# taz.de -- Freiheit nach fast 16 Jahren Einzelhaft: Finneisens Festabgang
       
       > Nun ist er draußen, endlich. Seine Strafe hat Günther Finneisen ganz
       > abgesessen, rund 16 Jahre davon streng isoliert. Wie kommt so einer
       > zurecht im neuen Leben?
       
 (IMG) Bild: Sein Humor hat ihm „den Arsch gerettet“: Günther Finneisen am 21. Januar 2012.
       
       Finneisen fängt am 21. November 2011 um 8 Uhr an zu leben. Die Sonne ist
       gerade aufgegangen, strahlt über das Feld und lässt sein Gesicht orangerot
       erscheinen. Er hat die letzte Woche kaum geschlafen, weil dieser Tag immer
       näher rückte. Weil in Finneisens Universum die Zeit schon seit vielen
       Jahren rückwärts darauf zulief. Dabei wurde dieser Tag immer irrealer.
       Zuletzt hat er sich nur gewälzt im Bett, hat sich zur Zerstreuung einen
       Fernseher geben lassen. Es half nichts. Und nun ist es so weit. Finneisen
       ist durch eine kleine Stahltür neben der Pforte der Justizvollzugsanstalt
       Rosdorf hinein in die Welt getreten.
       
       Die ersten Minuten in Freiheit seit dem 10. Oktober 1979. Mit seinen
       Ausbrüchen hatte er zwar dieses Gefühl, frei zu sein, schon erzwungen: bei
       der Flucht aus der JVA Hannover etwa, dann aus Hameln, später aus Lingen
       und beim letzten „Ausritt“, wie er sagt, aus der JVA Celle. Er tauchte für
       ein paar Jahre in Südafrika, Frankreich, Holland und Spanien unter. Doch er
       wurde immer wieder gefasst.
       
       Die wirkliche Freiheit beginnt heute, an diesem frühlingshaften
       Wintermorgen. Seine Strafe ist bis zum letzten Tag verbüßt. Finneisens
       Festabgang. „Das davor war alles Theorie“, sagt er und dreht sich eine
       Kippe.
       
       ## 16 Jahre sicher verwahrt
       
       Die letzten sechs Monate saß er im Normalvollzug. In einem Knast, der auf
       einem Acker steht, kurz vor Rosdorf in Niedersachsen.
       
       In der Zeit davor, in der JVA Celle, war nichts normal. Finneisen hauste
       rund 16 Jahre von anderen Menschen isoliert. Ein Stück Fleisch in einem
       Hochsicherheitstrakt. Die Niedersächsische Justiz hielt es für angemessen,
       Finneisen auf diese Art dafür zu bestrafen, dass er 1995 bei seiner Flucht
       aus derselben Anstalt einen Beamten als Geisel genommen hatte. Nach nur
       drei Tagen schnappte ihn ein Sondereinsatzkommando, und diesmal wurde er
       sicher verwahrt.
       
       Die [1][taz spürte Finneisen 15 Jahre später im Hochsicherheitstrakt auf].
       All die Jahre hatte er nur sich selbst in der Einzelhaft. Regulär darf
       diese Sanktion für höchstens drei Monate verhängt werden. Eine Verlängerung
       muss das Justizministerium genehmigen. Bei Finneisen geschah dies
       jahrelang. Doch wen interessiert ein verurteilter Verbrecher?
       
       Während der Kriminologe Johannes Feest den Fall als „Folter“ brandmarkte,
       wollte sich die Anti-Folter-Stelle des Bundes nicht äußern. Selbst Amnesty
       International war nicht bereit gewesen, die fast 16-jährige Isolation zu
       bewerten. Gegen die Inhaftierung von Prominenten wie Bradley Manning oder
       Julia Timoschenko protestiert Amnesty International per Pressemitteilung.
       
       Aber bei Finneisen geht es nicht so offensichtlich um Politik. Er sieht
       nicht einmal verwegen aus. An seinen schwarzen Turnschuhen löst sich hinten
       die Sohle. Seine Jeans und die braune Lederjacke hatte er zuletzt 1995 an.
       Finneisen zeigt seinen zerknitterten Entlassungsschein. „Sorgfältig
       aufbewahren!“ steht da und „Vorhandenes Guthaben: 386,18 EUR“. Finneisen
       sagt: „Ich Kapitalistenschwein.“ Er lacht.
       
