# taz.de -- Debatte Soziale Gerechtigkeit: Die Löhne müssen steigen
       
       > Die Debatte über Gerechtigkeit konzentriert sich seit Jahren auf die
       > Sozialpolitik. Das ist falsch. Die Umverteilung von unten nach oben ist
       > das Problem.
       
 (IMG) Bild: Umverteilung könnte helfen.
       
       Das progressive Lager ist immer noch auf der Suche nach einer politischen
       Erzählung, die ausreichend mobilisierend wirkt, um die Dominanz
       konservativer Parteien in weiten Teilen Europas zu brechen.
       
       Dabei wird die Frage der sozialen Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielen
       müssen. Allerdings muss das Thema auf eine andere Art behandelt werden als
       in der letzten Phase linksliberaler politischer Dominanz in Europa.
       
       Spätestens seit den Zeiten des „Dritten Wegs“, im Grunde aber schon seit
       den 70er Jahren, ist eine weitgehende Verengung der linken (und grünen)
       Debatte über Gerechtigkeit und Ungleichheit auf die Frage des Umfangs von
       redistributiver Sozialpolitik zu beobachten.
       
       Nicht die Lohnquote, sondern Sozialausgaben und Steuerquoten wurden als
       zentrale Indikatoren einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft
       betrachtet und entsprechend kontrovers diskutiert.
       
       Das Problem der Aufteilung der Wertschöpfung zwischen Kapital und Arbeit
       blieb dagegen der politischen Kontroverse weitgehend entzogen und wurde
       gleichsam zur inneren Angelegenheit der Ökonomie erklärt. Damit ignorierte
       die Debatte die eigentliche Ursache der wachsenden Ungleichheit in fast
       allen OECD-Ländern. Diese liegt eben nicht in sinkenden Sozialausgaben oder
       restriktiven Sozialstaatsreformen à la Hartz IV. Vielmehr wurzelt sie in
       der deutlichen Verschiebung der Verteilung der Wertschöpfung zwischen
       Kapital und Arbeit.
       
       Diese Verschiebung hat zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben
       geführt. Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung zufolge betrug die Nettolohnquote
       1960 fast 56 Prozent, 1991 noch 48 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
       Heute dagegen ist sie auf 39,4 Prozent abgesunken, während parallel die
       Nettogewinnquote von 24,4 auf 34 Prozent stieg.
       
       ## Die Krankheit bleibt
       
       Wie hilflos redistributive Sozialpolitik gegenüber den Folgen dieser
       Verteilungsdynamik ist, lässt sich auch für Deutschland an einer Vielzahl
       von Indikatoren ablesen: vom Anstieg der gesellschaftlichen Ungleichheit
       über die anhaltende Stagnation der Realeinkommen bis zur Zunahme von
       Prekarisierungstendenzen auch in der Mitte der Gesellschaft.
       
       Der redistributive Arzt des Sozialstaats bekämpft eben nur die Symptome,
       nicht aber die Krankheit. Zudem drohen sich die Langzeitfolgen dieser
       Entwicklung zu einem Überforderungsprogramm für Sozialkassen und
       Staatshaushalte auszuwachsen. Dies gilt für die Milliarden-Unterstützung
       für sogenannte Aufstocker ebenso wie für die Langzeitfolgen der
       Lohnstagnation bei den Renten.
       
       Der Versuch, das wohlfahrtsstaatliche Niveau der Nachkriegszeit trotz der
       Verschiebungen der Primärverteilung aufrechtzuerhalten, ist ein treibender
       Faktor der expandierenden Staatsverschuldung in Europa.
       
       ## Spielraum trotz Globalisierung
       
       Angesichts dieser Entwicklungen erscheint eine Refokussierung der
       Gerechtigkeitsdebatte auf Fragen der politischen Ökonomie zwingend nötig.
       In deren Zentrum steht nun mal die Frage der Verteilung der Wertschöpfung
       zwischen Löhnen und Gewinnen.
       
