# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Die palästinensische Harmonie-Revolte
       
       > In Ramallah und Gaza ist der "arabische Frühling" spät gekommen – mit
       > besonderen Forderungen: Junge Palästinenser wollen von ihren Politikern
       > weniger Streit.
       
 (IMG) Bild: Sollte der Frieden in Gaza nicht kommen, legen sich diese Kinder wohl bald ein Facebookprofil zu.
       
       Jahrzehntelang waren die Palästinenser für die gesamte arabische
       Öffentlichkeit ein bewundertes Vorbild, sowohl wegen ihrer Standhaftigkeit
       angesichts der israelischen Okkupation als auch wegen ihrer Bereitschaft
       zum aktiven Widerstand, der sich bereits zweimal in einer längeren
       Rebellion gegen die israelische Unterdrückung geäußert hat.
       
       Es waren die Palästinenser, die den Rest der arabischen Welt mit dem Wort
       "Intifada" vertraut gemacht haben. Als die tunesischen Demonstranten ihren
       Diktator Ben Ali verjagten und die ägyptischen Massen die Schläger der
       Mubarak-Polizei überwältigten, ließen sich in beiden Ländern zweifellos
       viele Menschen von den Palästinensern inspirieren.
       
       Umso paradoxer ist es, dass die Palästinenser während der letzten Monate,
       in denen die arabische Welt einen politischen Aufbruch erlebte, weitgehend
       unsichtbar blieben. Sie standen nicht etwa an der Spitze der Unruhen,
       sondern mussten zusehen, wie ihr eigener politischer Kampf in Vergessenheit
       geriet.
       
       Doch jetzt regt sich der "arabische Frühling" mit einiger Verspätung auch
       im geteilten Territorium Palästinas, im Westjordanland und im Gazastreifen.
       Am 4. Mai unterzeichneten die Führungen der Fatah und der Hamas ein
       Versöhnungsabkommen – und zwar in Kairo, dem Ort der machtvollsten
       arabischen Volkserhebung. Wenn alles nach Plan läuft, werden sie eine
       Regierung der nationalen Einheit bilden, bis im nächsten Jahr allgemeine
       Wahlen stattfinden können. Die praktischen Details der Vereinbarung sind
       noch unklar. Das gilt vor allem für die Frage, wie die zwei Fraktionen, die
       beide eigene bewaffnete Milizen unterhalten, sich die sicherheitspolitische
       Kooperation zwischen dem Fatah-kontrollierten Westjordanland und dem von
       der Hamas regierten Gazastreifen vorstellen.
       
       Israel ist entschieden gegen das Abkommen. Am Tag der Unterschrift in Kairo
       sprach Ministerpräsident Netanjahu von einem "großen Sieg für den
       Terrorismus". Und die US-Regierung begrüßte die Versöhnung nur kühl. Beide
       Regierungen befürchten, das Abkommen könnte das Ende der seit vier Jahren
       betriebenen Blockadepolitik gegenüber dem Gazastreifen einläuten, mit der
       die Hamas in Schach gehalten und geschwächt werden sollte.
       
       ## 
       
       Die Ägypter, die zwischen Fatah und Hamas vermittelten, hatten zuvor
       bereits ihre Bereitschaft erklärt, ihre Grenze zum Gazastreifen wieder zu
       öffnen. Das aber würde die Blockade der Israelis unwirksam machen. Zudem
       herrscht in Jerusalem und Washington die Befürchtung, eine geeinte
       politische Führung werde die Position der Palästinenser stärken, sollten
       sie im September bei der UN-Vollversammlung versuchen, die offizielle
       Anerkennung eines palästinensischen Staates durchzusetzen, wie es Mahmud
       Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), bereits
       angekündigt hat.
       
       Die Versöhnung zwischen Abbas’ säkularer Fatah-Partei und der
       islamistischen Hamas scheint das erste Resultat einer Social-Media-Kampagne
       palästinensischer Jugendgruppen zu sein, die ganz bewusst nach dem Vorbild
       der Revolten in Tunesien und Ägypten aufgezogen wurde. In den arabischen
       Ländern machten die Jugendlichen aus Facebook und Twitter wichtige
       Instrument, um die Repression der Regime zu unterlaufen und oppositionelle
       Kundgebungen zu organisieren, die zuvor undenkbar waren. Auch in Palästina
       hat man begonnen, sich die neuen Medien nutzbar zu machen, ohne dass es
       bislang zu ähnlichen Massendemonstrationen gekommen wäre.
       
