# taz.de -- Geschichte europäischer Migrationspolitik: Vom Zuckerbrot zur Peitsche
       
       > Um Migrationsbewegungen abzuwehren, benutzt die EU afrikanische Staaten –
       > unter Missachtung internationaler Verträge und der europäischen
       > Grundwerte.
       
 (IMG) Bild: Binnenvertriebene in Maiduguri, Nigeria
       
       Nach mehr als einem Jahrzehnt, in dem die Europäische Union versuchte, auf
       der Basis eines Dialogs mit den Ländern Afrikas für die Rückführung von
       Flüchtlingen zu sorgen, hat sie letztlich die Geduld verloren. Nach Plänen,
       die die europäische Kommission am 7. Juni 2016 verabschiedete, sucht die EU
       nun explizit nach Möglichkeiten, um die historischen neokolonialen
       Verbindungen ihrer Mitgliedstaaten dafür zu nutzen, die Bewegung von
       Migranten und Flüchtlingen einzuschränken, oder wie es die EU-Kommission
       selber ausdrückt:
       
       „Die besonderen Beziehungen, die Mitgliedstaaten mit Drittländern haben,
       spiegeln politische, historische und kulturelle Verbindungen wieder, die
       über Jahrzehnte der Kontakte gepflegt wurden. Sie sollten auch dafür
       genutzt werden, in Zukunft der gesamten EU zuträglich zu sein. Derzeit ist
       oft das Gegenteil der Fall. Vertrauen muss aufgebaut werden.“
       
       Genauer gesagt werden hier EU Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre Geschichte
       des Imperialismus und der Ausbeutung zu nutzen, um afrikanische Staaten ein
       europäisches Problem lösen zu lassen.
       
       Die Versuche der Europäischen Union, die Ankunft von Flüchtlingen und
       Migranten zu stoppen, begannen schon vor den Zeiten des
       Maastricht-Vertrages. Die Trevi-Gruppe, ein 1976 ins Leben gerufenes
       länderübergreifendes Forum, machte Einwanderung zu einem seiner
       Schwerpunkte. Der Dublin-Vertrag wurde am 15. Juni 1990 beschlossen – im
       selben Jahr als das Schengen-Abkommen in Kraft trat und der langsame Aufbau
       der „Festung Europa“ begann.
       
       ## 10 Jahre Dialoge
       
       Im Dezember 2005 verabschiedete ein informelles Treffen am Hampton Court
       Palace einen Aktionsplan über ein „Gemeinsames Vorgehen bei Migration:
       Vordringliche Projekte mit Fokus auf Afrika und den Mittelmeerraum“. Dieser
       gemeinsame „Umgang mit Migration und Mobilität“ (GAMM) betrachtete
       Migration vornehmlich als Folge der Globalisierung und forderte einen
       Dialog, Kooperation und Fluchtursachenbekämpfung, zum Beispiel durch die
       Beseitigung von Armut in den Herkunftsregionen.
       
       Es folgten eine Unmenge regionaler Prozesse: Der EU-Afrika -Dialog zu
       Migration und Mobilität, dazu bilaterale Dialoge mit der Türkei, Ländern am
       südlichen Mittelmeer (Marokko, Tunesien, Algerien, Ägypten, Jordanien,
       Libanon,) und afrikanischen Ländern (Kap Verde, Nigeria, Senegal,
       Äthiopien, Südafrika). Zehn Jahre später trafen diese edlen Ziele jedoch
       auf die Realität.
       
       ## An der Tür zur EU
       
       Am 28. November 2014, als der Khartum-Prozess beschlossen wurde, der die
       Staaten am Horn von Afrika betraf, war das Problem schon nicht mehr zu
       übersehen. 270.000 Flüchtlinge erreichten die Europäische Union über das
       Mittelmeer, mehr als doppelt so viele wie die 141.000 registrierten
       Flüchtlinge im Rekordjahr 2011. Die Hauptankunftsländer waren Griechenland
       und Italien, für die meisten Flüchtlinge lediglich Durchgangsstationen auf
       ihrem Weg nach Norden. Beide Länder gaben sich wenig Mühe, jene zu
       registrieren, die hier erstmals EU-Boden betraten, wie es das
       Dublin-Abkommen vorsah.
       
