# taz.de -- Längste Haftstrafe seit Bestehen der BRD: Fuffzig voll
       
       > Hans-Georg Neumann hat zwei Menschen ermordet. Seit einem halben
       > Jahrhundert lebt er nun im Gefängnis. Was macht das mit ihm? Und warum
       > kommt er nicht mehr raus?
       
 (IMG) Bild: Hans-Georg Neumann wartet seit 50 Jahren im Knast darauf, ein besserer Mensch zu werden.
       
       BRUCHSAL taz | Neumann nutzt jede Gelegenheit in der Anstalt, um an die
       frische Luft zu kommen. Bei schönem Wetter zieht er Schuhe und Strümpfe
       aus. Dann geht er barfuß. Vor langer Zeit fing seine Hüfte an zu schmerzen.
       Weitere Jahre vergingen, bis Neumann merkte, woher dieses Stechen rührte.
       Es kam von den vielen Jahren, die er im Kreis gegangen war. Seitdem läuft
       er im Gefängnishof eine Acht.
       
       Hans-Georg Neumann, gelernter Feinblechner, geboren am 14. September 1936,
       wird durch die Staatsanwaltschaft Berlin I am 20. Januar 1962 in das
       Untersuchungsgefängnis Moabit eingewiesen. Sein Fall bekommt die
       Geschäftsnummer 25 VRs 1 Kap Ks 4/63.
       
       Über Neumann urteilt am 30. Mai 1963 der Richter Heinz Brandt, früher
       NSDAP-Mitglied, Abteilungsleiter in der Reichsgruppe Junge Rechtswahrer,
       ein Mann der Diktatur. Er bestimmt: „Der Angeklagte wird wegen
       Autostraßenraubes und wegen zweifachen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus
       verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden ihm auf Lebenszeit
       aberkannt.“ In Neumanns Strafakte steht: „Ablauf der Mindestverb. Dauer,
       Ende: 07. 06. 1984, 23:59“.
       
       Am Freitag, den 3. Februar 2012, hat Neumann seine Mindestverbüßdauer um
       fast 28 Jahre überschritten und gerade sein Mittagessen beendet. Fisch. Er
       sitzt auf einem Plastikstuhl an einem Holztisch im Besucherzimmer der
       Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Im Raum ist es kühl, Gardinen hängen vor
       den vergitterten Fenstern. Hinter den Zinnen draußen patrouillieren Beamte
       mit Maschinenpistolen. Neumann kaut Kaugummi, streckt die Füße aus und
       faltet seine Hände vor dem Bauch. Er wirkt, als sei er bester Dinge.
       
       ## Ein Gnadengesuch? Nie. Er ist stur wie ein Esel
       
       Seit dem 20. Januar 2012 hat Neumann die fuffzig voll. Fuffzig Jahre Bau.
       Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland hat keiner länger als Neumann
       gesessen. Mit seinem Rekord hat er einen Mann abgelöst, der auch in
       Bruchsal saß. Er hieß Heinrich Pommerenke, die „Bestie in Menschengestalt“,
       so hat ihn die Süddeutsche Zeitung einmal genannt. 2008 starb der
       Serienmörder nach 49 Jahren im Knast. Sie haben sich getroffen. Neumann
       sagt: „Ick loof noch mit der Jacke zum Hof, die er mir jeschenkt hat.“
       
       Mit 25 Jahren ist Neumann eingefahren. Jetzt ist er 75 Jahre alt. Hätte ihm
       das damals einer gesagt, Neuman hätte sich „weggehängt“. Doch die
       Jahrzehnte haben sich eingeschlichen in sein Leben. Der Knast ist sein
       Leben geworden. Lebenslänglich.
       
       Im Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977
       heißt es: „Zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs
       gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich
       eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Die
       Möglichkeit allein der Begnadigung ist nicht ausreichend.“
       
       Bei Neumann scheint sich der Staat eine Ausnahme zu gestatten. Hat er also
       keine Würde? Ist er kein Mensch?
       