       Das erklärt sich zum Teil daraus, dass die Palästinenser schlicht erschöpft
       sind. Und zutiefst entmutigt angesichts der Tatsache, dass Israel, trotz
       der jahrzehntelangen Kämpfe gegen die Besatzung, seine Präsenz in den
       palästinensischen Gebieten immer weiter gefestigt hat. Selbst während der
       langen zweiten Intifada hat Israel seine Siedlungen im Westjordanland
       erfolgreich ausgebaut und begonnen, auch auf palästinensische Hochburgen in
       Ostjerusalem wie Scheich Dscharrah und Silwan überzugreifen, die in der
       Nähe der Altstadt und der heiligen Stätten liegen.
       
       Ein Großteil der jüngsten Siedlungsaktivitäten – inzwischen wohnt eine
       halbe Million jüdischer Israelis auf besetztem palästinensischen Land –
       vollzog sich in einer Periode, in der die USA offiziell behaupteten, die
       Sache der Palästinenser zu unterstützen. Deshalb haben die Palästinenser in
       den letzten beiden Jahren erkannt, dass selbst das Weiße Haus den Israelis
       nicht einmal ein kleines Zugeständnis wie das Einfrieren des Siedlungsbaus
       abringen kann, um den Friedensprozess am Leben zu halten.
       
       ## Verzierte Schekel-Scheine
       
       Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Grund für die Zurückhaltung der
       palästinensischen Massen: Man weiß nicht, wo der Kampf für die Befreiung
       beginnen soll. Khaled Abu Toameh, ein palästinensischer Journalist, der in
       der rechtsgerichteten israelischen Tageszeitung Jerusalem Post schreibt,
       erklärt das Problem wie folgt: "Falls und wenn die Palästinenser zu
       revoltieren beginnen, werden sie in alle Richtungen feuern: gegen Fatah und
       Hamas, gegen Israel, gegen die UN, die USA und andere westliche Mächte
       sowie gegen die arabischen Regime, denen sie vorhalten, dass sie die
       Palästinenser in all den Jahren alleingelassen haben."
       
       Diese Verwirrung kommt auch in den unterschiedlichen Kampagnen zum
       Ausdruck, die idealistische junge Palästinenser in den sozialen Medien
       lanciert haben. Auf einer Facebook-Seite schlägt etwa ein junger Mann vor,
       Parolen gegen die Besatzung auf Geldscheine zu schreiben, zum Beispiel:
       "Befreit Palästina". Die Schekel-Scheine sind ein Symbol der Besatzung und
       der ökonomischen Abhängigkeit, weil Israel damit den Handel und den
       Geldumlauf der Palästinenser kontrolliert.
       
       Der Initiator dieser Facebook-Kampagne, Salah Barghouti aus Ramallah,
       hofft, dass die so verzierten Schekel-Scheine sich auch in Israel
       verbreiten: "Unser Ziel ist, dass diese Banknoten bei israelischen
       Politikern und sogar bei Regierungschef Netanjahu ankommen, sodass auch sie
       die Botschaft lesen." Weniger realistisch ist seine Hoffnung, dass eine
       Antibesatzungsparole auf einem 100-Schekel-Schein die Einstellung
       Netanjahus – oder der Israelis insgesamt – tiefgreifend verändern könnte.
       
       Auf einer anderen Facebook-Seite wurde für den 15. Mai – dem 63. Jahrestag
       der Gründung Israels 1948 – zu einer dritten Intifada aufgerufen. Die Seite
       wurde zwar von Facebook gesperrt, fand aber hunderte Nachahmer. Ihr Inhalt
       verdeutlicht allerdings die gravierenden Probleme bei solchen Bemühungen,
       eine Revolte über die neuen Medien zu organisieren.
       
       So lassen viele der Kommentare und Debatten auf dieser Webseite erkennen,
       dass deren Anhänger – wenn nicht ihre Begründer – nicht in den besetzten
       Gebieten leben. Viele wollten wissen, wie die Millionen junger
       Palästinenser im Libanon, in Jordanien oder in Syrien ihre Forderung nach
       einem freien Palästina zum Ausdruck bringen können. Ihnen wurde
       vorgeschlagen, an den Grenzen zu Israel zu protestieren. Aber damit würden
       sie nicht israelischen Soldaten, sondern den jordanischen, syrischen und
       libanesischen Sicherheitskräften gegenüber stehen.
       
