# taz.de -- Ägypten mit neuer Verfassung: Dumme Schafe und Ungläubige
       
       > Präsident Mursi will das Volk über die umstrittene neue Verfassung
       > abstimmen lassen. Eine Mehrheit dürfte ihm trotz aller Proteste sicher
       > sein
       
 (IMG) Bild: Hand in Hand: Proteste gegen Mursi allein werden die Machtverteilung in Ägypten nicht ändern.
       
       KAIRO taz | Tagelang wurde über Ägypten und Mohammed Mursi, den „neuen
       Pharao“, geredet, über die „Scharia-Verfassung“ geschrieben und gar ein
       Bürgerkrieg an die Wand gemalt. Doch was bleibt davon, wenn man die letzten
       Tage mit etwas Distanz Revue passieren lässt?
       
       Zweifelsohne haben Präsident Mursi und die Muslimbrüder eine polarisierte
       politische Lage zementiert. Zunächst hatte Mursi in einem Verfassungsdekret
       seine Entscheidungen für gerichtlich unanfechtbar erklärt. Auch der
       verfassunggebenden Versammlung verlieh er Immunität, so lange, bis das Land
       eine neue Verfassung hat.
       
       In der Nacht zu Freitag wurde dann ein Verfassungsentwurf durchgepeitscht.
       Der Entwurf wurde zwar einstimmig abgesegnet, aber nur weil zahlreiche
       Liberale, Linke und Kirchenvertreter aus der verfassunggebenden Versammlung
       zurückgetreten waren – aus Protest, weil sie von den Islamisten dominiert
       wird.
       
       ## Zwei Wochen bis zum Referendum
       
       Mursi hat den Verfassungsentwurf dennoch umgehend ratifiziert. Schon in
       zwei Wochen, das verkündete der Präsident am Samstagabend, soll das Volk
       über die Verfassung abstimmen. Und es besteht wenig Zweifel daran, dass er
       von der mehrheitlich konservativen Wählerschaft abgesegnet wird.
       
       Kurzum: Die Muslimbrüder haben mit harten Bandagen gekämpft und stehen kurz
       davor – wie bei den Parlaments- und später den Präsidentschaftswahlen –,
       erneut zu gewinnen.
       
       Auch ihre Gegner haben nicht immer fair gespielt. Sie haben die
       demokratische Legitimität der Muslimbrüder nie anerkannt. Als wichtigstes
       Instrument blieben ihnen aber nur die Gerichte, denen oft noch der
       Stallgeruch des alten Regimes Mubaraks anhängt. Mit deren Hilfe wurde das
       demokratisch gewählte Parlament aufgelöst.
       
       Innerhalb des Justizsystems gehört das Verfassungsgericht zu den schärfsten
       Kritikern Mursis. Am Sonntag setzte es seine komplette Arbeit aus. Zuvor
       hatten Mursi-Anhänger das Gericht umstellt, das über die Rechtmäßigkeit der
       verfassunggebenden Versammlung entscheiden sollte. Die Proteste seien ein
       „psychologischer Mordanschlag“, hieß es am Sonntag in einer Erklärung des
       Gerichts.
       
       ## Die Verfassung steht nicht für radikale Islamisierung
       
       Der Verfassungsentwurf aber bleibt aktuell. Und betrachtet man seinen
       Inhalt, wird deutlich, dass er keinesfalls einer radikalen Islamisierung
       Ägyptens Vorschub leistet. Zwar heißt es darin, dass die „Prinzipien der
       Scharia“ die Grundlage der Gesetzgebung darstellen sollen, aber genau das
       steht schon seit 1971 in der ägyptischen Verfassung. Die ultrakonservativen
       Salafisten wollten das Wort „Prinzipien“ gern mit dem Begriff „Regeln“
       ersetzen. Eine verschwindend kleine Minderheit von Liberalen wollte den
       Paragrafen ganz streichen. Beide konnten sich nicht durchsetzen.
       
       Vom Tisch ist auch der Vorschlag, dass die islamische Al-Azhar Universität
       automatisch alle Gesetze auf ihre Scharia-Festigkeit prüfen soll. Die Uni
       hätte damit einen Status wie der Wächterrat im Iran bekommen. Doch die
       Überprüfung der Gesetze bleibt wie zuvor im Einzelfall den Gerichten
       überlassen.
       
       Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ist festgelegt, wenngleich
       Frauenrechte keine besondere Erwähnung finden. Problematisch ist ein
       Paragraf, der immer noch mit Einschränkungen erlaubt, Zivilisten vor ein
       Militärgericht zu bringen, wenn sie Verbrechen begehen, die dem Militär
       schaden.
       
       Andererseits gibt es auch fortschrittliche Artikel. So wird die Amtszeit
       des Präsidenten auf zwei Perioden einschränkt und von jeweils sechs auf
       vier Jahre zurückgestutzt. Das garantiert, dass es keinen neuen Pharao
       geben wird.
       
       ## Konservativ, aber kein Gottesstaat
       
       Insgesamt ist der Verfassungsentwurf ein Werk, das keinen „Gottesstaat“
       schafft, aber den islamisch-konservativen Charakter der ägyptischen
       Gesellschaft widerspiegelt. Gleichzeitig stellt er sicher, dass die Zeiten
       Mubaraks endgültig vorüber sind.
       
       In jedem Fall wird es schwer sein, eine Mehrheit der Ägypter gegen den
       Inhalt des Entwurfs zu mobilisieren. Schon der Versuch, die
       Unzulänglichkeiten des Verfassungsentwurfs einem Kairoer Taxifahrer zu
       erklären, erntet nur ein höfliches Lächeln. Einen solchen Kampf haben die
       Gegner der Muslimbrüder schon im Vorfeld verloren.
       
       Sieht man vom Streit und der Polarisierung der politischen Elite ab, bleibt
       die stille Mehrheit der Ägypter jetzt die wichtigste politische Größe. Die
       ist es einfach leid, dass es in ihrem konkreten Leben nicht vorangeht. Die
       Details der Verfassungsdiskussion, wie sie nun seit Wochen debattiert
       werden, haben für sie wenig Bedeutung. Im Gegenteil, sie ist genervt, dass
       ihre konkreten Probleme von der sozialen Frage, über Löhne, Arbeitsplätze
       bis hin zur Müllabfuhr und dem Verkehr nicht gelöst werden.
       
       ## Die Masse will Antworten auf soziale Fragen
       
       Mal wendet sich diese stille Mehrheit gegen die Liberalen, die über
       Freiheits- und Bürgerrechte diskutieren, aber in der sozialen Frage bisher
       keinerlei Konzept vorgelegt haben. Mal wendet sie sich gegen die
       Muslimbrüder, die kaum etwas für die Lösungen der Probleme der
       Normalverbraucher vorgelegt haben, obwohl sie nun immerhin seit einem Jahr
       an der Macht sind – zunächst im Parlament und später im Präsidentenamt.
       
       Nach dem Entscheid über die Verfassung werden sich alle politischen
       Strömungen schnell auf die danach anstehenden Parlamentswahlen
       konzentrieren. Wenn die Liberalen und Linken das politische Momentum der
       letzten Tage ausnutzen und relativ geeint in diese Wahlen gehen und Fragen
       ansprechen, die die unzufriedene stille Mehrheit betreffen, dann haben sie
       gute Chancen, wahrscheinlich nicht die Mehrheit zu gewinnen, aber zumindest
       das Kräfteverhältnis im Parlament zu ihren Gunsten zu verschieben.
       
       ## Der Kampf im Wahllokal
       
       Denn eine Botschaft der Muslimbrüder ist bei all dem Foul-Spiel der letzten
       Wochen von beiden Seiten mehr als deutlich geworden: Am Ende gibt es nur
       einen Ort, an dem man die islamisch-konservativen Muslimbrüder und die
       ultrakonservativen Salafisten schlagen kann – und das ist das ägyptische
       Wahllokal. Das aber bedeutet viel Arbeit für Liberale, Linke und
       Frauenverbände.
       
       Und selbst wenn sich die Gewichte im Parlament verschieben sollten: Es muss
       bei allen politischen Strömungen Ägyptens die Erkenntnis reifen, dass sie
       die enormen Probleme des Landes nur mit einem Mindestmaß an Zusammenarbeit
       lösen werden. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass keine Seite die andere
       in die Ecke drängen kann.
       
       Solange die Liberalen und Linken die Muslimbrüder als dumme provinzielle
       Schafe verunglimpfen und die Muslimbrüder und Salafisten ihre Gegner als
       Ungläubige brandmarken, so lange werden die Ägypter politisch und
       wirtschaftlich auf der Stelle treten.
       
       2 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karim Gawhary
 (DIR) Karim El-Gawhary
       
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