       Jedenfalls ist er so stur wie ein Esel. Bis 1982 dauert es, bis er seinen
       ersten Antrag auf „Aussetzung der Vollstreckung der lebenslangen
       Freiheitsstrafe zur Bewährung“ stellt. Da sind schon 20 Jahre um. Aber
       Neumann hatte ganz am Anfang im Gefängnis, im Januar 1964, Ärger mit den
       Beamten. Er saß in einer Zelle, nahe einer Kreuzung. Ohrenbetäubend der
       Straßenlärm, fand er. Und weil er die Ruhe braucht, beschwerte er sich.
       Aber das scherte niemanden. Um seinem Wunsch klarer Ausdruck zu verleihen,
       fackelte er seine Seegrasmatratze ab und zerdepperte sein Klo.
       
       Im Qualm kniete er nieder – er macht das jetzt hier im Besucherraum vor –
       und atmete durch den Türspalt. Draußen hörte er, wie ein Beamter zum
       anderen sagte, er solle sich Zeit lassen, der Neumann werde schon von ganz
       alleine ruhig. Dann, sagt Neumann, hätten die Beamte das Feuer in der Zelle
       gelöscht, ihn nass gespritzt und bei minus 14 Grad über den Hof gejagt. Am
       nächsten Tag hätten sie ihn mit Gummiknüppeln vermöbelt. Neumann erzählt,
       dass er danach sechs Jahre seine Zelle nicht verlassen und mit keinem
       Beamten mehr gesprochen hat. Er schwor sich, nie ein Gnadengesuch zu
       stellen.
       
       Achtzehn Jahre später, 1982, stellt er den ersten Antrag auf Bewährung. Es
       kommt zwar zur mündlichen Anhörung, dann aber schaltet er wieder auf stur.
       Ein Vollzugshelfer hatte ihn unterstützen wollen. Er heißt Gerhard Bruch
       und begleitete Neumann. Doch der Richter ließ Bruch nicht zu Wort kommen.
       Die Anhörung ging schief. „Weil der Verurteilte in seiner Stellungnahme die
       Resozialisierungsbemühungen kurzerhand als ’Quatsch‘ bezeichnete, sich von
       seinem schriftlichen Antrag auf Strafaussetzung distanzierte und
       schließlich auf ausdrückliches Befragen erklärte, er stelle an das Gericht
       kein Gesuch.“ So schrieb es das Gericht am 14. Dezember 1982. Der
       Vollzugshelfer schickte eine Protestnote an das Landgericht Berlin und
       nannte das Verhalten des Richters einen „menschlich skandalösen Vorgang“.
       
       Neumann blieb drinnen.
       
       Er hat in seinem Leben nicht viele Anträge dieser Art gestellt. Im Juni
       2011 aber haben sie wieder einen abgelehnt. „Die Strafaussetzung zur
       Bewährung gemäß § 57 StGB wird weiterhin nicht befürwortet“, schreibt die
       Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Das Wort „nicht“ ist mit einem
       Kugelschreiber unterstrichen worden. Neumann hat das weggesteckt. So wie er
       mit den Jahren auch akzeptiert, dass es im Knast keine Freunde gibt. Eines
       aber stand für ihn immer fest: Mit einem will er es sich nicht verscherzen.
       Neumann sagt: „Ick verkehr noch mit meinem Doktor Gerhard Bruch.“
       
       Die beiden lernen sich im Jahr 1972 kennen. Gerhard Bruch ist Pfarrer,
       Religionslehrer und ehrenamtlicher Vollzugshelfer. Er hat Neumann damals
       alle drei Wochen im Knast in Berlin-Tegel besucht. Draußen der Pfarrer,
       drinnen der Neumann.
       
       Bruch wohnt mit seiner Frau im grünen Berlin-Zehlendorf. Schneeweiße Haare
       hat er und ein rosiges Gesicht, schmächtig ist er. Neumann, der 95 Kilo auf
       die Waage bringt, hatte ihm geschrieben, dass er so viel wiege wie Bruch
       und seine Frau zusammen, und das war keine Übertreibung. Als ihn der Riese
       einmal umarmte, damals in Tegel, da hatte Bruch Angst, zerquetscht zu
       werden.
       
       In seiner Altbauwohnung hat Bruch einen Teppich ausgelegt, den Neumann
       geknüpft hat. Auf einem Regal steht ein Foto, das Neumann zeigt.
       