       Die bislang erfolgreichste und spektakulärste Kampagne wurde von einer
       Gruppe gestartet, die sich als "Bewegung des 15. März" bezeichnet, in
       bewusster Anlehnung an die "Bewegung des 25. Januar" in Ägypten. Sie umgeht
       das schwierige Thema der "Befreiung", indem sie zur Versöhnung innerhalb
       der tief gespaltenen palästinensischen Nationalbewegung aufruft, also
       zwischen der Fatah-Führung im Westjordanland und der Hamas, die im
       Gazastreifen regiert.
       
       Die Parole dieser Bewegung lautet: "Die Menschen wollen ein Ende der
       Spaltung." Sie geht also realistischerweise davon aus, dass ohne politische
       Einheit eine erfolgreiche dritte Intifada gar nicht denkbar ist. Aber sie
       hatte auch andere Gründe, ihre Kampagne auf dieses Ziel auszurichten. Einer
       davon ist die schlechte wirtschaftliche Situation in den besetzten
       Gebieten: Die protestierenden Palästinenser haben dasselbe soziale Profil
       wie ihre Altersgenossen in Ägypten. Die meisten haben einen akademischen
       Abschluss, etliche auch von Universitäten im Ausland, finden aber
       angesichts der stagnierenden Wirtschaft im Westjordanland und im
       Gazastreifen keine Arbeit. Zu dieser Situation hat, wie sie glauben, auch
       die Spaltung zwischen Fatah und Hamas beigetragen, weil die beiden
       rivalisierenden Fraktionen ihre Anhänger gezielt mit Jobs versorgen. Bei
       dieser Vetternwirtschaft kommen junge Leute ohne Parteibindung natürlich zu
       kurz.
       
       Hinzu kommt, dass die palästinensische Führung, anders als die Regime der
       meisten arabischen Staaten, über eine gewisse demokratische Legitimität
       verfügt. Sowohl die Hamas-Regierung in Gaza als auch Präsident Abbas in
       Ramallah sind aus freien und korrekten Wahlen hervorgegangen. Aber die
       überfälligen Neuwahlen konnten bislang nicht stattfinden, weil zwischen
       beiden politischen Lagern quasi ein Kriegszustand herrschte. Die Versöhnung
       ist also eine Voraussetzung für die Abhaltung von Wahlen und ein größeres
       Maß an Verantwortung der politischen Mandatsträger gegenüber der
       Bevölkerung.
       
       ## 
       
       Die Demonstrationen für die "politische Einheit" fanden im Lauf des März in
       allen Städten des Westjordanlands und in Gaza-Stadt statt. Die Teilnehmer
       waren aufgefordert, nur die palästinensische Flagge und keine Parteifahnen
       mitzubringen. Doch die Beteiligung war (jedenfalls verglichen mit Kairo)
       eher enttäuschend: in Ramallah, Nablus, Hebron und Bethlehem kamen jeweils
       nur ein paar tausend Menschen, in Gaza waren es immerhin etwa 15.000. Aber
       selbst diese bescheidenen Zahlen sind irreführend. Insbesondere die
       Kundgebung in Gaza wurde von Parteigängern der Hamas quasi gekidnappt. Und
       sobald die Kamerateams und die meisten Leute nach Hause gegangen waren,
       wurde der harte Kern der Demonstranten von den Sicherheitskräften bedrängt,
       verprügelt und sogar verhaftet. Beide politischen Fraktionen, die Fatah wie
       die Hamas, wollten den Protest lediglich für ein, zwei Stunden zulassen.
       
       Das eigentlich Bedeutsame an der Forderung nach Einheit ist, dass die
       Demonstranten damit das Ziel der Befreiung – ob nun von israelischen
       Besatzung oder der Repression durch ihre eigenen Führungen – in den
       Hintergrund rückten. Statt sich gegen repressiven Regime aufzulehnen, wie
       in Tunesien und Ägypten geschehen, forderte die Bewegung des 15. März ihre
       eigenen Führungen zu einer engeren Zusammenarbeit auf. Damit sprach sie ein
       Problem an, mit dem sich die palästinensische Nationalbewegung seit den
       bewaffneten Auseinandersetzungen der beiden Fraktionen im Gazastreifen 2007
       herumschlägt. Seither schienen sich Fatah wie Hamas darauf zu beschränken,
       ihre eigenen Herrschaftsbereiche zu verwalten, während Israel und die USA
       bemüht waren, die Spaltung in zwei Palästinas noch zu vertiefen.
       