       ## Ein Glühwein am Morgen
       
       Fünfzehn Minuten dauert die Fahrt nach Göttingen. Am Nachmittag holt ihn
       sein Bruder hier ab. In der Fußgängerzone werden die Büdchen für den
       Weihnachtsmarkt zusammengeschraubt. Ein Glühwein wäre nicht schlecht, sagt
       Finneisen, es ist kurz vor 9 Uhr. Dann sitzt er in einem Café, trinkt
       seinen ersten Latte macchiato und ist fröhlich.
       
       Am selben Tag klingeln Reporter der Bild bei Finneisens greiser Mutter. Fuß
       in die Tür. Sie wittern eine geile Schlagzeile. Sie wollen Verbrecherfotos
       knipsen. Auflage, Auflage, Auflage. Doch die Jungs haben sich verrechnet,
       Finneisen und sein Bruder ändern den Treffpunkt. Die Familie verabredet
       sich woanders. Nur drei Tage, dann will er wieder weg.
       
       Zu viel Nähe hält Finneisen nicht aus. Sein Ziel ist Berlin. Dort möchte er
       eine Ladenwohnung mieten. Davon spricht er immer wieder. Er will sich ein
       Atelier schaffen und sieht sich schon darin sitzen. Auch mit Kabarett
       könnte er seinen Unterhalt verdienen. Er würde sich eine Wollmütze
       aufsetzten und wäre dann „Hein von der Werft“. Finneisen spricht nun betont
       norddeutsch nasal.
       
       „Was mir den Arsch gerettet hat, ist mein Humor. Ich habe noch nie nach
       hinten geguckt.“ Hinten ist die Abgeschlossenheit des Trakts. Tote Zeit.
       Sie hat seine Feinmototik ruiniert und das Konzentrationsvermögen. Namen
       verwandeln sich nach kurzer Zeit in Rauschen. Jetzt aber ist Finneisen
       offiziell obdachlos, endlich.
       
       Finneisen ist intelligent und hat Ideen. Er müsste es schaffen.
       
       Am 12. Dezember schickt er einen Brief: „ich laufe nun auch schon einige
       tage in berlin rum. und das kannste mir voll glauben, alleine kreuzberg hat
       mir sicher nen marathon eingebracht.“ Finneisen ist „im handyzeitalter
       angekommen“. Er läuft noch viele Marathons durch Berlin, auf der Suche nach
       der Ladenwohnung.
       
       ## Unter Führungsaufsicht
       
       Einen Monat später, am 12. Januar, sieht Finneisen aus, als sei nur eine
       dünne Haut über die Knochen gespannt. Sein Gesicht wirkt verdorrt. Weil er
       immer noch keine Krankenversicherung hat, fehlen ihm Medikamente. In
       Finneisen brütet eine lebensbedrohende Krankheit, aber seine Vorgeschichte
       macht es nicht leicht, alle Dokumente zusammenzubekommen.
       
       Finneisen betritt das Amtsgericht in Wedding. Er hat einen Termin mit der
       Bewährungshelferin. Wenn er hier nicht erscheint, könnte er wieder in den
       Knast gesteckt werden. Finneisen steht unter Führungsaufsicht und musste
       deswegen schon beim Landeskriminalamt „Klavier spielen“, sagt er. So
       bezeichnen Menschen, die das Gefängnis von innen kennen, die Abnahme ihrer
       Fingerabdrücke. Die Beschwerde gegen die Führungsaufsicht hatte Finneisen
       noch am ersten Tag in Göttingen in den Briefkasten geworfen. „Ich empfinde
       das als zweite Bestrafung“, sagt er.
       
       Denn Finneisen ist nicht auf Bewährung draußen. Jede Minute seiner Haftzeit
       hat er abgesessen. Trotzdem muss er sich die kommenden fünf Jahre lang
       regelmäßig melden. Früher habe begründet werden müssen, wenn einer unter
       Führungsaufsicht kam. Heute, sagt Finneisen, sei es andersherum.
       
       Finneisen erscheint zweimal im Monat in Wedding. Wenn alles gut geht, muss
       er nach einem halben Jahr nur noch monatlich hin.
       