       Seit 1991 schreiben sich die beiden nur noch. Neumann wurde in dem Jahr
       dauerhaft in die JVA Bruchsal verlegt. Bruch schickt Neumann jeden Monat
       einen Brief. Meistens entschuldigt er sich, weil er nicht exakt nach vier
       Wochen geantwortet hat. Und Neumanns erster Satz lautet mit wenigen
       Ausnahmen: „Lieber Herr Bruch ihren Brief habe ich dankend erhalten.“
       Neumann schreibt auf einer Schreibmaschine, in den ersten Jahren betippt er
       die Rückseite von Kalenderblättern. Die Postleitzahl wechselt von 7520 zu
       76646, beide Anschriften bleiben gleich. Gerhard Bruch und Neumann:
       unzertrennlich seit einem halben Leben, aber gesehen haben sich die beiden
       nie wieder seit der Verlegung.
       
       ## Er steckt zwei Revolver und ein Bowiemesser ein
       
       „Ein Besuch in Bruchsal – ich muss zugeben, dass ich das versäumt habe“,
       sagt Gerhard Bruch. Selbst als er in der Nähe war, ist er nicht zu Neumann
       gefahren. Er hat ein schlechtes Gewissen, obwohl er dem anderen seit
       Jahrzehnten die Treue hält. Gerhard Bruch ist ein Mensch, dem Anstand und
       Höflichkeit viel bedeuten.
       
       In den siebziger Jahren glaubt Bruch noch, Neumann irgendwann in Freiheit
       zu treffen. Er schreibt an dessen damaligen Anwalt am 3. März 1975: „Ich
       kann nicht zusehen, wie systematisch alle Versuche, Herrn Neumann etwas
       Selbstbewußtsein zu festigen, zerstört werden, ohne jeden Sinn und
       Verstand. Sehen Sie eine Möglichkeit, etwas zu unternehmen?“ Der Anwalt
       erreicht nichts. Und Neumann schreibt am 21. Dezember 1977 an Gerhard
       Bruch: „Ich bitte Sie also, mir gegenüber nicht mehr von Entlassung zu
       reden.“ Bei ihren Treffen im Knast essen sie Kirschkuchen mit Schlagsahne.
       Kein Wort über die Tat im Jahr 1962.
       
       Den Winter 1962 haben Gerichtsakten konserviert. Am Abend des 13. Januar
       läuft die fünfte Folge des Krimis „Das Halstuch“ von Francis Durbridge über
       Bildröhren in deutschen Wohnzimmern, in Schwarz-Weiß, denn das
       Farbfernsehen wird in Deutschland erst fünf Jahre später eingeführt. Der
       Film ist ein Straßenfeger, und auch Neumann schaut ihn sich an. Er trinkt
       ein Glas Grog, dann, um etwa 21 Uhr, zieht er sich eine Wollhose an,
       schnallt einen Schulterhalfter um, steckt einen Smith & Wesson Revolver,
       Kaliber 38, und einen umgebauten Revolver NHM, Kaliber 22, ein. Darüber
       zieht er ein Sakko, einen grauen Wollmantel und nimmt ein Bowiemesser, eine
       70 Zentimeter lange Perlonwäscheleine und einen schwarzen Nylonstrumpf mit.
       
       Er fährt mit dem Omnibus zum Flughafen Tempelhof und spaziert stundenlang
       durch die Nacht. Neumann als überlegener, einsamer Held – so sieht sich der
       25-Jährige wohl. „Seine Gewohnheit, ständig schwer bewaffnet herumzulaufen,
       könne er nicht verständlich erklären“, wird der Berliner Psychiater Hans
       Helbig in seinem forensischen Gutachten schreiben, das er am 29. April 1963
       abschließt.
       
       Bis um 1 Uhr treibt ihn eine innere Unruhe durch die Straßen Berlins. Dann
       tun ihm seine Füße weh, Kopfschmerzen plagen ihn, in der Gneisenaustraße
       setzt er sich auf eine Bank, weil ihm schwarz vor Augen wird. In der
       Baerwaldstraße sieht er einen VW mit beschlagenen Scheiben. Karin Baumann
       und ihr Freund Klaus Heinrich sitzen darin.
       
       Eigentlich will er sich nur nach Hause fahren lassen, sagt Neumann.
       Tatsächlich schickt er sich in diesem Moment an, zwei Leben auszulöschen
       sowie das eigene und das der Angehörigen zu ruinieren, als er den 38er
       Revolver aus dem Halfter nimmt und sich auf den Fahrersitz zwängt. Seine
       Opfer glauben, dass er sie ausrauben will. Gegen 1.45 Uhr biegt er in
       Neukölln auf einen Feldweg. Im Wagen schlägt Karin Baumann mit dem Absatz
       ihres Schuhs Neumann auf den Hinterkopf. Sie verursacht eine hohe, blutende
       Beule. Noch behält er die Kontrolle. Fährt weiter. Biegt in Britz in die
       Späthstraße. Wieder schlägt Karin Baumann auf ihn ein und fasst von hinten
       ins Lenkrad.
       