       Dieser Zustand war in letzter Zeit für beide Fraktionen immer unhaltbarer
       geworden. Die Demonstrationen vom 15. März spiegelten deshalb, obwohl sie
       keine großen Massen mobilisierten, eine weit verbreitete Unzufriedenheit
       der Palästinenser über die Orientierungslosigkeit ihrer Führung. Hamas wie
       Fatah befürchteten eine Eskalation der Proteste, und das Abkommen von Kairo
       entspringt offenbar dem Kalkül beider Lager, dass eine Versöhnung für sie
       die beste Chance darstellt, sich an der Macht zu halten.
       
       ## Nach dem Sturz Mubaraks
       
       Vor allem Abbas hat allen Grund, eine neue Einheit anzustreben. Vor der
       Absetzung von Mubarak hatte der Präsident der Autonomiebehörde jede
       Demonstration von Solidarität mit dem ägyptischen Aufstand brutal
       unterdrücken lassen. Mubarak war sein wichtigster Verbündeter in der
       arabischen Welt und zugleich sein einziges Bollwerk gegen Israel. Die
       anderen arabischen Führer sind mit ihren eigenen Problemen mehr als
       ausgelastet. Viele von ihnen sind nicht einmal sicher, ob ihr Regime die
       kommenden Monate überleben wird. Abbas ist folglich auf sich allein
       gestellt.
       
       Der Kampf seiner PA steht völlig im Schatten der "arabischen Revolution".
       Zudem ist seine eigene Glaubwürdigkeit auf null gesunken, seit al-Dschasira
       die sogenannten Palästina-Papiere veröffentlich hat, aus denen hervorgeht,
       dass seine Unterhändler in den geheimen Friedensverhandlungen mit Israel in
       den meisten Punkten kampflos nachgegeben haben. Der einzige Ausweg aus
       dieser misslichen Lage besteht darin, eine Internationalisierung des
       Palästina-Konflikts anzustreben. Genau das versucht Abbas, indem er im
       September bei der UN-Vollversammlung die Anerkennung eines
       Palästinenserstaats anstrebt. Aber auch eine solche Anerkennung bliebe ein
       rein symbolischer Akt, wenn Abbas nicht die internationale Unterstützung
       als legitimer Präsident der PA genießt, der sein Volk auf demokratische
       Weise repräsentiert.
       
       Sobald Mubarak gestürzt war, hat Abbas bezeichnenderweise die Taktik
       gewechselt und Neuwahlen gefordert. Und nach den Demonstrationen vom 15.
       März machte er das Angebot, nach Gaza zu fahren und mit der Hamas-Führung
       über die politische Einheit zu sprechen. Sein Ministerpräsident Salam
       Fayyad, ein Technokrat, der großen Rückhalt im Weißen Haus, aber nicht bei
       den palästinensischen Wählern genießt, versprach die Bildung einer neuen,
       politisch breiteren Regierung. Um sein Kabinett "repräsentativer" zu
       machen, kündigte er einen Dialog mit der palästinensische Jugend an –
       natürlich über Facebook. Derzeit ist aber völlig offen, ob Fayyad in einer
       Interimsregierung nach der Versöhnung noch Ministerpräsident bleiben kann.
       
       Die Hamas schätzt die Lage zwar anders ein, drängte jedoch ebenfalls – wenn
       auch weniger begeistert – auf eine Aussöhnung. Ihr offizielles Programm des
       bewaffneten Widerstands erscheint den Palästinenser derzeit weniger
       attraktiv. Zum einen, weil es so aussieht, als könnte Abbas den Israelis
       vor den UN – also auf diplomatischer Ebene – eine Niederlage bereiten; zum
       anderen, weil die Tunesier und Ägypter demonstriert haben, dass ein
       gewaltloser Aufstand erfolgreich sein kann.
       
       ## 
       
       Im Übrigen ist die Hamas, genau wie Abbas, in der arabischen Welt zunehmend
       isoliert. Ihre Exilführung, die mit Chaled Meschal in Damaskus sitzt, muss
       befürchten, dass sie demnächst die Protektion des syrischen Präsidenten
       Baschar al-Assad verliert, dessen Regime durch eine massenhafte Rebellion
       erschüttert wird. Und Ägypten, das gerade dabei ist, seine Führungsrolle in
       der arabischen Welt wiederzuerlangen, spielt den Paten und Gönner sowohl
       der Hamas als auch der Fatah.
       
