# taz.de -- Chefarzt über Arzneistudien: „Wir müssen unabhängig bewerten“
       
       > Der Chef der Arzneimittelkommission, Wolf-Dieter Ludwig, über die
       > Beeinflussbarkeit von Studien, Tamiflu und neue Wirkstoffe.
       
 (IMG) Bild: „Künftig werden alle Studienberichte öffentlich zugänglich sein“, sagt der Chef der Arzneimittelkommission Wolf-Dieter Ludwig.
       
       taz: Herr Ludwig, Sie arbeiten hartnäckig an Ihrem Ruf als Pharmaschreck:
       Die [1][Europäische Arzneimittelbehörde EMA], deren Management-Board Sie
       seit Kurzem angehören, will ab 2014 sämtliche Studiendaten aller
       zugelassenen Medikamente veröffentlichen. Ein Tabubruch, der den
       Pharmastandort Europa gefährdet, klagen die Hersteller. Warum tun Sie das? 
       
       Wolf-Dieter Ludwig: Ich verstehe dieses Jammern nicht. Es geht hier nicht
       um frühe Phasen der Entwicklung eines Arzneimittels, die durchaus
       Geschäftsgeheimnisse beinhalten können. Sondern es geht [2][um die
       Offenlegung von Ergebnissen klinischer Studien] kurz nach der Zulassung
       eines Medikaments. An ihnen haben sich Patienten beteiligt in der Hoffnung,
       dass wissenschaftliche Erkenntnisse erarbeitet werden, die ihnen selbst
       vielleicht nicht, aber mittelfristig anderen Patienten nützen werden. Auf
       diese Daten hat die Öffentlichkeit ein Recht.
       
       Wieso? 
       
       Weil es eine Chance geben muss, Arzneimittel, die nur von der Industrie
       erforscht wurden, von unabhängigen Wissenschaftlern zu bewerten.
       
       Die Industrie manipuliert? 
       
       Methodisch sind die Pharmastudien oft in Ordnung, aber es gibt viele
       Parameter, die man so beeinflussen kann, dass das Arzneimittel vorteilhaft
       erscheint. Das geht vom Studiendesign über die Datenauswertung bis zur
       Interpretation der Ergebnisse. Oder man wählt nicht die richtige
       Vergleichssubstanz, dosiert zu niedrig oder bricht die Studie frühzeitig
       ab. Künftig werden alle Studienberichte öffentlich zugänglich sein,
       unabhängig davon, ob sie zuvor publiziert oder berücksichtigt wurden bei
       der Zulassung.
       
       Was bringt uns die neue Datenflut? 
       
       Die Gefahr, dass nur das Gute publiziert wird und das Schlechte in der
       Schublade bleibt, wird reduziert. Das ist wichtig, denn nur aus der
       Gesamtschau aller Studien ergibt sich ein realistisches
       Nutzen-Schaden-Profil eines Medikaments.
       
       Zum Beispiel vom Grippemittel Tamiflu: Aus Angst vor der Schweinegrippe
       verabschiedete Deutschland 2010 einen Pandemieplan, wonach im Notfall etwa
       20 Prozent der Bevölkerung mit dem Wirkstoff hätten versorgt werden müssen.
       Das nutzte vor allem der Industrie. Nur: Wäre in einem Klima der Panik
       wirklich etwas anders gelaufen, wenn man mehr Daten gekannt hätte? 
       
       Die Daten liegen immer noch [3][nicht komplett vor]. Insofern kann ich
       nicht sagen, ob man zu der Entscheidung hätte kommen müssen, Tamiflu gar
       nicht zu empfehlen. Aber sicher hätte man seinen Nutzen, der schon 2007
       kritisch gesehen wurde, mehr infrage gestellt. Möglicherweise wäre man auch
       zu der Einschätzung gekommen, dass die Verordnung und Einlagerung dieses
       Medikaments, für die weltweit rund 12 Milliarden Dollar ausgegeben wurden,
       nicht vertretbar war. Ich gehe nicht so weit, zu sagen, dass man Tamiflu
       durch Paracetamol ersetzen kann, aber wahrscheinlich ist es nicht weit
       entfernt von der Wahrheit.
       
       Immerhin sind Menschen nicht zu Schaden gekommen. 
       
       Durch Oseltamivir, also Tamiflu, vermutlich eher selten. Aber nehmen Sie
       das Schmerzmittel Rofecobix oder das Antidiabetikum Rosiglitazon: Ihre
       schweren Nebenwirkungen waren sehr früh bekannt, und dann legte die
       Industrie Studien auf, die diese Erkenntnis vermeintlich widerlegten – zum
       Schaden vieler Patienten.
       
       Hersteller fürchten, durch Offenlegung aller Daten werde ihr Medikament von
       Konkurrenten kopiert. 
       
       Wir reden hier von neu zugelassenen Arzneimitteln, die durch ein Patent
       geschützt sind! Viele dieser Arzneimittel, etwa die Wirkstoffe zur
       Krebsbehandlung, sind sehr teuer und haben ein riesiges Marktpotenzial. Da
       wollen wir Offenheit.
       
       Patientenvertreter klagen, wegen zu rigider Zulassungsverfahren würden
       ihnen Medikamente vorenthalten. 
       