       Jetzt rast Neumann gegen einen Baum und tickt endgültig aus. Von einer Frau
       gestoppt. Neumann, der zur Demonstration seiner Bärenkräfte Stahlstangen
       über dem Kopf verbiegen und Holzplanken durchbrechen kann. Er schießt acht
       Patronen auf Karin Baumann und ihren Freund. Er schießt ihnen auch ins
       Gesicht. Er verpasst Karin Baumann zwei weitere Schüsse aus 30 Zentimeter
       Entfernung in Kopf und Nacken. Sie bleibt mit dem Gesicht nach unten
       liegen. Danach feuert er zweimal auf ihren Freund, der es noch geschafft
       hatte, die rechte Türe zu öffnen und auf die Fahrbahn zu kommen. Nach dem
       Rausch läuft Neumann in die Nacht. Er rennt, wirft die Mordwaffen in den
       Teltow-Kanal. Tage später werden sie geborgen. Um 5.30 Uhr kommt er zu
       Hause an.
       
       Neumann glaubt nicht, dass das alles passiert ist. Er sagt später aus,
       „einem Mädel mitten ins Gesicht schießen, das ist doch eine richtige Art
       Feigheit für mich. Das paßt doch nicht!“
       
       Noch am selben Tag stirbt Karin Baumann. Sechs Tage später sitzt Neumann in
       Untersuchungshaft. Zehn Tage später stirbt Klaus Heinrich.
       
       „Ick bin nie auf den Jedanken vorher gekommen, dass ick da eenen umbringen
       wollte. Ick wollte auch keen Geld.“ Heute wie damals sagt Neumann zum
       Tatgeschehen: „Ick erinnere mich nicht.“
       
       In Bruchsal nennen die anderen Neumann „Icke“. Wer ist dieser Mann?
       
       „Die Behauptung, daß der Erzeuger N.’s der leibliche Bruder seiner Mutter
       gewesen sei, wurde, nachdem der Vormund die Einleitung eines
       Strafverfahrens erwogen hatte, zurückgenommen, ’um nicht Stiefgeschwister
       evtl. mit dem Strafgericht in Berührung zu bringen‘ “, heißt es im
       forensischen Gutachten. Auch Neumanns Großvater kommt als sein Vater in
       Betracht, da dieser eine „1 jährige Gefängnisstrafe wegen
       Sittlichkeitsverbrechen verbüßte. Diese Sittlichkeitsverbrechen beging er
       an seiner Tochter (der Mutter N.’s – Bl. 92 u. 95 Bd. II d. Beiakten).“ Das
       alles erfährt Neumann erst mit 25 Jahren vom Schwurgericht Berlin-Moabit.
       Als Angeklagter im Prozess. Heute sagt er über seine Herkunft: „Da mach ick
       mir keene Jedanken drüber.“
       
       ## Als Junge klaut er in Läden und Heeresdepots
       
       Neumanns leibliche Mutter verdingt sich im Berlin der dreißiger Jahre als
       Prostituierte. Bei seiner Geburt am 14. September 1936 ist sie 19 Jahre
       alt. Nur zwei Wochen später kommt Neumann ins Städtische Waisenhaus
       Berlin-Kreuzberg und wird nach 18 Monaten zu Pflegeeltern gegeben. Seit
       seinem elften Lebensjahr klaut er in Heeresdepots, Lebensmittelgeschäften
       und Speditionen. Er klaubt in den Kriegsruinen Kupferkabel und Zinkbleche
       zusammen und vertickt die Rohstoffe. Seine Stiefmutter macht bei dem
       geschäftstüchtigen Minderjährigen 500 DM Schulden. Sein wirtschaftliches
       Geschick wird ihm noch zum Problem werden. In einem anderen Leben wäre es
       Neumanns Bestimmung gewesen, ein Unternehmer zu sein.
       
