# taz.de -- (Kino-)Besuch mit einer Cineastin: Kein Tag ohne Kino
       
       > Nana Frisch schaut 300 Filme pro Jahr, viele davon auf der Berlinale.
       > Manchmal fragt sie sich, ob das Filmfest überhaupt für Menschen wie sie
       > gemacht wird.
       
 (IMG) Bild: Sie nimmt extra Urlaub für die Berlinale: Martina Frisch vor dem Kino Passage in Neukölln
       
       Eigentlich hätte Martina Frisch heute gar keine Zeit.
       
       Es sind ja nur noch ein paar Tage, bis die Berlinale beginnt, besser
       gesagt: der Kartenvorverkauf für die Berlinale. Also müsste Martina Frisch,
       genannt Nana, eigentlich am Küchentisch ihrer gemütlichen Charlottenburger
       Wohnung mit Blick in die dicke Kastanie auf dem Hinterhof sitzen. Bei einem
       Glas Rotwein vielleicht. Sie müsste die Listen machen.
       
       Listen, die sie noch lang nach ihrem Gebrauch in Schuhkartons aufbewahren
       wird.
       
       Listen, auf denen nicht nur etwa 150 Filme vermerkt sind, sondern auch,
       welche Karten für welche Freunde mitzubesorgen sind – man darf ja für jeden
       Film zwei Karten kaufen. Auch andere Programmpunkte des Tages stehen auf
       diesen Listen: „Platz frei halten für Brun“ beispielsweise. Oder:
       „Currywurst essen“, nach dem Filmbesuch am Zoopalast, neben dem es eine
       gute Wurstbude gibt.
       
       Martina Frisch, die am liebsten geduzt werden mag, ist Cineastin. In ihrem
       „extremsten“ Jahr sah sie 306 Filme, 250 in ihrem „schwächsten“, wie sie
       sagt. 50 davon schafft sie im Schnitt auf der Berlinale.
       
       Seit 20 Jahren nimmt sie extra Urlaub für das Festival. Und den braucht sie
       auch. Denn während der Berlinale steht sie jeden Morgen ab fünf Uhr am Haus
       der Berliner Festspiele in der Schaperstraße an. Um acht Uhr darf sie in
       den Vorraum. Um zehn öffnen die Kassen.
       
       Danach schaut sie sich in der ganzen Stadt vier bis sechs Filme an,
       manchmal bis 23 Uhr, manchmal bis nach Mitternacht. Und dann muss sie zu
       Hause noch den nächsten Tag vorbereiten, die Listen aktualisieren. „Ich
       habe mir schon oft gewünscht, dass sie auf der Berlinale diese japanischen
       Schlaf-Boxen aufstellen, wie sie an manchen europäischen Flughäfen stehen“,
       lächelt sie.
       
       An einem sonnig kalten Winternachmittag um 16 Uhr sitzt Nana Frisch auf dem
       schwarzen Ledersofa in ihrem kleinen Wohnzimmer. Es ist mit Kunst und
       Büchern voll gehängt und gestellt. Sie lacht sehr verschmitzt, wenn sie
       nach den digitalen Möglichkeiten gefragt wird, die Filmfans heute so haben.
       Direkt gegenüber vom Sofa steht ein großer Fernseher auf dem Boden,
       topmodern, vielleicht 55 Zoll. Er sieht ein wenig verstaubt aus. „Der steht
       da seit einem Jahr“, grinst Nana Frisch. „Ich habe ihn meinem Exmann
       abgekauft.“ Sie greift nach der weißen Thermoskanne mit dem roten
       Berlinale-Logo. „Ich muss ich ihn wohl mal anschließen.“
       
       Und dann, nach einer kurzen, aber wirklich nur sehr kurzen Pause: „Ich
       brauch das, dass da einer neben mir hustet.“ In acht von zehn Filmen sitzt
       sie nicht allein, erzählt sie. Auch, wenn sie sich mal nicht verabredet
       hat, trifft sie bestimmt jemanden im Kino, den sie kennt. Das Kino ist Nana
       Frischs Welt, es ist auch ihr Sozialleben.
       
       Nana Frisch, die in ihrem übrigen Leben übrigens auch noch Hoteldirektorin
       in Vollzeit mit Überstunden und Schichtdienst ist, gern ins Theater geht
       und oft und weit verreist – also nicht nur zu anderen Filmfestivals –, ist
       58 Jahre alt. Nach einer Ehe, die „gut war, aber trotzdem irgendwann zu
       Ende ging“, bezeichnet sie sich heute als „überzeugter Single“.
       