       Diese Sorge kann ich nachvollziehen bei Krankheiten, für die wir nur wenige
       Alternativen haben, etwa beim fortgeschrittenen Lungenkrebs. Da ist es
       akzeptabel, dass wir ein neues Medikament zulassen, obwohl wir noch nicht
       alles wissen. Aber eben nur unter der Auflage, dass sich die Industrie
       verpflichtet, binnen zwei oder drei Jahren weitere Studiendaten vorzulegen.
       Tut sie das nicht, erlischt die Zulassung.
       
       2012 wurden in den USA 39 neue Wirkstoffe zugelassen, davon 13 zur
       Krebsbehandlung. Woran liegt das? 
       
       Der Bedarf ist enorm. Die demografische Entwicklung führt zu immer mehr
       Tumorerkrankungen. Dieser Markt ist lukrativ, Therapiekosten für einen
       Patienten liegen teils bei 50.000 bis 100.000 Euro pro Jahr. Schließlich
       ist die Industrie aufgrund guter molekulargenetischer Erkenntnisse aus der
       Grundlagenforschung zunehmend in der Lage, neue Wirkstoffe zu entwickeln.
       Wobei viele dieser Wirkstoffe alles andere als ein Durchbruch sind. Wir
       brauchen klinische Studiendaten für den gesamten Lebenszyklus eines
       Medikaments, besonders aus dem Versorgungsalltag. Das wird in Deutschland
       sträflich vernachlässigt.
       
       Wie lässt sich Forschung unter Alltagsbedingungen optimieren? 
       
       Aktuell etwa haben wir zwei, bald drei neue Medikamente zur Behandlung des
       fortgeschrittenen Prostatakarzinoms. Das ist gut, aber wir wissen überhaupt
       nicht, wie und wann wir diese Medikamente im Versorgungsalltag richtig
       einsetzen. Denn die Studien zur Zulassung wurden häufig nur mit Patienten
       gemacht, die jünger und in gutem Allgemeinzustand sind und deshalb auch
       eine bessere Prognose haben als die in der täglichen Praxis behandelten
       Patienten. Für sie brauchen wir deshalb unabhängige klinische
       Versorgungsforschung unmittelbar nach der Zulassung.
       
       Wer soll die bezahlen? Die Industrie wird argumentieren, dass ihre Arznei
       Marktzugang besitzt und basta. 
       
       Ich bin überzeugt, dass die Krankenkassen sich an diesen Studien finanziell
       beteiligen müssen. Denn sie profitieren: Stellt sich heraus, dass ein
       Medikament im Alltag gar nicht den versprochenen Nutzen hat, dann
       rechtfertigt diese Erkenntnis auch nicht die Erstattung seines hohen
       Preises.
       
       30 Mar 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.ema.europa.eu/ema/
 (DIR) [2] /Studien-zu-Arzneimitteln/!108379/
 (DIR) [3] /Pharmastudien-unter-Verschluss/!64240/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Haarhoff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Arzneimittelstudien
 (DIR) Medikamente
 (DIR) Klinische Studien
 (DIR) Medikamente
 (DIR) Daniel Bahr
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neue Arzneimittel bewertet: Zumeist ohne Zusatznutzen
       
       Ständig kommen neue Medikamente auf den Markt. Doch in den meisten Fällen
       bringt das nur der Pharmaindustrie mehr Umsatz, den Patienten aber nicht
       mehr Linderung.
       
 (DIR) EU-Regelungen für klinische Studien: Mehr Transparenz bei Pharmatests
       
       Die Veröffentlichung der Daten von klinischen Studien soll nach EU-Recht
       nun doch verpflichtend sein. Auch eine Genehmigung der Ethikkommission ist
       vorgesehen.
       
 (DIR) Nebenwirkungen von Medikamenten: Pharmarisiken gratis online
       
       Die Aufsichtsbehörde für Arzneimittel öffnet ihre Datenbank. Damit sind nun
       Verdachtsmeldungen zu medikamentösen Risiken sichtbar.
       
 (DIR) Säumniszuschlag bei Krankenkassen: Bahr will Wucherzinsen abschaffen
       
       Wer seine Krankenkassenbeiträge nicht rechtzeitig zahlt, muss mit 60
       Prozent Zinsen rechnen. Der Gesundheitsminister will säumige Versicherte
       entlasten.
       
 (DIR) Die geschönten Studien der Pharmaindustrie: Forschen fürs Geheimarchiv
       
       Gefährliche Geheimniskrämerei: Viele Patienten könnten noch leben, wenn
       alle unerwünschten Nebenwirkungen von Arzneimitteln veröffentlicht werden
       müssten.
       
 (DIR) Medizinische Forschung: Unbequeme Studien bleiben geheim
       
       Arzneimittelstudien werden oft nur veröffentlicht, wenn sie erfolgreich
       verlaufen sind. Pharmaexperten fordern nun eine Veröffentlichungspflicht
       für die Ergebnisse von Arzneimitteltests.
       
 (DIR) Arzneimittel bei Frauen: Der kleine Unterschied in der Medizin
       
       Medikamente wirken bei Frauen und Männern unterschiedlich. Dem trägt die
       Forschung nicht angemessen Rechnung, kritisiert eine Forscherin.
       
 (DIR) Medikamentenforschung: Probanden gesucht, weltweit
       
       Deutsche Arzneimittelstudien werden international. Um unter den
       Marktführern zu bleiben könnten deutsche Kliniken bald Tests in Osteuropa
       oder China durchführen.