# taz.de -- Proteste gegen Mursi in Ägypten: „Mehr Vertrauen in die Araber“
       
       > Die Menschen in der arabischen Welt wollen nicht, dass Religion ihre
       > Länder regiert. Das sagt Rami G. Khoury, der Ex-Chefredakteur der „Jordan
       > Times".
       
 (IMG) Bild: Die Ägypter protestieren wieder, diesmal gegen die Politik des neuen Präsidenten Mursi.
       
       taz: Herr Khoury, an Ihrer Bürotür klebt ein Schild mit der Aufschrift „Ich
       liebe Ägypten“. Ist es nicht traurig, dass die Ägypter wieder auf die
       Straße gehen, diesmal weil sich Präsident Mohammed Mursi nahezu unbegrenzte
       Macht verliehen hat? 
       
       Rami G. Khoury: Was Mursi gemacht hat, ist inakzeptabel. Aber ich bin mir
       nicht sicher, ob er ein weiterer Mubarak ist oder ob er mit seinen Dekreten
       tatsächlich nur die Revolution verteidigen will. Die Frage bleibt: Bekennen
       sich die Muslimbrüder zu einem demokratischen Wandel, oder sind sie, wie
       manche vermuten, Lügner, die durch demokratische Wahlen nur an die Macht
       kommen wollten? Ich persönlich glaube nicht an diese zweite Analyse. Noch
       sehe ich keinen Beweis dafür, dass Mursi die Macht permanent an sich reißen
       will.
       
       Das klingt optimistisch. 
       
       Ich glaube, die Muslimbrüder wissen, dass sie ihre derzeitige Macht dem
       demokratischen Prozess verdanken, der durch die Bürgerrevolution in Gang
       gesetzt worden ist. Diese Kräfte werden Widerstand leisten. Das ist das,
       was derzeit passiert. Die Menschen, nicht nur viele Tausende auf dem
       Tahrirplatz, widersetzen sich Mursis Dekreten. Dagegen können sich die
       Muslimbrüder auf Dauer nicht stellen. Dennoch ist es eine heikle Situation,
       sowohl für die Stabilität des Landes als auch für die Glaubwürdigkeit des
       Wandels. Einige Leute werden sagen: „Wenn das Demokratie ist, dann bringt
       uns lieber die Militärherrschaft wieder.“ Es gibt zu viel Chaos und
       Unsicherheit im alltäglichen Leben.
       
       Chaos im Inneren, aber außenpolitisch hat Mursi Erstaunliches erreicht.
       Zuletzt vermittelte er den Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas
       im Gazastreifen. Wie hat er das geschafft? 
       
       Ägypten hat sich von seiner früheren Rolle verabschiedet, in der es
       größtenteils ein Hindernis für den Fortschritt in Palästina war. Zudem
       haben sich die USA von ihrer Monopolstellung bei der Vermittlung zwischen
       Israelis und Palästinensern zurückgezogen. Zwanzig Jahre lang waren sie die
       einzigen Vermittler und haben versagt, jämmerlich versagt. Jetzt sind
       andere eingesprungen. Regionale Akteure wie Katar und die Türkei spielen
       eine wichtigere Rolle als früher. Diese Dinge kamen in der vergangenen
       Woche zusammen, Ägypten konnte die Führungsrolle übernehmen.
       
       Ägypten als neuer Vermittler in Nahen Osten und die Palästinenser mit einem
       aufgewerteten Status bei den Vereinten Nationen. Kommt Bewegung in den
       israelisch-palästinensischen Konflikt? 
       