       Viele Freundschaften, die sie pflegt, hat sie in der Schlange am Haus der
       Berliner Festspiele geschlossen, unter den Langanstehern, wie sie sagt,
       einem Stamm von ungefähr 30 Personen, die sich mehr oder weniger seit 20
       Jahren kennen. Man lädt sich zu Geburtstagen ein, macht Vor- und
       Nachbesprechungen zur Berlinale, schickt abends Filmtagebücher herum.
       
       „Ich würde es gar nicht aushalten, die Tickets online zu Hause zu
       bestellen“, sagt sie. Sich allein zu ärgern, wenn es wieder nicht die
       erwünschten, sondern nur ganz andere Eintrittskarten gab. Niemanden zu
       haben, der einem nebenan Rosinenbrötchen beim Biobäcker kauft und tröstend
       auf die Schulter klopft, wenn wieder der Berlinale-Palast nicht geklappt
       hat. „Warum sollte man sich das antun?“
       
       Nana Frisch liebt Filme, sie liebt auch die Berlinale, hat sie erst zweimal
       verpasst, weil sie ihren Jahresurlaub für Reisen nach Neuseeland brauchte.
       Aber sie erzählt auch, was ihr nicht passt an diesem Festival. Nana Frisch
       hält den Berlinale-Chef Dieter Kosslick, den Mann mit dem ausladenden Hut,
       nicht gerade für übermäßig interessiert an seinem Publikum – auch, wenn er
       sich immer gern als Publikumsliebling darstellt.
       
       Sosehr sie ihre Schlange liebt: Für viele Filme im Wettbewerb gibt es zu
       viele Reservierungen. Für Prominente und Sponsoren, sagt Nana Frisch. Oft
       bekommt man auch als Langansteher nur noch Karten für den 2. Rang im
       Berlinale-Palast. Sie kann Vergleiche ziehen, kennt die Filmfestivals in
       Karlsbad, Hof, Leipzig, Cottbus, Rotterdam – auch andere Berliner Festivals
       wie Achtung Berlin und das Fantasy Filmfest. Nirgends ist es so schwer,
       Karten für die großen Filme zu bekommen, wie in Berlin, sagt sie.
       
       2014 schrieb sie der Berlinale einen Brief mit dieser Kritik. Bis heute
       bekam sie keine Antwort. Seitdem hat sie das Gefühl, dass es Kosslick
       ausschließlich um den roten Teppich geht, nicht um Leute wie sie.
       
       Es gibt noch viel zu besprechen, aber es ist schon 18 Uhr. Zeit für die
       Cineastin, zum ersten Film des Abends aufzubrechen. Sie zahlt monatlich
       18,90 Euro für die Jahreskarte der Yorck-Kinos. Also ist ihr Lieblingskino
       am Dienstag die Passage in Neukölln, denn da kann sie nach der
       20-Uhr-Vorstellung gleich noch die Sneak Preview mitnehmen. Die geheime
       Vorpremiere um 22.30 Uhr.
       
       Nana Frisch braust immer mit ihrem kleinen Smart zu diesem Kino, das geht
       am schnellsten und ist günstig, wenn man sich auskennt mit den kostenlosen
       Parklücken, die ja nicht groß sein müssen für sie. Manchmal, wenn sie nicht
       so früh von der Arbeit kommt wie heute, schläft sie sogar noch eine Runde
       im Smart, damit sie fit ist für die zwei Filme am Abend.
       
       Fragen über Fragen auf der Stadtautobahn: Wie merkt sie sich all die Filme,
       die sie sieht? „Ich erinnere mich auch noch an die offene Postenliste von
       vor vier Jahren im Hotel“, sagt sie. Wie finanziert sie das viele Kino? Im
       Schnitt zahle ich dank Jahreskarte 3,53 Euro pro Ticket.“ Und wie kommt es
       eigentlich, dass sie Cineastin wurde und nicht – sagen wir mal – Leseratte?
       „Ich habe keine Ahnung.“
       
       Aufgewachsen ist Nana Frisch in einem kleinen fränkischen Dorf, ohne Kino.
       Der erste Film, den sie sah, war eher zum Abgewöhnen: „El Cid“, ein
       Historienfilm aus dem Jahr 1961. Eigentlich kam sie erst nach dem Umzug
       nach Berlin 1986 so richtig aufs Kino. Die Eltern waren Hoteliers. Sie war
       die Jüngste von acht Geschwistern – und außer ihr interessiert sich bis
       heute keiner davon besonders für Film.
       
