.
       „Militärflugzeug im Tiefflug über Westminster“, twitterte gegen 14 Uhr der
       ehemalige Ukip-Abgeordnete Douglas Carswell, als zur Feier des 100.
       Jahrestags der Royal Air Force ein Luftwaffengeschwader die Hauptstadt
       überflog. „Für einen Augenblick fragte ich mich, ob es einen Putsch gegeben
       hat.“
       
       ## Unschlüssig und autoritär
       
       Es sind tatsächlich außergewöhnliche Zeiten in London. Zwei
       Ministerrücktritte innerhalb von 24 Stunden – das hat Großbritannien seit
       dem Falkland-Krieg 1982 nicht mehr erlebt. Damals sicherte sich Margaret
       Thatcher durch militärische Entschlossenheit ihr Amt und ihren Ruf auf
       viele Jahre, und ihre Partei trauert „Maggie“ bis heute nach. Theresa May
       genießt unter Parteikollegen nicht ansatzweise denselben Respekt: Sie
       verspielte bei den vorgezogenen Neuwahlen 2017 die absolute Mehrheit der
       Konservativen im Parlament, sie gilt als unschlüssig und autoritär
       zugleich, die Brexit-Hardliner sehen sie als Volksverräterin und die
       Brexit-Gegner schlicht als inkompetent.
       
       Dabei würde May gerne als ebenso abgebrüht in die Geschichtsbücher eingehen
       wie einst ihre große Vorgängerin, mit einem erfolgreichen Brexit als ihr
       Falklandkrieg, den sie als Herausforderung annimmt und meistert. Als
       „reibungslos und geordnet“ bezeichnete die Premierministerin am
       Montagnachmittag im Unterhaus ihre Brexit-Politik, während um sie herum
       gerade ihre Regierung zerfiel. Sie meinte es ernst: Die Rücktritte der
       beiden Brexit-Alphatiere Davis und Johnson waren für sie Kollateralschäden
       auf dem Weg zum größeren Ziel. Nämlich den Brexit in einer Weise
       umzusetzen, die alle Seiten zufriedenstellt.
       
       Dass Brexit-Minister David Davis, ein ausgebildeter Nahkämpfer aus
       einfachen Verhältnissen und als prinzipientreu bekannt, gehen würde, war
       folgerichtig. May hatte ihn monatelang ignoriert, ebenso seine Einwände
       gegen den am Freitag vom gesamten Kabinett verabschiedeten neuen
       Brexit-Plan, der eine engere Anbindung an EU-Regelwerke vorsieht als bisher
       vorgesehen. Nach einer Bedenkzeit kam Davis zum Schluss, er wäre nicht der
       Richtige, um diesen Plan im Parlament und gegenüber der EU zu vertreten,
       und legte am Sonntagabend sein Amt nieder.
       
       Der Rücktritt von Außenminister Boris Johnson, aristokratischer Überflieger
       und mit Fakten und Details traditionell auf Kriegsfuß, am Montagnachmittag
       war kurioser. Zwar hatte Johnson bei der Kabinettsklausur am Freitag viel
       drastischere Einwände gegen das May-Paper formuliert als Davis – „ein
       gequirltes Stück Scheiße“ nannte er es hinterher öffentlich –, aber er
       hatte auch gesagt, sein Rücktritt würde nur der EU nutzen und daher bleibe
       er. Nachdem Davis weg war, wollte der ambitionierte Johnson ihm aber
       offensichtlich nicht den Posten des Anführers der Brexit-Dissidenten
       überlassen.
       
       ## Englisch für „du mich auch“
       
       Theresa May war über diese Volte so empört, dass sie Johnsons Rücktritt
       öffentlich annahm, bevor er ihn eingereicht hatte. Der Außenminister ließ
       sich daraufhin bei der feierlichen Unterschrift unter seinen
       Rücktrittsbrief fotografieren – ein Schreiben, das May vorwarf,
       Großbritannien in eine „Kolonie“ der EU zu verwandeln. „Beim Brexit sollte
       es um Chancen und Hoffnung gehen“, schrieb er. „Der Traum stirbt, erstickt
       durch unnötige Selbstzweifel.“ May schrieb spitz zurück, sie sei „ein wenig
       überrascht“ – der feine englische Ausdruck für „du mich auch“.
       
       Johnsons spektakulärer Rücktritt beflügelte die „Brexiteers“, die jeden
       Kompromiss mit der EU ablehnen und Mays ewige Suche nach Einigung zur Hölle
       wünschen. „Mit Boris’ Abgang dürfte Theresa May bis Ende der Woche draußen
       sein, und hoffentlich können wir einen neuen Premierminister haben, der in
       der Lage ist, den Brexit zu liefern, für den das britische Volk gestimmt
       hat“, jubelte auf Twitter David Spencer, ehemaliger Assistent von David
       Davis.
       