       Auf der Valletta-Konferenz in Malta im November 2015 gab es einen weiteren
       verspäteten Versuch, die afrikanischen Staaten in die Pflicht zu nehmen.
       Unmittelbar vor der Konferenz wurden Vorbehalte der afrikanischen
       Teilnehmer deutlich: „Die koloniale Vergangenheit Europas deutlich vor
       Augen, glauben einige Afrikaner, dass die EU verzweifelt versucht, sein
       Flüchtlingsproblem outzusourcen, statt zu akzeptieren dass die Menschen
       weiterhin versuchen würden, auf den Kontinent zu gelangen.“
       
       Die Hauptsorge der EU war es, Flüchtlinge und Migranten daran zu hindern,
       sich über den afrikanischen Kontinent bis an die Küste des Mittelmeeres zu
       bewegen, wo sie ein Problem für die EU werden würden.
       
       Erst im Herbst 2015 wurden die Pläne für die sogenannten Hotspots
       (geschlossene Internierungszentren, mit Registrierung,
       Sicherheitsüberprüfung und dann Fingerabdrucknahme der Flüchtlinge)
       gefasst. Diese Hotspots wurden jedoch nicht vor Februar 2016 funktional
       eingerichtet, als die Geduld innerhalb der EU schon lange an ihr Ende
       gelangt war. Ende 2015 hatten laut UNHCR eine Million Menschen Europa über
       das Mittelmeer erreicht, hauptsächlich via Griechenland und Italien.
       Letztlich siedelten sich die Flüchtlinge also einfach selber in der ganzen
       EU an.
       
       Die Visegrad-Länder (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) begannen derweil
       ein eigenes Regelwerk umzusetzen. Sie bauten Mauern und Zäune an ihren
       Grenzen, sie benutzten Tränengas und Gummigeschosse, um Flüchtlinge
       abzuweisen. Auch andere Länder schlossen ihre Grenzen: Österreich,
       Kroatien, Bulgarien, Dänemark, Norwegen und Schweden. In Deutschland, wo
       2015 noch über eine Millionen Asylbewerber willkommen geheißen worden
       waren, wurden die Gesetze verschärft, um das Leben der Flüchtlinge schwerer
       und ihrer Abschiebung leichter zu machen.
       
       In diesen und anderen EU-Ländern machten sich rassistische und manchmal
       sogar faschistische Gruppen hörbar und spielten ihr populistisches Lied.
       Die Eliten der EU sorgten sich öffentlich um ihre Macht Basis und fielen
       über einander her.
       
       ## Zeit für das schmutzige Geschäft
       
       Als alle Wege aus Italien und Griechenland heraus geschlossen waren,
       verabschiedete die EU am 18.März 2018 ihren ersten schmutzigen Deal mit der
       Türkei und erklärte das Land für sicher genug, um Flüchtlinge dorthin
       zurückschicken zu können. Diese Übereinkunft hatte die Form von zwei
       Briefen und einem Statement. Für dieses Geschäft schob die EU
       rechtsstaatliche Prinzipien und internationale vertragliche Verpflichtungen
       beiseite. Viele Nichtregierungsorganisationen kamen zu dem Schluss, dass
       die EU sich ihrer juristischen Verpflichtungen entledigte und sich lieber
       auf „Messaging“ (Zitat EU) verließ. Alle sollten wissen, dass wer auch
       immer nach diesem Datum käme, wieder in die Türkei zurück geschickt werden
       würde.
       
       Das war der Beginn einer vollständigen Umkehrung bisheriger EU-Politik.
       Genug war genug. Das Vorgehen mit Zuckerbrot und Peitsche aus der GAMM-Ära
       wandelte sich in eines das lediglich die Peitsche kannte: „Stimmt den
       Rücknahmen und Abschiebungen jetzt zu, egal ob mit oder ohne vertraglicher
       Grundlage oder tragt die Konsequenzen, vornehmlich den Verlust von
       Entwicklungshilfe und Handelsbeziehungen.“
       
       ## Eine neue Ära des Neokolonialismus
       
       Am 7. Juni 2016 schließlich veröffentlichte die EU-Kommission ihre neue
       veränderte Strategie mit dem Namen „Partnership Frameworks“, deren
       Schwerpunkt explizit auf Rückkehr und Abschiebung lag, verbunden mit der
       direkten Drohung, dass Staaten die nicht kooperierten die Konsequenzen bei
       Entwicklung und Handel tragen müssten. Die Kommission stellte fest, dass
       sie „bereit wäre, jenen Ländern die mehr Engagement zeigen würden größere
       Unterstützung zukommen zu lassen Und dabei auch nicht vor negativen
       Anreizen zurückschrecken würde.“
       
       Weiter argumentierte die Kommission: „Um Veränderungen in Gang zu bringen,
       muss das Gesamtpaket der Mittel und Instrumente der EU-Außenpolitik zum
       Tragen gebracht werden. Das bedeutet eine Veränderung im Zugang und ein
       neues Denken mit einer Mischung aus positiven und negativen Anreizen und
       unter Ausnutzung jeglicher Verhandlungsmasse und Werkzeuge.“
       
