# taz.de -- Haftalltag in Deutschland: Acht Quadratmeter Wochenende
       
       > In der JVA Lübeck arbeiten zu wenige Beamte. Kommt es dann zu Engpässen,
       > bleiben die Türen zu den Zellen geschlossen. 23 Stunden am Tag.
       
 (IMG) Bild: Draußen schöner als drinnen: die JVA Kassel. Inhaftierte kommen selten in den Genuss von Freigang.
       
       LÜBECK taz | Hitze. Die Wolldecke ist klitschnass, als Carsten* sie aus dem
       Waschbecken zieht. Die Mittagssonne zeichnet Schatten auf den Zimmerboden.
       Scharfe Linien, senkrecht und waagerecht. Gitterstäbe.
       
       Carsten trägt den schweren Stoff zum Fenster, breitet ihn aus. Zwei
       Stunden, bis die Decke trocken ist. Im Halbdunkel setzt er sich auf sein
       Bett, ausgezogen bis auf die Unterhose. Nicht mehr bewegen. Das Abendessen
       hat der Beamte schon durch die Tür gereicht, um 12.30 Uhr. Jetzt bleibt sie
       zu, bis zum Frühstück.
       
       Wochenende heißt Einzelhaft. An den Werktagen geht Carsten in die
       Gefängnistischlerei. Er ist Mitte 30, als er seine Strafe absitzt, trägt
       einen aschblonden Bürstenschnitt und Brille. Draußen hat er mal Schlosser
       gelernt und abgebrochen. Hier baut er Schränke und Stühle für die
       Hafträume, Mobiliar für acht Quadratmeter.
       
       Die anderen Insassen der Justizvollzugsanstalt Lübeck arbeiten als Maler,
       Gärtner oder sie falten Marzipanschachteln. Ihre Wochenenden sind frei. Für
       diese Zeit sind eigentlich ein Sportplatz da und Fitnessräume, eine schmale
       Küche, eine Dartscheibe. Doch oft bleiben in Lübeck die Zellen
       verschlossen. Denn es gibt zu wenige Beamte zur Bewachung der Häftlinge.
       
       Im G-Haus ist der Boden aus Stein, und die Türen sind aus gelb gestrichenem
       Metall. Wer im Erdgeschoss den Kopf in den Nacken legt, kann hoch bis in
       den vierten Stock blicken. Gitternetze ersetzen die Decken. Vor drei Jahren
       war das so, als Carsten noch nicht entlassen war. Und auch vor 30 Jahren,
       genauso wie heute. Dies ist ein Gebäude von vielen, die die Mauer in Lübeck
       umschließt. Das Gefängnisgelände erstreckt sich über eine Fläche von 12
       Hektar, ein kleiner Stadtteil: Frauenvollzug im Klinkerbau, therapeutische
       Wohngruppen für Gewalttäter, für jedes Haus steht ein Buchstabe.
       Untersuchungshäftlinge im D-Haus. Langzeitgefangene im G-Haus.
       
       ## Gebrechliche Häftlinge
       
       Peter Brandewiede hört den Hall seiner Schritte, als er den Gang betritt.
       Er trägt Krawatte und Jackett, er ist der Anstaltsleiter. Die Beamten
       tragen Uniform, die Häftlinge Stoffhosen. Ein schwerer Mann im dunklen
       Pulli hat Eimer und Lappen vor die offene Tür seines Haftraums gestellt.
       Die Beamtin neben ihm nickt. Es ist Brandewiedes letztes Jahr vor dem
       Ruhestand. Dass sich hier etwas verändert hat, das erkennt er auch an den
       zwei neuen Gehwagen im Flur. Vier Räder, Griffe, ein Korb: die Häftlinge
       werden gebrechlich.
       
       Wenn Gefangene alt werden, müssen sie häufiger zum Facharzt oder ins
       Krankenhaus. Während früher mal ein oder zwei von ihnen zur Behandlung
       gebracht wurden, sind es heute oft vier Fahrten täglich. Der
       Klinikaufenthalt eines Häftlings – er bedeutet für zwei Beamte, Tag und
       Nacht am Bett zu sitzen. Sie fehlen dann im Gefängnis. Für Brandewiede geht
       die Rechnung so: Sind drei Insassen in der Klinik, fehlen sechs Beamte in
       einem der Hafthäuser. Diejenigen, die übrig bleiben, können die Insassen
       nicht mehr allein kontrollieren. Also schließen sie ab.
       
       Mehr als jedes zweite Wochenende müssen die Häftlinge mittlerweile in ihren
       Zellen verbringen. 23 Stunden am Tag, eine Stunde Hofgang. Auf rund 570
       Gefangene kommen in Lübeck 230 Beamte. Die Belastung für sie ist hoch, der
       Krankenstand auch, und das macht es nicht besser. „Das Ministerium ist
       darüber informiert“, sagt Brandewiede. „Die Personalausstattung“, schreibt
       die schleswig-holsteinische Justizministerin Anke Spoorendonk (SSW), „ist
       angemessen und ausreichend.“
       
       Ein Sexualstraftäter, Strafe abgesessen, sicherheitsverwahrt, greift im
       November eine Beamtin von hinten an. Sie schreit. Er presst seine Hand vor
       ihren Mund. Sie beißt zu. Mitgefangene gehen dazwischen, befreien die Frau.
       Seine Gruppensitzungen seien ständig ausgefallen, sagt der Mann später.
       