       ## Wohlmeinend-bevormundend
       
       Das Gespräch mit der Frau vom Amt, die mehr redet als zuhört, dauert etwa
       eine halbe Stunde. Ihre Art ließe sich als wohlmeinend-bevormundend
       bezeichnen. Wahrscheinlich ist sie weniger selbstständige Straftäter
       gewohnt.
       
       Nein, einen Schwerbehindertenausweis will er sich nicht ausstellen lassen,
       trotz Krankheit, sagt Finneisen. Und ja, beim Jobcenter sei er gewesen.
       Auch die Sachbearbeiterin habe gesagt, bei seiner Vorgeschichte und seinem
       Alter sei es „unmöglich“ sei, einen Job zu bekommen.
       
       „Dann erzählen Sie doch einmal, wie es mit der Ladenwohnung weitergegangen
       ist“, bittet die Frau. „Ich schaue mir noch ein Projekt an“, sagt er.
       Finneisen ist bei vielen Wohnungsbesichtigungen schräg angeschaut worden.
       Er wiederum findet es merkwürdig, wie die Leute den Maklern bereitwillig
       die intimsten Fragen beantworten, noch bevor sie sich eine Wohnung
       überhaupt angeschaut haben.
       
       ## „Das ist Hardcore in Berlin“
       
       Aber eigentlich bestehen ganz andere Probleme: „Die wollen fast alle eine
       Erklärung vom vorigen Vermieter. Was soll ich da angeben? JVA?“ Das kennt
       die Frau vom Amt. „Das ist Hardcore in Berlin“, sagt sie. Dann ist die
       halbe Stunde um. Beim nächsten Mal werde Finneisen mit ihrer Kollegin
       vorliebnehmen müssen. „Soll ich auch Ersatz suchen, wenn ich in Urlaub
       fahre“, fragt Finneisen. Er lacht.
       
       Mitte April wohnt er immer noch bei Bubi. Wenn der kein Herz für entlassene
       Straftäter hätte, würde Finneisen auf der Straße sitzen. Stattdessen
       besitzt er nun eine Krankenversicherung, nimmt seine Medikamente und hat
       etwas zugelegt. Er kauert vor dem Computer im betulichen Berlin-Lankwitz
       und übt gerade mit einem Programm Gitarre spielen.
       
       Mit den Ladenwohnungen hat es nicht geklappt. 70 hat er sich angesehen. Er
       hat Pankow durchwandert, Wedding, Neukölln, sogar Hellersdorf. Zu manchen
       ging er zweimal, wenn nach dem ersten Besuch die Annonce noch mal erschien.
       Auf die Frage nach dem Vermieter antwortet er jetzt, dass er lange im
       Ausland gelebt hätte. Er bekommt trotzdem keine Wohnung, denn Finneisen
       wirkt irgendwie verdächtig.
       
       „Das mit dem Ladenlokal habe ich aufgegeben“, sagt er nüchtern. Das sei
       nicht das Wichtigste. Zwischenzeitlich hatte er sich überlegt, einen
       ausrangierten Bus der BVG zu kaufen, das Gefährt auf irgendeine Wiese am
       Stadtrand zu schieben, einzuziehen, und alles wäre schick. Doch auch
       abgehalftert sind die Busse viel zu teuer. Und die Idee, in einen
       Lkw-Anhänger einzuziehen, ließ sich nicht verwirklichen.
       
       ## Baum aus Pappmaché
       
       Trotzdem wirkt Finneisen nicht geknickt. Er hat für Bubi die Wohnung
       gestrichen, einen Baum aus Pappmaché gebaut und braun angemalt. Die Zweige
       sollen später noch hinter der Fensterscheibe weiter„wachsen“. Ein kleines
       Kunstwerk und eine Überraschung. Denn Bubi liegt schon lange im
       Krankenhaus. Nachdem er einen Sturz aus dem 5. Stockwerk überlebt hat, ist
       er Schmerzpatient.
       
       Es geht voran. Nach sechs Monaten in Freiheit ist Finneisen im
       Internetzeitalter angekommen und hat sich seine erste E-Mail-Adresse
       eingerichtet. Endlich eine eigene Anschrift.
       
       15 May 2012
       
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 (DIR) Kai Schlieter
       
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       Kein Geräusch. Kein Gespräch. Keine Berührung. Kein Leben. Bald 16 Jahre
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       hinter Panzerglas.