       Für diese hochrangigen Dialoge gibt es Länderpakete für 16
       „Prioritätsländer“ Äthiopien Eritrea, Mali, Niger, Nigeria, Senegal,
       Somalia, Sudan, Ghana, Elfenbeinküste, Algerien, Marokko, Tunesien,
       Afghanistan, Bangladesch und Pakistan. Die Erwartungen von Gegenleistungen
       für Entwicklungshilfe jedoch, führt zu ihrem Missbrauch, und
       Gegenleistungen verlangt die Kommission wortwörtlich:
       
       „Die zunehmende Verbindung zwischen Migrations- und Entwicklungspolitik ist
       wichtig, um sicherzustellen, dass die Entwicklungshilfe den Partnerländern
       hilft, Migration effektiver zu steuern und um Anreize für eine effektive
       Kooperation bei der Rückübernahme irregulärer Migranten zu schaffen.
       Positive und negative Anreize sollten in die EU-Entwicklungspolitik
       integriert werden. Es sollten jene Länder belohnt werden, die ihrer
       internationalen Verpflichtung nachkommen, die eigenen Staatsbürger
       zurückzunehmen, ebenso jene, die bei der Steuerung der Ströme irregulärer
       Migranten aus Drittländern kooperieren und auch solche, die adäquate
       Maßnahmen ergreifen, um Personen die vor Konflikten und Verfolgung fliehen,
       aufzunehmen. Analog muss es Konsequenzen für jene geben, die bei der
       Rückführung nicht kooperieren.“
       
       Kein Politikbereiche wurde bei diesem Zugang ausgelassen: „Alle EU-Projekte
       inklusive Bildung, Wissenschaft, Klimawandel, Energie, Umwelt und
       Landwirtschaft sollten prinzipiell Teil des Pakets sein, um maximale
       Verhandlungsmasse in die Diskussion einzubringen.“
       
       Die Pläne verlangten auch „die Unterstützung bei der Identifikation zur
       Rückführung irregulärer Migranten durch die Stärkung funktionierender
       ziviler Register und Fingerabdrucksammlung oder biometrische
       Digitalisierung in Drittländern.
       
       Viele der Beteiligten afrikanischen Staaten haben bislang nicht einmal ein
       Geburtenregister, jetzt sollen ganze Bevölkerungen auf Verlangen der EU in
       nationalen biometrischen Datenbanken gespeichert werden.
       
       Wie Patrick Kingsley im Guardian schrieb: „Die EU-Migrationspolitik erweckt
       den Eindruck, dass Europa Diktatoren der Realität vorzieht. Die neue
       EU-Migrationspolitik sprüht vor progressiver Sprache, von
       „Migrationsmanagement“ und davon, dass Migrationsströme nicht gestoppt
       werden können und deshalb akzeptiert werden müssten – aber besser gesteuert
       werden könnten. Im Kern aber lässt die Strategie erkennen, dass Europa
       diese Realität noch immer nicht akzeptiert hat. Schaut man einmal hinter
       diese kuschligen, aber vagen Verbeugungen in Richtung Siedlungs- und
       Entwicklungspolitik ist die Haupterkenntnis, dass Europas präferierte
       Methode, um mit Migration umzugehen, noch immer ist, die Nähe zu Diktatoren
       und starken Männern zu suchen. Und das obwohl diese zumeist der Hauptgrund
       für Migration sind“
       
       ## Ein weiteres schmutziges Geschäft
       
       Am 30. September 2016 schließlich wurde eine Vereinbarung mit Afghanistan
       getroffen, um sofort mit Rückflügen für Flüchtlinge zu beginnen. So sollten
       zügig 80.000 Flüchtlinge nach Afghanistan zurückkehren und dabei eine
       effektive Rücknahmeverpflichtung implementiert werden. Der Vertrag wurde an
       jeder parlamentarischen Kontrolle vorbei geschlossen. Wieder stellt sich
       die Frage: Ist Afghanistan denn ein sicheres Land?Was wir hier beobachten
       können, ist der Aufbau eines neokolonialen Projektes, mithilfe der
       Externalisierung der europäischen Verantwortung für Asylbewerber. Koste es
       was es wolle. Die langgültige Verpflichtung, jenen, die in Armut leben zu
       helfen, wird durch die Krise der EU selber unterlaufen. Im Angesicht eines
       rassistischen Populismus und der Angst der Elite vor Machtverlust erleben
       wir also ein Versagen dabei, den grundlegenden Werten der Europäischen
       Union gerecht zu werden.
       
       Der Autor ist Direktor der NGO Statewatch
       
       15 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tony Bunyan
       
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