       ## Der Druck nimmt zu
       
       „Das ist ein Moment, in dem dir bewusst wird: Das ist ein gefährlicher
       Beruf“, sagt Martina Bahr. Ihr Kinn ist kantig, die orangen Kegel ihres
       Augenbrauenpiercings liegen auf dunklen Falten. Sie kam vor 27 Jahren nach
       Lübeck. Dass einmal so oft zugeschlossen wurde wie im vergangenen Jahr,
       daran kann sie sich nicht erinnern. Aus dem Fenster der Personalkantine
       blickt sie auf die breiten Stacheldrahtrollen im Hof. Schnee fällt. Was
       ist, wenn sie mal Ernst machen? Wenn sie nicht mehr reinkommen?
       
       Das Gefühl, in der Unterzahl zu sein – Bahr und ihre Kollegen kennen die
       Geschichten. Der Hofgang vor zwei Jahren, als die Gefangenen am Ende ihrer
       Spazierstunde draußen stehen blieben. Damals konnten die Beamten
       verhandeln: jetzt rein, später noch einmal raus. Sie haben sich erpressen
       lassen, sagen manche. Auch drinnen haben Gefangene Gruppen gebildet, die
       auf den Fluren zusammenstehen, wenn sie eigentlich in ihre Zellen sollen.
       „Am Rande der Meuterei“, nennt das Bahr. Es bleibt die Hoffnung, dass ein
       paar vernünftige Gefangene dabei sind. Solche, mit denen man reden kann.
       
       Für Schnitzel, Kartoffeln und Soße hat Carsten mit zwei Zellnachbarn
       zusammengelegt. Tiefgekühlt hat er im Anstaltsladen gekauft, was zu teuer
       wäre für einen. Acht Quadratmeter Küche, das Kartoffelwasser blubbert, das
       Schnitzel ist fast durch. Dann heißt es „Einschluss“. Bitte, sagt Carsten:
       „Können wir das nicht noch eben fertig machen?“ Am nächsten Tag darf er für
       eine halbe Stunde raus, um die Reste wegzuwerfen. Zurück im Haftraum
       schlägt und tritt Carsten gegen die Tür. Irgendwo muss man es ja
       rauslassen.
       
       Das Öffnen der Zellen nach innen nimmt den Druck raus. Das wissen ältere
       Beamte wie Martin Mildt, weil sie sich erinnern, wie es in den Achtzigern
       war. Damals haben Häftlinge Gabeln und Löffel geschluckt, weil sie die
       Einsamkeit gegen sich selbst richteten. Die Wände mancher Hafträume waren
       mit Kot beschmiert. „Fürchterlich“, sagt Mildt. Er hat einen weißen
       Vollbart, sitzt heute im Personalrat: „In den Köpfen der Verantwortlichen
       ist das nicht drin.“
       
       ## Gewalttausbrüche
       
       Und die Köpfe der Insassen? Besuch ist selten in der Redaktion der
       Gefangenenzeitung. Die Papierstapel auf den Schreibtischen wurden
       rechtwinklig an die Kanten gerückt. Zwei Redakteure sitzen auf ihren
       Plätzen und lächeln. Dirk J. sitzt auf einem Stuhl daneben. Er ist ein
       kleiner Mann mit einer Jeans, die zu weit ist für seine Hüfte, und als
       gewählter Gefangenenvertreter zu diesem Gespräch gekommen.
       Vollzugsabteilungsleiter Thomas Hänsel, Uniform und Namenschild, hat die
       Hände gefaltet. Seine Knie schwingen. Gewalt unter den Häftlingen? „Die
       Konsequenz ist, dass wir alle bestraft werden“, sagt Dirk J. Einzelhaft als
       Strafe? „Nur für kurze Zeit“, sagt Hänsel. „Für kurze Zeit“, wiederholt der
       Redakteur.
       
       Viele Lübecker Gefängnisininsassen haben Petitionen an den
       Schleswig-Holsteinischen Landtag gestellt. Es fehlten Tage außerhalb der
       Gefängnismauern, die ihnen zustehen, schreiben sie in ihren Briefen. Ein
       Einkauf in der Stadt, Treffen mit der Familie. Eine Wohnung finden.
       Häftlinge sollen sich vor der Entlassung wieder langsam an die Welt draußen
       gewöhnen. Dafür bräuchten sie die Stunden in Freiheit – und zwei Beamte,
       die sie begleiten. Personal, das fehlt.
       
       Die Situation sei „mehr als misslich“, lautet die Einschätzung des
       zuständigen Petitionsausschusses. Kritik am Personalmangel in
       schleswig-holsteinischen Gefängnissen und an den vielen Krankheitsausfällen
       der Beamten höre man hier regelmäßig. Die Politiker sorgen sich in ihrem
       Bericht, ob Lübecker Gefangene „angesichts dieser andauernden Situation das
       Vollzugsziel der Resozialisierung“ noch erreichen können. Denn dass sie
       „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten“ führen
       sollen, steht im Gesetz.
       
       Für Carsten ist das nicht so einfach. 2,8 Promille hatte er im Blut, als
       ihn ein Sondereinsatzkommando der Polizei vor vier Jahren festnahm. Er
       hatte auf die Tür geschossen, als der Gerichtsvollzieher kam, und dann
       seine Wohnung angezündet. Im Gefängnis trinkt er nichts mehr, auch nicht an
       dem Tag, als sie ihn im Herbst 2011 wieder auf die Straße stellen. Neben
       sich nur einen Karton mit seinen Sachen, ist er das erste Mal seit
       dreieinhalb Jahren auf der anderen Seite der Mauer.
       
       Carsten nimmt sich ein Taxi. Zwei Monate schließt er sich ein.
       „Reizüberflutung“, sagt er, und die Angst, wieder zu versagen, wieder
       straffällig zu werden. Nachts kommt er nicht zur Ruhe. Dann wieder Alkohol.
       Um die Gedanken loszuwerden. Die Albträume vom Knast.
       
       *Name geändert
       
       8 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kristiana Ludwig
 (DIR) Kristiana Ludwig
       
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