# taz.de -- Essay Willkommenskultur in Deutschland: Das Glas ist halb voll
       
       > Die Flüchtlingszahlen steigen. Die hässlichen Deutschen der 90er sind
       > nicht zurückgekehrt. Das ist das Ergebnis eines jahrelangen
       > Reifeprozesses.
       
 (IMG) Bild: Helfer am Berliner LaGeSo verteilen Äpfel an Geflüchtete.
       
       Als im August im sächsischen Heidenau Neonazis randalierten und andernorts
       Flüchtlingswohnheime brannten, schien vielen klar: Das ist die Wiederkehr
       des hässlichen Deutschen. Zu sehr glichen die Bilder den Pogromen von
       Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992).
       
       Nur wenige Wochen später ist alles anders. An Stelle eines heißen Sommer
       völkischer Gewalt erlebt die Republik einen Sommer der Solidarität. Statt
       Angst vor Überfremdung herrscht Mitgefühl. Während die Regierungen Polens,
       Großbritanniens, Tschechiens und anderer europäischer Staaten Flüchtlinge
       aus Syrien mit der Parole „No Moslems, please!“ die kalte Schulter zeigen,
       heißen Zehntausende von freiwilligen Helfern die Schutzsuchenden in Berlin,
       München, Dresden, Hamburg, und andernorts willkommen.
       
       Internationale Medien sind irritiert ob der Bilder und Nachrichten aus dem
       ihnen stets ein wenig suspekten Land. Was Deutschland in diesen Wochen
       erlebt, ist allerdings kein Sommermärchen. Es ist das Ergebnis eines 25
       Jahre langen gesellschaftlichen Reifungsprozesses.
       
       Seit Jahren ist zu spüren, dass sich in den Niederungen der Republik etwas
       bewegt – in den Dörfern und Städten. An Hunderten von Schulen engagieren
       sich seit Jahren Tausende Kinder und Jugendliche für die ankommenden
       Flüchtlingsfamilien. Sie geben den Kindern in Peer-to-Peer-Gruppen
       Deutschunterricht, verbringen mit ihnen ihre Freizeit, backen mit ihnen
       gemeinsam Kuchen, organisieren Ausflüge und Spendensammlungen. Es ist eine
       soziale Bewegung der kleinteiligen und engmaschigen Flüchtlingshilfe
       entstanden, auf deren Fundament sich die spektakulären Ereignisse dieses
       Sommers abspielen.
       
       ## Früher nicht vorstellbar
       
       Vor 25 Jahren war dieses Deutschland nicht vorstellbar. Zur Erinnerung:
       Anfang der 90er Jahre war das frisch geeinte, neue Deutschland ein zutiefst
       verunsichertes Land. Im Osten waren die alten staatlichen Strukturen und
       Gewissheiten abgeräumt, neue noch längst nicht etabliert. Und auch im
       Westen wussten die Menschen nicht so recht, auf welche gemeinsamen Werte
       sich das geeinte Deutschland jenseits des Konsums denn nun einigen sollte.
       
       Als Bindekitt der gebrochenen und verstörten Identitäten bot sich ihnen
       zunächst nicht viel mehr an, als ein auf die Frage des Blutes reduziertes
       „Deutschsein“. Hartnäckig hielten die (Alt-)Deutschen an einem völkischen
       Selbstverständnis und einem auf das Blut (ius sanguinis) basierendes
       Staatsangehörigkeitsrecht fest. Die Mehrheit der Bürger vertrat gemeinsam
       mit ihrem Kanzler Helmut Kohl die Lebenslüge: Deutschland ist kein
       Einwanderungsland.
       
       Mitten in dieser auch schon 1990 reichlich schizophrenen Situation geriet
       Europa in Bewegung wie seit 1945 nicht mehr. Zwischen 1990 und 1992
       stellten 900.000 Menschen einen Antrag auf Asyl in Deutschland. Dazu kamen
       weitere 850.000 sogenannte Aussiedler aus der Sowjetunion, Polen und
       Rumänien. Also Nachkommen deutscher Auswanderer aus früheren Jahrhunderten.
       Zum Vergleich: Zwischen 2013 und Juli 2015 haben 550.000 Menschen einen
       Antrag auf Asyl gestellt. Bis Ende des Jahres sollen noch einmal bis zu
       500.000 Flüchtlinge hinzukommen. Aussiedler spielen heute keine Rolle mehr.
       
       ## Jahre des Hasses
       
       Wie sich die Dinge weiterentwickelt haben, ist bekannt. Deutschland erlebte
       Jahre des Hasses. Teile der Presse hetzten gegen „Asylanten“, wie sie die
       Schutzsuchenden abwertend bezeichnete. Und Teile der Politik schürten die
       Ressentiments der Verwirrten, Orientierungslosen und Wendeverlierer.
       
       Verbunden mit den implodierten Sicherheitsapparaten im Osten und einer
       keineswegs sattelfesten demokratischen und antirassistischen Polizei im
       Westen, vermengte sich dies alles zu einem brandgefährlichen Amalgam. Von
       der xenophoben Rhetorik ermuntert, schlossen sich Tausende entwurzelte und
       verrohte Jugendliche in völkischen Banden zusammen, umworben von straff
       organisierten, neonazistischen Kaderorganisationen.
       