       Doch am 29. Dezember 1951 wird Neumann wegen Diebstahls in den Jugendhof
       Schlachtensee eingewiesen. Ein Entlassungsbericht ein Jahr später
       bezeichnet den Jungen als „ruhig und nett, aufgeschlossen und
       liebesbedürftig“. Und noch im selben Monat, im Oktober 1952, beginnt er
       seine Lehre als Feinblechner. Sein Meister Gustav Lüers ist zufrieden,
       dessen Frau füllt später die Lücke in Neumanns Leben, die seine
       Pflegemutter nach ihrem Tod 1953 hinterlässt. Mit der Frau seines Meisters
       sieht er in der Tatnacht fern. Neumann nennt sie „Mutter“.
       
       Mit 19 Jahren will Neumann weg. Und nachdem er auf einer Messe Prospekte
       mitgenommen hat, schifft er sich im Mai 1956 nach Kanada ein. „Der Gedanke,
       auszuwandern hänge auch damit zusammen, daß er sich ’vor den Menschen
       verkriechen woll-te‘ “, schreibt der Psychiater Helbig. Neumann hält sich
       mit Gelegenheitsjobs in Hamilton und Elliot-Lake im Bundesstaat Ontario
       über Wasser. Er arbeitet für Baufirmen, besucht die Abendschule für
       Englisch und Bürgerkunde, aber schon im Herbst kauft Neumann seinen ersten
       Trommelrevolver und eine Winchesterbüchse. Dann automatische Pistolen und
       Schrotflinten. Er lernt zwei Kanadier kennen, denen er kleinere Darlehen
       gewährt. Als sie das Geld nicht zurückzahlen können, beschließen die drei,
       ein Ding zu drehen.
       
       Nach zwei bewaffneten Raubüberfällen wird Neumann zu drei Jahren Zuchthaus
       verurteilt, er kommt in die Strafanstalt Kingston. 18 Monate später
       begnadigen ihn die Kanadier und schieben Neumann ab. Am 16. Juni 1961 kommt
       er in Bremerhaven an.
       
       Der Psychiater Hans Helbig erklärt Neumanns Waffenvernarrtheit als eine
       Reaktion auf seine von ihm selbst als defizitär eingeschätzte Männlichkeit.
       Helbig schreibt über Neumanns Leben: „Es sei allmählich eine richtige
       ’Angst vor Menschen‘ in ihm entstanden. ’Ich habe nie jemanden getraut, das
       waren alles Feinde.‘ “ Zudem habe Neumann an einer Ozäna zu leiden gehabt,
       einer „Stinknase“. Dabei werden in den Nasenhöhlen „Borken“ gebildet, die
       einen üblen Geruch verbreiten. „Ick hab mich nie an een Mädchen jetraut.
       Wenn ick in eenem Raum saß, haben die Leute nach eener halben Stunde
       jefragt: Wat stinkt denn hier so?“ 1976 wird Neumann behandelt. Ihm wird
       Knorpel einer Toten in die Nase implantiert.
       
       ## Er ist stachelig, schroff. Als fehlte ihm ein Anker
       
       Neumann ist von stacheliger Schroffheit, sagt Gerhard Bruch. Er verberge
       so, dass er keinen Anker im Leben habe. Ein Heimatloser, ein Einzelgänger.
       Es gebe in Neumann eine tiefe Verlorenheit, aber schlecht sei er nicht.
       Nicht mehr. Neumann sagt: „Ick spreche keene Fremden an, ick loof alleene.“
       Es wirkt, als habe er sich in seiner Distanz zur Welt eingerichtet.
       
       „Er wisse, daß es grotesk klinge, aber er wolle gar nicht wieder aus dem
       Gefängnis hinaus. ’Hier in solchen Plätzen fühle ich mich wohl. Da ist
       alles geregelt‘ “, zitiert das forensische Gutachten schon den Neumann aus
       dem Jahr 1963.
       
