# taz.de -- Traditionelles Berliner Gallery Weekend: Erinnerung ist Dunkelkammerarbeit
       
       > Ein Plakat wirbt für Kunst. Aber ist es wirklich ein Plakat? Oder doch
       > eine Skulptur? Martin Honert in der Galerie Johnen.
       
 (IMG) Bild: Ausschnitt aus Martin Honert, Schlafsaal, 2016
       
       Vor Martin Honert, mit dem die Galerie Johnen ins Gallery Weekend geht,
       muss man in die Knie gehen. Weniger aus kunstreligiöser Verzückung, mehr
       schon aus aufrichtiger Bewunderung, welchen Parcours sinnlicher Reflexion
       zu Erinnerung und ihrem modernen Bildmedium, der Fotografie, er mit nur
       drei Arbeiten eröffnet. Vor allem aber, um die richtige Perspektive
       einzunehmen vor seiner „Ziegelei“, die, aufgegeben und leer, den
       Abenteuerspielplatz seiner Kindheit bildete (sic).
       
       Denn um die perspektivische Verkürzung der schwarzen Holzregale richtig
       wahrzunehmen, so wahrzunehmen, dass sie gerade stehn und man selbst meint
       zwischen ihnen zu stehen, muss man acht Jahre alt und ungefähr einen Meter
       zehn groß sein. Dann schaut man durch sie hindurch ins Freie, wo zwei, drei
       Häuser sichtbar sind.
       
       Stellt man sich in Erwachsenengröße seitlich vor die Installation, dann
       sind ein Leuchtkasten mit der Fotografie einer Reihe Häuser zu erkennen und
       davor geschätzte acht Regale, die strahlenförmig und dabei immer niedriger
       werdend ins Zentrum des Bildes, auf ein einfaches Einfamilienhaus zulaufen.
       Das schaut beeindruckend aus, sehr artifiziell, geometrisch kalkuliert,
       bezwingend in der Präzision der Ausführung. Aber richtig aufregend, sodass
       man die Inszenierung glatt vergisst, wird die Sache vom Standort des Kindes
       aus.
       
       ## Die Sichtweise des Fotografen
       
       Die Frage des Bildausschnitts erledigt sich beim „Schlafsaal“ von selbst.
       Hier schaut man aus der Vogelperspektive, der Planer- und
       Kontrollperspektive, also gottgleich von oben auf das Modell eines
       Schlafsaals (der, wie immer bei Honert, ein konkretes Vorbild in dem des
       Internats in Ostwestfalen hat, das er einst besuchte). Es könnte auch die
       Sichtweise des Fotografen in der Dunkelkammer sein, die wir hier einnehmen,
       wie er gerade auf das entwickelte Negativ im Chemiebad schaut.
       
       Freilich ist das Negativ dreidimensional, sind die fünf abgezogenen Betten
       mit ihren dreiteiligen Matratzen, die fünf Stühle und drei Schränke, Boden
       und Wände aus durchscheinendem Polyurethan so bemalt und so beleuchtet,
       dass das eigentlich Helle dunkel und das Dunkle hell erscheint.
       
       Nun ist das Negativ ja nicht das Bild, das bleibt; das gedruckt und
       veröffentlicht wird. Es ist nur Grundlage dieses Bildes. Und so wie das
       Negativ beim Abzug bearbeitet, wie es abgewedelt wird, um hier eine Stelle
       aufzuhellen und da eine abzudunkeln, wie der Ausschnitt verändert wird, so
       bearbeitet und filtert auch der psychische Apparat unsere Erinnerung, das
       wissen wir spätestens seit Freud.
       
       Deshalb ist beim „Schlafsaal“ Honerts paradoxes Bestreben um höchstmögliche
       Präzision so stimmig. Die Präzision findet er im leeren Schlafsaal, zu
       Schulbeginn, bevor die Zimmergenossen und die Anekdoten kommen, das
       trügerische Moment der Erinnerung.
       
       Trügerisch ist dann das übermannshohe Schwarzweißplakat, auf das man im
       letzten Raum zuzugehen scheint. Denn die sechs kriegsversehrten Männer in
       Badehosen und -kappen auf einer Tribüne, die darauf zu sehen sind,
       entpuppen sich im Näherkommen als dreidimensionale Figuren. Tritt man ein
       paar Schritte zurück, steht man wieder vor dem Plakat.
       
       ## Das Bild der beschädigten Schwimmer
       
       Die Wahrnehmungsirritation verdankt sich nicht zuletzt der sorgfältigen
       Bemalung der Polyurethankörper, die das Druckraster nachahmen. Dadurch
       wirkt „VSG“, wie Martin Honert seine Versehrtensportgruppe nennt, wie eine
       fantastische 3-D-Version von Gerhard Richters „Onkel Rudi“, zumal das Bild
       der beschädigten Schwimmer deutlich aus der Kindheit des Künstlers stammt,
       aufgenommen vielleicht zur Zeit seiner Geburt in den frühen 1950er Jahren,
       wie Brillengestelle, Badehose, Haarschnitt und Habitus der Männer zeigen.
       
       Plakate werben. Bessere Werbung für die Kindheit und die Kunst, wie sie in
       Berliner Galerien nun ein Wochenende lang in Überfülle zu sehen sein wird,
       als „VSG“ ist kaum denkbar.
       
       29 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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