       Bis heute ist nicht abschließend geklärt, wie eng Sicherheitsbehörden und
       Verfassungsschutzämter mancherorts mit der Neonaziszene kooperierten, wo
       sie diese ermunterten, wo sie, wie in Rostock-Lichtenhagen, wegschauten
       oder einfach nur gewähren ließen. Nur eines ist bekannt: Täglich kam es zu
       rassistischen Attacken auf Flüchtlinge, zu Überfällen auf Andersaussehende
       und auf Punks. Weit über 100 Menschen starben damals in Folge
       rechtsextremer Gewalt.
       
       Dieses Deutschland gibt es nicht mehr. Auch wenn sich manche hässlichen
       Bilder gleichen mögen, die Republik ist reifer, besser und auch
       liebenswerter geworden.
       
       ## Nicht verschwunden
       
       Selbstverständlich sind die hässlichen Deutschen nicht verschwunden: die
       Neonazis, Rassisten und Rechtspopulisten. Auch bleiben sie gefährlich.
       Manche von ihnen werden weiterhin morden, andere mit Worten das
       gesellschaftliche Klima vergiften. Aber sie verlieren an Bedeutung, wie
       neueste Umfragen belegen. Dieses Milieu hat die Hoheit über die Stammtische
       und die Sentiments der Republik verloren.
       
       Die alten Schlachten um Migration sind geschlagen. Und die erregten
       Islamdebatten der letzten Dekade entpuppen sich als lärmende
       Rückzugsgefechte. Im Tiefsten ihres Herzens hat die Mehrheit der Deutschen
       weder ein grundlegendes Problem mit dem Islam noch mit den Muslimen. Wäre
       es anders, sähen die Debatten derzeit anders aus – so wie in Polen, der
       Slowakei oder auch Ungarn. Syrische Flüchtlinge sind willkommen, keiner
       macht ihre ethnische oder religiöse Zugehörigkeit zu einem Thema. Das ist
       erfreulich.
       
       25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland zu sich selbst gekommen
       und nimmt Schritt für Schritt seine Identität als Einwanderungsland an.
       Migration wird nicht mehr als Problem und Schwäche empfunden, sondern als
       etwas, das mit zur Stärke des Landes beiträgt. Das ist nur folgerichtig,
       denn Deutschland wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten wie kein anderes
       europäisches Land durch Migration geprägt.
       
       Zwanzig Prozent der Bevölkerung, also 16 Millionen Menschen, haben bereits
       einen Migrationshintergrund, sprich diese Person selbst oder ein Elternteil
       wurde im Ausland geboren. Und von den restlichen 80 Prozent der Deutschen
       haben sehr viele in ihren Familien eine Flucht- oder Aussiedlergeschichte:
       Sie stammen also von den 12 Millionen Flüchtlingen ab, die sich zwischen
       1945 und 1950 in der DDR oder der Bundesrepublik niedergelassen haben.
       
       ## Neue Erzählungen
       
       Inzwischen haben die Bürger begriffen und gelernt: Die Aufnahme von
       Arbeitsmigranten und Flüchtlingen, egal ob Muslim, Christ oder Atheist, hat
       dem Land in den zurückliegenden Jahrzehnten ganz offensichtlich
       wirtschaftlich und demografisch gut getan. Trotz all der Probleme, die
       Migrations- und Akkulturationsprozesse mit sich bringen und über die sich
       so trefflich streiten lässt. Nur noch wenige bedauern die Metamorphose des
       alten, völkischen Deutschland in eine offene, kosmopolitische Republik.
       
       Und noch etwas wird in diesen Tagen sichtbar. Als Reaktion auf die
       bedrückenden Ereignisse der frühen neunziger Jahre hat sich eine
       vielfältige und aktive Zivilgesellschaft entwickelt. In den zurückliegenden
       25 Jahren ist ein Netzwerk von Organisationen und Menschen entstanden, das
       schnell und entschieden auf neonazistische Aktivitäten und offenen
       Rassismus reagiert. Bündnisse zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft
       zur Demokratieentwicklung wurden geschlossen.
       
       Dieser Sommer eröffnet die Möglichkeit für neue Erzählungen im Land. Diese
       hier lautet: Das Glas ist halb voll. Noch eine kleine Warnung zum Schluss:
       Die Zivilisierung Deutschlands seit 1990 ist leider nicht in allen Ecken
       und Winkeln des Landes gleichermaßen gelungen. Die eine oder andere
       Herausforderung bleibt. Zum Beispiel die des Rechtsterrorismus. Diese
       Gefahr ist nicht gebannt.
       
       Je offener die Gesellschaft, je solidarischer der öffentliche Diskurs,
       desto höher die Wahrscheinlichkeiten von Anschlägen und Übergriffen aus dem
       Hinterhalt. Dies umso mehr, als die WählerInnen in Deutschland sich
       erfreulich resistent gegenüber Parteien wie der NPD und Zusammenschlüssen
       wie der Pegida-Bewegung oder Parteien wie die AfD zeigen.
       
       Anders als in der Schweiz, Frankreich, Ungarn, Dänemark, den Niederlanden,
       Österreich, Schweden oder Finnland kann sich in Deutschland keine Partei in
       der Mitte der Gesellschaft etablieren, die auf Flüchtlingshetze, Rassismus,
       Antisemitismus und Islamfeindlichkeit setzt. Das ist ohne Frage gut – aber
       nicht nur. Denn das Ressentiment lebt und braucht ein Ventil, um Druck
       abzulassen, bevor es sich zur Gewalt verdichtet.
       
       13 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eberhard Seidel
       
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