       Vielleicht will auch der Neumann von heute nicht raus aus dem Gefängnis.
       Vielleicht ist das der Grund für die fuffzig Jahre. Vielleicht erklärt das
       eine Strafe, die mittlerweile zum Artikel 1 des Grundgesetzes in einem
       problematischen Verhältnis steht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.
       Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
       
       Im September 1978 kommt er auf die Abschirmstation für Dealer. Bei ihm sind
       100 Tabletten Beruhigungsmittel gefunden worden. Ein Verfahren gegen ihn
       wegen des Besitzes von Cannabis wird am 14. Februar eingestellt, weitere
       Verfahren enden mit Freisprüchen für Neumann, der sich offen dazu bekennt,
       Haschisch zu rauchen. Eine Verlegung in den Normalvollzug kommt für die
       Anstalt nicht infrage, weil „er es sich bei seiner Geschichte einfach nicht
       leisten kann, sich immer wieder in Verdacht zu bringen“, schreibt der
       Leiter der JVA Tegel am 12. Oktober 1983. Neumann bleibt neuneinhalb Jahre
       auf der Station. Am 24. Januar 1987 schreibt Gerhard Bruch an denselben
       Anstaltsleiter: „Zahllose Enttäuschungen […] haben ihn so mißtrauisch
       gemacht, daß er, um weitere Enttäuschungen nicht zu provozieren, nichts von
       seiner Seite aus unternimmt, woran er eine Hoffnung hängt, die dann wieder
       enttäuscht werden kann.“
       
       Im Knastalltag hält sich Neumann an die wichtigste Regel: „Keene Schulden
       bei anderen Leuten“, sagt er. Zudem raucht er nicht und trinkt nur wenig
       Kaffee. Durch Neumanns Sparsamkeit stapeln sich Tabak- und Kaffeepäckchen
       in seiner Zelle, die bald aussieht wie ein Supermarkt. Tabak und Kaffee
       sind die Währung im Knast. Neumann sagt: „Ick bin die Bank.“ Gefangene, die
       ihre Monatsration Kaffee schon verbraucht haben, gehen zu ihm. Im nächsten
       Monat zahlen sie mit Aufschlag zurück. Der Gefängnisleitung missfällt
       dieses System. Im Dezember 1972 zum Beispiel werden bei ihm eine Flasche
       Wodka, eine Säge, Rasierklingen, 33 Gläser Kaffee und 89 Päckchen Tabak
       sowie im Blumentopf angesetzter Alkohol konfisziert. Neumann tauscht
       manchmal die akkumulierten Lebensmittel gegen Goldketten und Uhren. Weil
       nach Durchsuchungen oft Wertgegenstände fehlen, bindet er die wertvollste
       Habe an eine Schnur. An der hängen Goldketten, Ringe, und er verankert sie
       im Innern seiner Hosentasche.
       
       ## Gefangene nehmen Kredite bei ihm auf. Er ist die Bank
       
       Immer wieder wird seine Zelle gefilzt. Wegen seines Cannabiskonsums wird er
       im Laufe der Jahrzehnte fünfmal zu Tagessätzen verurteilt, die er dann
       absitzt. Im November 1990 werden ihm wegen des Besitzes von 151 Gramm
       Haschisch zwei weitere Jahre aufgebrummt. „Der Gef. verfügt hier
       offensichtlich über Geschäftsverbindungen interner und externer Art, die
       selbst durch Anordnung restriktivster Maßnahmen nicht unterbunden werden
       konnten“, schreibt der Anstaltsleiter aus Tegel.
       
       Deswegen wird Neumann in die JVA Bruchsal verlegt. Der Besuch von Gerhard
       Bruch alle drei Wochen fällt weg. Zwischen ihnen liegen jetzt 505
       Kilometer. Ein Universum für einen, der auf rund zehn Quadratmetern lebt.
       Am 4. Januar 1991 stellt Bruch ein Gnadengesuch für Neumann. Am 4.
       September antwortet die Berliner Senatsverwaltung: „Auf die
       obenbezeichneten Eingaben teilen wir mit, daß der Senat von Berlin in
       seiner Sitzung vom 27. August 1991 einen Gnadenerweis abgelehnt hat.“ Der
       Anstaltsleiter in Bruchsal bescheinigt Neumann im April 1992 keine
       negativen Verhaltensweisen, allerdings auch keine positiven Ansätze. Doch
       verweigere Neumann „permanent die Arbeit, da er darauf bestehe, eine
       Tätigkeit an frischer Luft ausüben zu können“. „Dem Vollzugspersonal
       gegenüber verhalte er sich allgemein ruhig, im Umgang mit den Mitgefangenen
       halte er Distanz und sei vorsichtig.“
       