       Wir müssen uns allgemein fragen, was die Folgen der arabischen Aufstände
       für Israel sein werden. Wenn die arabischen Staaten demokratischer werden
       und ihre Außenpolitik die Meinung der Bevölkerung widerspiegelt, werden sie
       Israel gegenüber stärkeren Druck ausüben. Das wissen die Israelis.
       Gleichzeitig verfügen die Hamas und die Hisbollah im Libanon über immer
       mehr Möglichkeiten, Israel zu bekämpfen. Es kann sein, dass die Israelis
       realistischer werden, dass sie sagen: „Okay, wir arrangieren uns lieber mit
       der Situation und gehen auf die arabische Friedensinitiative ein, die den
       Rückzug aus den besetzen Gebieten beinhaltet.“ Das wird sicher nicht schon
       dieses Jahr passieren, aber wir sollten die Möglichkeit im Auge behalten.
       
       Und der neue Status der Palästinenser als „Beobachterstaat“ bei den UN …? 
       
       … spielt keine große Rolle. Ein paar rechtliche Folgen könnte er haben,
       wenn ihn die Palästinenser nutzen, um mehr Druck auf Israel auszuüben –
       indem sie etwa vor den Internationalen Gerichtshof ziehen. Das Problem ist
       aber, dass die Initiative ein Alleingang Abu Masens (Mahmud Abbas, Anm. d.
       Red.) war. Das reduziert die Bedeutung der Aufwertung. Abu Masen hätte alle
       Palästinenser einbeziehen müssen, sich mit der Hamas versöhnen und eine
       neue PLO mit neuer Legitimation aufbauen sollen. Das hätte ihm eine
       tatsächlich machtvolle Position bei den Vereinten Nationen eingebracht.
       
       Sie kommen gerade von einem längeren Aufenthalt in den USA zurück.
       Philadelphia, New York und Boston sind Geburtsorte der amerikanischen
       Demokratie. Bringen Sie neue Erfahrungen für die Umbrüche in den arabischen
       Ländern mit? 
       
       Ich habe in den USA viel über Verfassungsgebung und Demokratisierung
       geforscht. Vor allem habe ich gelernt, dass es Zeit braucht, ein stabiles
       Verfassungssystem zu entwickeln. Auch in den westlichen Ländern ist das
       nicht über Nacht passiert. In England, Frankreich oder den USA hat es nach
       der Unabhängigkeit noch 200 Jahre gedauert, bis ein wirklich gerechtes
       demokratisches System etabliert war. Ich glaube nicht, dass wir hier 200
       Jahre brauchen werden, aber sicherlich mehr als zwei.
       
       Wir können uns also zurücklehnen und entspannt auf die Stabilisierung der
       arabischen Demokratien warten? 
       
       Ich denke ja. Der derzeitige Pessimismus ist ein Ausdruck von Ungeduld. In
       Amerika haben mich alle gefragt: „Was sollen wir tun?“ Ich habe ihnen
       gesagt: „Entspannt euch und schaut, wie sich die Sache entwickelt.“ Die
       Leute brauchen mehr Vertrauen in die Vernunft der gewöhnlichen Ägypter,
       Tunesier und anderer Araber. Natürlich werden sie viele ihrer Gefühle mit
       dem Islam ausdrücken. Es gibt keine ausgeprägte nationale Identität. Das
       Einzige, dem sich die Leute zuwenden können, ist die Stammeszugehörigkeit
       oder die religiöse Identität. Aber das sind kurzfristige Phänomene. Die
       Menschen wollen keine religiösen Staaten.
       
       Aber sie wählen dennoch die Islamisten. Warum sind Sie sich so sicher? 
       
       Es gibt viele Umfragen, die zeigen, dass die Menschen in der arabischen
       Welt zwar religiös sind. Aber sie wollen nicht, dass die Religiösen ihre
       Länder regieren wie im Iran oder in Saudi-Arabien. Ich habe die letzten 45
       Jahre damit verbracht, durch die arabische Welt zu reisen und mit den
       Menschen zu sprechen. Sie sind keine Fanatiker. Genau das sieht man jetzt
       am Widerstand gegen Mursi in Ägypten. Man sollte keine zu frühen Urteile
       fällen.
       
       1 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jannis Hagmann
       
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