       Eine einfache Aufgabe ist die Korrektur des Umverteilungstrends der letzten
       Jahrzehnte nicht: Globalisierung, europäische Integration, verfestigte
       Massenarbeitslosigkeit, Arbeitsmarktreformen und Zuwanderung haben zu einer
       erheblichen Einschränkung der Wirksamkeit staatlicher Politiken (aber auch
       gewerkschaftlicher Strategien) in diesem Bereich geführt. Das
       Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat sich zuungunsten des
       Faktors Arbeit verändert.
       
       Dennoch sind selbst im Rahmen pragmatischer Politikvorstellungen
       Handlungsmöglichkeiten vorhanden. Dies gilt natürlich zunächst einmal
       dafür, wie der Staat und die Sozialsysteme finanziert werden. Eine
       Entlastung des Faktors Arbeit – die sich unmittelbar auf das
       Nettolohnniveau durchschlagen würde – ist dringend geboten.
       
       ## Ansätze gibt es viele
       
       Aber auch die relative Verhandlungsmacht von Kapital und Arbeit innerhalb
       der Ökonomie wird eben immer auch durch die politische Rahmengestaltung
       beeinflusst. Erweiterte Mitbestimmungsrechte, Stärkung von
       Arbeitnehmerbeteiligungen an den Betriebsergebnissen, die Einführung von
       soliden Mindestlöhnen, die Reregulierung von Arbeitsmärkten, die Stärkung
       von Arbeitnehmerrechten und Organisationsmöglichkeiten für Gewerkschaften,
       eine offensive Lohnpolitik im öffentlichen Sektor, eine stärkere
       Besteuerung von Gewinnen und Spitzeneinkommen – mögliche Ansätze eines
       ernsthaft betriebenen „stakeholder capitalism“ gibt es viele.
       
       Dies gilt zumal für Deutschland, das aufgrund der relativen Stabilität
       seiner Staatsfinanzen die „Zweitschlagfähigkeit“ der Märkte (Claus Offe)
       weit weniger fürchten muss als andere Länder in Europa. Ziel der Politik
       muss es sein, die wachstumsschädliche Umverteilung von den Löhnen zu den
       Gewinnen der letzten Jahrzehnte zu korrigieren, die Entkoppelung von
       Produktivitäts- und Lohnentwicklung zu bekämpfen, den Sozialstaat von der
       Subventionierung unzureichender Arbeitseinkommen zu entlasten und die
       Finanzierung des Staates wieder auf breitere Schultern zu verteilen.
       
       ## Auch für Spanien gut
       
       Dies ist im Übrigen auch die einzige Möglichkeit, über die Stärkung der
       Nachfrageseite auf einen stabilen Wachstumspfad zurückzukehren und der
       wachsenden privaten und öffentlichen Verschuldung zu entkommen.
       
       Die verteilungspolitischen Spielräume für eine derartige
       nachfrageorientierte Politik gehen weit über das hinaus, was
       Sozialtransfers zu bewegen in der Lage sind: Stünde die Bruttolohnquote
       heute dort, wo sie 1980 stand, wäre die jährliche Bruttolohnsumme in
       Deutschland um knapp 184 Milliarden Euro höher.
       
       Diese Summe entspricht in etwa den addierten Budgets der Ministerien für
       Arbeit und Soziales, Gesundheit, Bildung und Forschung, Familie und
       Verteidigung.
       
       Die soziale und ökonomische Hebelwirkung, die von einer besseren
       Primärverteilung ausgehen würde, kann nicht überschätzt werden.
       
       Dass damit auch ein Beitrag zur Ankurbelung von Binnennachfrage und
       Importen und damit zur Abschwächung der europäischen
       Handelsungleichgewichte geleistet werden könnte, ist ein Zusatzeffekt, den
       vor allem unsere europäischen Partner zu schätzen wüssten.
       
       9 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ernst Hillebrand
       
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