       Seinen ersten Freigang verfügt ein Gericht. Am 31. Januar 1993 ist es so
       weit. Nach 31 Jahren Knastmief. Neumann gönnt sich ein Fläschchen Carstens
       Jahrgangssekt. Vier Tage später schreibt er an Gerhard Bruch. „Eine Karte
       hatte ich Ihnen zwischendurch auch schon geschrieben und zwar von einem
       Platz mitten in der Stadt. Da ließ mich nämlich der begleitende Beamte
       allein sitzen, so das ich in Ruhe meine Post erledigen konte. Es war schon
       ein sehr eigenartiges Gefühl. Vier Stunden vorher saß ich aber schon einmal
       ganz allein in der Bahnhofshalle als der Beamte zur Toilette ging. […] Von
       hier sind wir mit dem Bus nach Unterkrumbach gefahren und den Michaelsberg
       – 270 m – raufgelaufen. […] Durch das Laufen habe ich am linken großen Zeh
       meinen Nagel verloren war aber doch ganz zufrieden das ich durchgehalten
       habe.“
       
       Was den Geschäftsmann in Neumann ärgert: Er muss für die Beamten
       mitbezahlen. In späteren Jahren wird ihm verwehrt, weiter den öffentlichen
       Nahverkehr zu nutzen. Er muss den teuren Fahrdienst der Anstalt
       beauftragen.
       
       Das Landgericht Karlsruhe erklärt im März 1994, dass die besondere „Schwere
       der Schuld“ von Neumanns Tat nach einer Verbüßung von mehr als 30 Jahren
       eine weitere Inhaftierung nicht mehr gebiete. Die Aussetzung zur Bewährung
       wird jedoch abgelehnt. Zuvor hatte der Psychiater Hans-Ludwig Kröber in
       einem weiteren Gutachten geschrieben, Neumann habe bei ihm den „Eindruck
       von Unberechenbarkeit und Undurchsichtigkeit“ hinterlassen. Negativ für
       Neumanns Kriminalprognose sei, „daß der Untersuchte keineswegs durch das
       Alter gereift, gesetzt und ruhig wirkt, sondern nach wie vor in einer
       jugendhaften Weise lebhaft und offen für Einfälle ist“.
       
       Im Jahr 1997 bemängelt der Gutachter Rudolf Engell: „An vielen Stellen hat
       man den Eindruck von Einsichtslosigkeit […] Der Proband legt eine saloppe
       Fröhlichkeit an den Tag und macht einen völlig unbeschwerten Eindruck.“ Der
       Facharzt für Psychiatrie Joachim Schramm sieht in seinem Gutachten von 2005
       schließlich voraus, der zu dieser Zeit fast 70-jährige Neumann würde in
       Freiheit „Drogenschmuggel bzw. Drogenhandel oder andere illegale
       Aktivitäten anstreben. Bis heute jedenfalls scheinen Umsatz und Profit sein
       zentraler Lebensinhalt geblieben zu sein.“
       
       ## Das Gefängnis belohnt die, die sich anpassen
       
       Die vorzeitige Entlassung wird im Juni 1997 abgelehnt, im März 1999, im
       Oktober 2005 ebenso, wie schließlich vom Oberlandesgericht Karlsruhe im
       Juli 2006.
       
       Neumann hat sich also eingerichtet. Was bleibt ihm auch übrig? Zum
       Weghängen ist es zu spät, findet er. Also hat er sein ökonomisches Geschick
       an den Maßen der Knastwelt geeicht. Nach 50 Jahren ist er angepasst an das
       System künstlich verknappter Angebote in der Haft. Neumann widersetzt sich
       den obersten Prinzipien des Gefängnisses, das die strikte Befolgung seiner
       Regeln verlangt. Es fordert Berechenbarkeit ein. Das Gefängnis honoriert
       diejenigen, die sich anpassen. Sie verlieren mit den Jahren ihren Makel. Es
       sanktioniert alle, die für Irritationen sorgen. Sie behalten den Stempel
       „gefährlich“, der eigentlich eine Tätowierung ist. Neumann bleibt
       „gefährlich“, weil er nicht konform wurde. „Gefährlich“ klingt
       verständlich. Wer gefährlich ist, bleibt drinnen.
       
       Neumann hat bei sich einen ungeahnten Schatz entdeckt. In einer
       Steinmetzgruppe stellt er Skulpturen her, die so kunstvoll sind, dass
       einmal ein Beamter eine Madonna ohne Neumanns Einwilligung vertickt hat.
       