       Was sind das für Filme, die sich Nana Frisch ansieht, im Schnitt fast einen
       pro Tag? Nach welchen Kriterien sucht sie sie aus? Ist sie wirklich eine
       Cineastin, wie sie im Buch steht? Im Dokumentarfilm „Cinemania“ aus dem
       Jahr 2002 werden fünf New Yorker Cineasten wie Freaks dargestellt. Sie
       flüchten im Kino vor der Welt. Das Lexikon der Filmbegriffe bezeichnet
       Cineasten als „schwärmerischen Verehrer der Filmkultur und ausgewiesene
       Kenner der Filmgeschichte und der künstlerischen Qualitäten des Kinos“.
       
       „Ach ja?“, grinst die Kinoverrückte zu diesen Infos, denn sie steht weit
       über solchen Zuweisungen. „Ich bin nur ’ne Guckerin.“
       
       Kürzlich hat sie ein Buch über Filmtheorie geschenkt bekommen. Das
       verstaubt jetzt ebenso im Regal wie der Fernseher. Sie macht zwar
       regelmäßig beim Filmquiz im SO36 mit, findet aber die Ernsthaftigkeit
       mancher Teilnehmer dort ziemlich nervig.
       
       Der erste in einer langen Reihe von Lieblingsfilmen, die sie nennt, ist
       „Blade Runner“.
       
       Am meisten lachen musste sie zuletzt bei „Fack ju Göhte“.
       
       Aber sie findet auch komplizierte französische Filme toll, wie die von
       François Ozon. Oder Dokumentarfilme über scheinbar marginale Themen wie den
       über einen betrügerischen Vorstand eines Münchener Kindergartens oder den
       über eine Seestreitmacht ohne Meer: die Marine Boliviens.
       
       Wichtig ist eigentlich nur, dass die Filme im Original mit Untertiteln
       gezeigt werden. Nana Frisch spricht Englisch, Spanisch, Italienisch,
       Französisch auch. Gerade hat sie begonnen, Tschechisch zu lernen. Da ist es
       wichtig, dass man im Training bleibt.
       
       Und sonst? „Eigentlich geht es mir darum, eingenommen zu werden“, sagt sie.
       „Und manchmal weine ich auch gern zur Ablenkung mit den Problemen anderer“,
       fügt sie an.
       
       Es ist jetzt 20 Uhr, der Film fängt an. Die Cineastin hat „Licht“ von
       Barbara Albert ausgesucht; ein feministischer Film, der nur auf den ersten
       Blick als Kostümfilm daherkommt. Ein Film, in dem Friedrich Anton Mesmer,
       in seiner Zeit auch als Scharlatan verschrien, als eine Art früher
       Psychotherapeut erscheint. Ein Film auch, der die Krankheit seiner
       Hauptfigur, der blinden Pianistin Maria Theresia von Paradis, als Folge
       eines Traumas verhandelt.
       
       Nach dem Ende des Films äußert sich Nana Frisch positiv über „Licht“. Nur
       Devid Striesow als einfühlsamer, zugewandter Mesmer – das hat ihr nicht
       gefallen. Sie hat Recht: Striesow spielt sonst gern den verkappten Macho.
       Für einen Mesmer ist er einfach zu feist.
       
       Um 22 Uhr kauft sich die Filmverrückte das zweite Bier des Abends, diesmal
       eins mit Alkohol, auch wenn sie anderntags spätestens um 9 Uhr wieder im
       Hotel sein muss.
       
       „Ach, ich freue mich unheimlich auf die Berlinale“, sagt sie. „Trotz
       alledem.“ Es die vorletzte Berlinale von Dieter Kosslick. Wer weiß:
       Vielleicht wird ja alles besser für die Fans, wenn die oder der Neue kommt.
       
       Nana Frisch grüßt den zweiten Bekannten des Abends, bevor sie die müde
       Journalistin nach Hause gehen lässt.
       
       Um 1.47 Uhr schickt sie eine Mail: „In der Sneak lief doch tatsächlich
       ‚Shape of Water‘ … Ein wunderbares Epos über Liebe und Anderssein …
       Großartige Sally Hawkins. Wenn die für den Oscar nominiert ist, sollte sie
       ihn kriegen.“
       
       Am Ende der Mail steht: „Ich traf noch Schlangenfreunde.“
       
       15 Feb 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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