       Was der Hamas zugutekommt, ist die Tatsache, dass die neue Regierung in
       Kairo dem Druck der öffentlichen Meinung in Ägypten stärker ausgesetzt ist.
       Sie muss zwangsläufig größere Sympathien mit dem antiisraelischen
       Widerstand der Hamas zeigen als auch die humanitären Nöten der Bevölkerung
       in Gaza stärker berücksichtigen. Das zeigte sich bereits in der Ankündigung
       des ägyptischen Außenministers Nabil al-Arabi, dass man den Grenzübergang
       zum Gazastreifen in Rafah öffnen werde – womit die von Israel und den USA
       praktizierte Blockadepolitik am Ende wäre. Die Hamas erhofft sich von
       diesem Beschluss eine Stärkung ihrer Herrschaft in Gaza und neue Waffen, um
       künftigen Angriffen Israels besser begegnen zu können.
       
       Wie brüchig die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas ist, zeigte sich jedoch
       bereits während der Unterzeichnung des Abkommens in Kairo: Die Zeremonie
       begann mit Verspätung, weil der Hamas-Führer Meschal darauf bestand, neben
       Abbas auf dem Podium zu sitzen und nicht unter den anderen
       palästinensischen Delegierten im Parkett.
       
       Netanjahu hat bereits angedeutet, dass er eine neue palästinensische
       Interimsregierung als Rechtfertigung benutzen will, um sich Verhandlungen
       weiterhin zu verweigern. Israel dürfte zudem versuchen, die neue
       palästinensische Einheit durch verschiedene Maßnahmen zu torpedieren. So
       hat Netanjahus Finanzminister Juval Steinitz bereits verkündet, man habe
       die Überweisung von Steuergeldern an die PA gestoppt. Zudem könnte Israel
       bei den USA und den EU-Staaten darauf dringen, die Hilfsgelder für die PA
       einzufrieren. Darüber hinaus könnte man die Zusammenarbeit mit der PA in
       Sicherheitsfragen einstellen oder sogar die gezielte Tötung von
       Hamas-Politikern wieder aufnehmen.
       
       Für den Fall, dass eine große Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten im kommenden
       September einen Palästinenserstaat innerhalb der Grenzen von 1967
       anerkennen sollte, würde Israel alles tun, um diesen Erfolg substanziell
       auszuhöhlen. Als Vergeltungsmaßnahme wurde bereits angedroht, weitere
       Siedlungen in den besetzten Gebieten zu bauen oder gar die größten
       Siedlungsblöcke offiziell zu annektieren. Unklar bleibt auch, wie die
       Palästinenser einen vereinigten Staat schaffen wollen, wenn die israelische
       Seite keinen freien Verkehr zwischen dem Westjordanland und Gaza zulässt.
       
       Sollte die palästinensische Einheit nicht von Dauer sein oder sollten sich
       die Hoffnungen auf einen funktionsfähigen Staat nach dem September 2011
       nicht erfüllen, könnten die Palästinenser zu dem Schluss kommen, dass die
       Zeit reif sei für eine neue Revolte von unten und dass sich diese gegen den
       wahren Urheber ihres Elends, nämlich Israel, richtet.
       
       Doch auf dieses Szenario ist Israel vorbereitet. Nach israelischen
       Medienberichten herrscht in der Armeeführung große Sorge, dass die
       palästinensische Facebook-Generation eine neue Bürgerrechtsbewegung ins
       Leben rufen könnte – und zwar eine gewaltlose. Das Modell gibt es bereits:
       mit der ersten Intifada, die zur Bildung der Autonomiebehörde führte, und
       mit den über viele Jahre gehenden Protestaktionen im Westjordanland, bei
       denen sich Dorfbewohner gegen den Landraub durch den Bau der israelischen
       Trennmauer gewehrt haben. Bislang hat jedes Dorf den Kampf um seine Felder
       und Olivenhaine allein geführt. Aber wenn die in den Städten entstandene
       Bewegung des 15. März ihren Kampf mit den Dorfbewohnern koordinieren
       sollte, könnte daraus ein machtvoller Widerstand entstehen.
       
       Die israelische Armee hat als Vorbereitung auf ein solches Szenario bereits
       schnelle Eingreiftrupps gebildet, die an strategischen Punkten des
       Westjordanlands stationiert sind und Massenproteste im Keim ersticken
       sollen. Ihr größte Sorge ist, dass palästinensische Demonstranten auf die
       Siedlungen, die Grenzkontrollstationen und die Trennmauer marschieren
       könnten. Offiziere der israelischen Armee haben bereits angekündigt, dass
       sie in einem solchen Fall das Feuer eröffnen werden.
       
       Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
       
       29 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
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