       Im September 1994 kostet ihn der Splitter eines Steins die Linse seines
       rechten Auges.
       
       Im Alter häufen sich seine körperlichen Beschwerden. Im November 1995
       bekommt er ein künstliches Gebiss. 2002 wird ihm eine Niere entfernt.
       Später wird ein Prostatakarzinom entdeckt. Am 12. Dezember 2002 schreibt
       Neumann über seinen Klinikaufenthalt: „Alle Besucher wollten doch den Mann
       sehen, der schon 40 Jahre im Knast ist. […] Nach einigen Tagen sprach mich
       eine sehr alte Frau auf dem Gang an, die ihren Mann besucht hatte. Liegen
       sie dahinten, ich sagte ja, na wo ist denn der Sträfling, da sagte ich ihr
       das ich der Sträfling bin. Da hat sie die Hand vor den Mund gehalten und
       dann war sie weg. Später haben wir aber auch noch miteinander gesprochen.
       Sie sagte mir dann, das sie kurz vor dem 65. Hochzeitstag stünde. Bei
       diesem Aufenthalt sind mir zweimal die Tränen gekommen, weil fremde Leute
       so gut zu mir gesprochen haben. Eine Röntgenärztin hat mir sogar etwas
       geschenkt. Es war das erste Geschenk, das ich von einer Frau erhalten
       habe.“
       
       Im Jahr 2006 schreiben die Richter des Oberlandesgerichts Karlsruhe, der
       Senat sei weiterhin „davon überzeugt, dass von Hans-Georg Neumann im Falle
       seiner Entlassung trotz seines nunmehr fortgeschrittenen Alters und
       vorhandener Erkrankungen mit Wahrscheinlichkeit die Begehung von
       Gewaltdelikten oder ähnlich schwerwiegenden Straftaten zu erwarten ist“. An
       anderer Stelle heißt es im Beschluss hingegen: „Aus seiner vertrauten
       Umgebung der Haftanstalt gerissen, wäre der Verurteilte nämlich in der
       Lebenswirklichkeit der ’Freiheit‘ bald einer Vielzahl von nicht
       voraussehbaren Konflikten ausgesetzt, denen der beinahe 70-jährige
       Verurteilte nicht mehr gewachsen ist.“
       
       ## Zehnmal so jut jegangen wie draußen
       
       Der erste Grundsatz im Strafvollzugsgesetz lautet feierlich: „Im Vollzug
       der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer
       Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel).“
       
       Am 30. November 2006 schreibt Gerhard Bruch an Neumann: „Wann hat unsere
       Bekanntschaft eigentlich angefangen? Ich denke gerne an die ganze Zeit
       zurück, an den Kirschkuchen mit Schlagsahne, an die Versuche mir Schach
       beizubringen u.s.w. Und inzwischen sind wir richtig alt geworden und keiner
       weiß, wann es zuende ist.“ Neumann antwortet: „Unsere Bekanntschaft hat im
       Januar 1972 angefangen, wo Sie mir gesagt hatten, das ich nach 15 Jahren
       entlassen werde.“
       
       Im Besucherzimmer der Anstalt legt Neumann seine Brille, über deren Bügel
       er dünne Gummischläuche gezogen hat, auf den Tisch und sagt: „Hier wie auch
       in Berlin ist mein größtet Problem: Ick hatte allet. Mir ist es zehnmal so
       jut jegangen wie draußen.“ Trotzdem, sagt Neumann, mit dem Geld, das er in
       50 Jahren zurückgelegt hat, käme er zwei Jahre über die Runden. Das reiche
       für einen Lebensabend in der Freiheit. Und dann einmal mit dem Zug nach
       Wladiwostok fahren oder einen Ausflug nach Aachen machen. „Schön anjezogen
       und ruhig. Da wird man schon mal von eener älteren Dame anjesprochen.“
       
       Am 5. Juni 2012 ist bei Neumanns Anwalt erneut ein Gutachten eingegangen.
       Rolf-Dieter Splitthoff, Chefarzt der Psychiatrie Wiesloch, hat Neumann
       getroffen. Er kommt zu dem Ergebnis: „Insgesamt ist festzustellen, dass
       Herr Neumann nach 50 Jahren Haft genauso bindungslos erscheint wie zu
       Beginn seiner Inhaftierung.“
       
       Neumann bleibt drinnen.
       
       9 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kai Schlieter
       
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