# taz.de -- Tödlicher Schuss am Neptunbrunnen: Das Leben ist kein Film
       
       > In Berlin wurde ein Mann von einem Polizisten erschossen. Davon gibt es
       > ein Video. Die es gesehen haben, glauben: Der Beamte hat falsch
       > gehandelt. Wirklich?
       
 (IMG) Bild: Blumen am Neptunbrunnen zur Erinnerung an den Toten.
       
       Eine Minute und zwölf Sekunden ist das Filmchen lang, das bei Youtube
       gerade hohe Klickzahlen erreicht. Zu sehen ist eine verstörende Szene: Ein
       Polizist erschießt einen mit einem Messer bewaffneten, verwirrten, nackten
       Mann.
       
       Der tödliche Schuss fiel am vergangenen Freitag in Berlin im Neptunbrunnen
       vor dem Roten Rathaus. Gleich daneben erhebt sich der Fernsehturm. Der Film
       beginnt mit einer Einstellung, in der ein Polizist mit erhobener Pistole im
       Becken steht. Ein großer, nackter Mann mit einem Gegenstand in der Hand
       bewegt sich im Wasser auf ihn zu. Es ertönt der Ruf: „Messer weg! Messer
       weg!“
       
       Der Mann schreitet weiter auf den Beamten zu. Der weicht zurück, bis er an
       den Brunnenrand stößt und nicht mehr weiterkann. Der Nackte ist ungefähr
       zwei Armlängen von dem Beamten entfernt, da ertönt ein Schuss. Unmittelbar
       nach dem Knall stolpert der Beamte in einer Halbdrehung über den Rand des
       Brunnen nach draußen. Der Getroffene stockt, macht noch zwei Schritte nach
       vorn, bleibt stehen, taumelt zurück, versucht, sich an einer der
       Bronzefiguren im Becken festzuhalten, rutscht ab. Dann sackt der Körper ins
       Wasser.
       
       Noch im Rettungswagen stirbt der 31-jährige Mann. Laut Polizei hat der
       Schuss die Lunge getroffen. Auf dem Video ist zu erkennen, dass bei der
       Schussabgabe ein knappes Dutzend Bereitschaftspolizisten vor Ort sind,
       viele davon stehen mit gezogener Pistole um den Brunnen herum. Die
       Staatsanwaltschaft hat gegen den Schützen ein Ermittlungsverfahren
       eingeleitet.
       
       Vieles spreche für Notwehr, hat ein Sprecher schon am Freitag signalisiert.
       Auch Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) und die Polizeigewerkschaften
       sind dieser Auffassung.
       
       ## Schusswaffeneinsatz vermeiden
       
       Zwischen Politikern, in den Medien, in Internetforen ist eine heftige
       Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes entbrannt. Viele
       Menschen sind empört: Die Polizei hätte auch andere Möglichkeiten gehabt zu
       handeln, so ist häufig zu hören. Etwa, indem der Beamte dem Mann in den Arm
       schießt und ihn damit entwaffnet.
       
       Und natürlich ist diese Kritik mehr als berechtigt. Schließlich werden
       Polizisten zum Schutz der Menschen ausgebildet. Jeder Polizist, der täglich
       mit Pistole im Halfter Dienst schiebt, muss vier- bis sechsmal im Jahr zur
       Fortbildung. Geübt wird nicht nur der Umgang mit der Waffe. Fast noch
       wichtiger ist, den Schusswaffeneinsatz zu vermeiden. Beim
       Einsatzlagentraining geht es darum, das Gespräch mit dem Gegenüber zu
       suchen und zuvörderst mildere Mittel wie Schlagstock und Pfefferspray
       einzusetzen.
       
       Doch auch wenn die Waffe im Dienst oft gezogen wird, kommt es im einfachen
       Streifendienst fast nie zur Schussabgabe. Die Situation im Brunnen war eine
       extreme. Und so etwas kann oft geübt worden sein, doch im wirklichen Leben,
       wenn sich das Gegenüber mit dem Messer unmittelbar auf den Polizisten
       zubewegt und die Entscheidung in Bruchteilen von Sekunden gefällt werden
       muss, seien es mehr Reflexe als Überlegungen, die über das Handeln
       entscheiden, sagt ein langjähriger Beamter. Jeder Mensch, der mal in einem
       Kampf mit Messern verwickelt war, wisse, wie gefährlich diese Waffe sei.
       Abstrakt sei jedem Polizisten klar, dass er möglichst verhältnismäßig zu
       reagieren habe. „Aber der Selbsterhaltungstrieb hat in so einer Situation
       ganz klar die Oberhand“, sagt der Schusswaffenexperte.
       
       Das Video kann man vor- und zurückspulen. Da ist es leicht, sich zum
       Richter aufzuspielen. Aber das Leben ist kein Film. Die Kritik an dem
       Vorgehen im Neptunbrunnen müsste viel früher ansetzen.
       
       Warum ist der Polizist überhaupt allein zu dem Verwirrten in den Brunnen
       gestiegen? „Letztlich hat der Beamte die Notwehrsituation selbst
       herbeigeführt“, sagt ein Polizeikenner. Dem ist nichts hinzuzufügen.
       
       1 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Plutonia Plarre
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Polizei
 (DIR) Berlin
 (DIR) Polizei
 (DIR) Neptunbrunnen
 (DIR) Taser
 (DIR) Polizei Berlin
 (DIR) Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Verbrecherjagd mit der Net Gun: „Netzen“ statt schießen
       
       Sie wird als Waffe gepriesen, die nicht tötet. Zudem ist sie leise beim
       Abschuss. Die Netzpistole wird in den USA und China immer beliebter.
       
 (DIR) Polizeigewalt in Berlin: „Texanische Verhältnisse“
       
       Im Oktober 2012 stirbt André Conrad durch Polizeikugeln. Handelten die
       Beamten unverhältnismäßig? Anwalt Hubert Dreyling glaubt: ja.
       
 (DIR) Interview mit Polizeiausbilder: „Reaktion trainieren“
       
       Nach dem tödlichen Polizeieinsatz am Neptunbrunnen: Psychologe und
       Polizeiausbilder Wim Nittelnsroth über den Umgang mit psychisch Kranken.
       
 (DIR) Polizeieinsatz in Berlin: Elektroschocks bringen nichts
       
       Nach dem tödlichen Schuss am Neptunbrunnen bringt Innensenator Henkel den
       Einsatz von Tasern ins Spiel. Der Koalitionspartner lehnt das ab.
       
 (DIR) Kommentar Polizei-Todesschütze: Mehr Facebook-Videos bitte!
       
       Notwehr soll der Schuss des Berliner Polizisten gewesen sein, tröten
       Polizei und Politik im Einheitschor. Die polizeiinternen Standards müssen
       sofort geändert werden.
       
 (DIR) Nach dem Einsatz am Neptunbrunnen: Ein Schuss wirft Fragen auf
       
       Die Debatte um Elektroschocker für Polizisten flammt neu auf. Experten
       bezweifeln, dass der Schütze in Notwehr handelte.
       
 (DIR) Tod vor dem Roten Rathaus: Video zeigt Polizeischuss
       
       Ein Beamter erschießt in Berlin einen nackten Mann mit Messer. Das war
       Notwehr, behauptet die Polizei. Ein Video zeigt, was passiert ist.