       Den ersten Sturm auf die May-Zitadelle erwarteten Beobachter auf der
       konservativen Fraktionssitzung am Montagabend, die schon vor den
       Rücktritten angesetzt war und auf der Theresa May ihren neuen Brexit-Plan
       vorstellen sollte. Aber es kam nicht zum erwarteten Showdown. Nach
       Berichten von Teilnehmern überwog der Rückhalt für die Premierministerin,
       die man stärken müsse, damit sie nicht in Brüssel Schiffbruch erleidet. Die
       Schadenfreude aus Europa über das Geschehen war zuvor allzu offensichtlich
       gewesen. „Politiker kommen und gehen, aber die Probleme, die sie schaffen,
       bleiben“, hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk getwittert. „Ich kann nur
       bedauern, dass die Brexit-Idee nicht mit David und Johnson verschwunden
       ist. Aber wer weiß?“
       
       Um May zu stürzen, müssten 15 Prozent der konservativen Parlamentsfraktion
       – das wären momentan 48 Abgeordnete – getrennt voneinander schriftlich bei
       der Fraktionsführung eine Vertrauensabstimmung beantragen. Nach
       Informationen der taz waren bis Montag Abend 42 solche Anträge eingegangen
       – zu wenig. Die Parlamentarier wissen genau, wie selbstmörderisch ein
       May-Sturz sein könnte: Niemand, der ernsthaft den Brexit vorantreibt, kann
       stattdessen die Sommerpause mit parteiinternen Wahlen verschwenden, und wer
       auch immer May beerben würde, erbt auch die Scherben ihrer Brexit-Politik
       und ihre nicht vorhandene Parlamentsmehrheit. Neuwahlen, bei der die
       Labour-Opposition gute Chancen hätte, wären kaum zu vermeiden.
       
       ## Zweites Problem Corbyn
       
       Deswegen gilt ein offener Machtkampf bei den Tories als unwahrscheinlich –
       und genau deswegen hoffen Brexit-Gegner darauf: Sturz von Theresa May,
       Neuwahlen, neue Regierung und dann ein zweites Brexit-Referendum zum
       Abblasen des EU-Austritts. Labour-Oberhausmitglied Andrew Adonis,
       Kampagnenführer für ein „People’s Vote“ genanntes neues Referendum, rechnet
       in einem Zeitungsbeitrag mit einer Entscheidung darüber „wahrscheinlich zum
       Jahresende“ und mit einer neuen Volksabstimmung in der ersten Hälfte 2019 –
       mit Labour als Befürworter eines Verbleibs in der EU.
       
       Dazu müsste aber nicht nur Theresa May als Tory-Chefin abgesetzt werden,
       sondern auch Jeremy Corbyn als Labour-Chef, denn der ist kein
       Brexit-Gegner. Die Jahresparteitage beider Parteien im September und
       Oktober dürften damit interessant werden, gerade rechtzeitig zum nächsten
       großen EU-Gipfel. Für May sind da weniger die Brexit-Hardliner eine Gefahr
       – sie wollen den Brexit ja nicht gefährden, so unvollkommen er sein mag –
       als die kleine Minderheit der konservativen EU-Freunde.
       
       Aber Theresa May geht in diese Auseinandersetzung mit einer sehr viel
       kohärenteren Regierung als vorher. Dominic Raab und Jeremy Hunt anstelle
       von David Davis und Boris Johnson sind nicht nur effektiver, sondern auch
       loyaler. Zwei Jahre lang hatte May versucht, alle Flügel ins Kabinett
       aufzunehmen und dadurch alle bei der Stange zu halten. Darunter litt die
       Arbeitsfähigkeit der Regierung extrem. Jetzt versucht sie es mit einem
       geeinteren Team. Der Preis: mehr Konflikte nach außen.
       
       Mays Kalkül ist, dass sie damit leben kann. Niemand jubelt über ihren neuen
       Plan, aber wenn die Brexit-Gegner ihn torpedieren, steht am Ende womöglich
       ein „harter Brexit“ ganz ohne Vereinbarung mit der EU. Und wenn die
       „Brexiteers“ ihn sabotieren, provozieren sie möglicherweise eine Dynamik,
       die den Brexit ganz kippt. Ebenso spielt sie mit ihrer eigenen
       Unbeliebtheit: Keiner wird sie entfernen, wenn das eventuell dem Gegner
       nützt.
       
       ## Trumps „Freund“
       
       Am Dienstagnachmittag gerieten WhatsApp-Debatten unter Brexiteers an die
       Öffentlichkeit, in denen diese sich gegenseitig zerfleischen über die
       Frage, wieso man ausgerechnet jetzt May stützen solle, wo sie doch mit
       ihrem neuen Plan den Brexit „verraten“ habe. Als „Schleimer und
       Karrieristen“ beschimpft da ein Abgeordneter diejenigen seiner Kollegen,
       die jetzt um der Stabilität willen May zujubeln.
       
       Am Dienstagabend legten zwei stellvertretende Geschäftführer der
       Konservativen ihre Ämter nieder. Noch ein paar Rücktritte und
       Indiskretionen mehr, und Mays Kalkül bricht doch noch in sich zusammen. Ein
       Anlass könnte das für Donnerstag geplante Weißbuch der Regierung mit allen
       Einzelheiten der Brexit-Strategie sein. Da ist neuer Sprengstoff zu
       erwarten. May will es ausgerechnet an dem Tag veröffentlichen, an dem
       Donald Trump nach London kommt. Der hat am Dienstag Boris Johnson als
       seinen „Freund“ bezeichnet.
       
       11 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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