# taz.de -- Herfried Münkler über die NSA-Affäre: „Mit Jammern ist es nicht getan“
       
       > Deutschland braucht einen mächtigen Geheimdienst, sagt Staatstheoretiker
       > Herfried Münkler. An den Schnüffeleien der NSA sei Europa selbst schuld.
       
 (IMG) Bild: Eine Situation der Ohnmacht: „Deutschland ist abhängig von der Spähtechnologie der Amerikaner.“
       
       taz: Herr Münkler, ich wollte mal hören, ob alles in Ordnung ist. 
       
       Herfried Münkler: In welcher Hinsicht?
       
       Die NSA, das Kanzlerhandy, die Weltlage halt. 
       
       Nur weil das Handy von Frau Merkel abgehört wurde, hat sich ja die Weltlage
       noch nicht verändert.
       
       Also alles so weit in Ordnung. 
       
       Nein. Wir sehen gerade, dass es nicht in Ordnung ist, wie die Deutschen und
       die Europäer von amerikanischen Fähigkeiten abhängig und wie sehr sie ihnen
       ausgeliefert sind.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Wer mit den USA in ein Verhältnis eintreten will, das durch Respekt
       gekennzeichnet ist, muss auch etwas haben, das Respekt verdient. Derzeit
       wird uns ein No-Spy-Abkommen angepriesen, bei dem die Voraussetzung
       offenbar ist, dass Deutschland nicht über die technischen Fähigkeiten
       verfügt, zu überprüfen, ob es auch eingehalten wird.
       
       Was würden Sie besser machen? 
       
       Wer mit den USA auf Augenhöhe reden will, müsste im Prinzip die
       Möglichkeiten haben, auch Herrn Obama abzuhören – jedenfalls solange die
       USA die Fähigkeit haben, Politik und Wirtschaft in Europa auszuspähen.
       
       Das hört sich ja nach Kaltem Krieg an. 
       
       Deutschland befindet sich in einer Situation der Ohnmacht. Das Land ist
       abhängig von der Spähtechnologie der Amerikaner. Und dass die Kanzlerin
       abgehört wird, hat die deutsche Spionageabwehr nicht verhindert. Sie hat es
       offenbar nicht einmal gewusst. Nicht Deutschland allein, aber Europa
       insgesamt muss in zentralen Fragen strategische Ziele formulieren können,
       ein strategisches Bewusstsein und strategische Fähigkeiten entwickeln. Es
       wird im 21. Jahrhundert weltweit vier oder fünf handlungsfähige Mächte
       geben, und die Europäer sollten ein Interesse daran haben, dabei zu sein
       und nicht überall betteln gehen zu müssen.
       
       Sie sagen, es braucht eine europäische NSA? 
       
       Im Prinzip ja: Der Verzicht auf bestimmte Fähigkeiten ist nur dann
       überzeugend, wenn man diese Fähigkeiten überhaupt hat. Ein Schwächling, der
       auf dem Schulhof den stärkeren Jungs großzügig anbietet, sie heute einmal
       nicht zu verhauen, ist nur eine Witzfigur, eine Karikatur.
       
       Stärke bemisst sich doch nicht nur in den Mitteln der anderen. Stünde es
       Europa nicht gut an, sich auf ein Projekt der Bürgerrechte, der sicheren
       Infrastruktur, der digitalen Grundrechte zu besinnen? Kurz, ein Europa der
       Abwehr statt des Angriffs? 
       
       Sie können hier nicht einfach defensiv und offensiv trennen. Wer in der
       Quantenkrypthografie ein paar Schritte nach vorn gemacht hat, weiß auch,
       wie er andere knackt. Die Idee einer Nichtangriffsfähigkeit ist ja nicht
       verkehrt, aber als Beiprodukt wird immer die Angriffsfähigkeit mit
       herauskommen.
       
       Sie sehen die Hauptfehler bei den naiven Deutschen. Warum tun sie sich so
       schwer damit, zu sagen: Das massenhafte Ausspähen durch US-Geheimdienste
       ist ein Angrif auf das Grundgesetz? 
       
       Meinetwegen. Aber mit Jammern und Klagen ist es nicht getan. Man muss auch
       in der Lage sein, das Grundgesetz zu schützen. Es geht dabei um ein
       größeres Problem: Es stellt sich heraus, dass der mit dem Grundgesetz eng
       verbundene Leitbegriff der nationalen Souveränität hier ebenso schwach ist
       wie in Fragen der Währung oder der Verteidigung. Rechtsgeltung und
       Territorialität sind entkoppelt. Daraus folgt, dass es Antworten darauf
       braucht, wie wir in Europa ein Souveränitätsparadigma erweitern, das noch
       immer an die historische Situation anknüpft, in der die Territorialstaaten
       das Maß aller Dinge waren.
       
       Waren Sie denn gar nicht überrascht vom Ausmaß der weltweiten US-Spionage? 
       
       Ich wäre eher überrascht gewesen, wenn die USA nicht alle Möglichkeiten
       nutzen würden, die sie haben. Wir mussten schon immer davon ausgehen,
       belauscht zu werden. Im 16. und 17. Jahrhundert haben die Venezianer die
       Mechanismen und Organisation der Wissensgewinnung und -speicherung
       kultiviert, um sich gegenüber ihren Gegnern – den europäischen
       Territorialstaaten oder dem Osmanischen Reich – gewisse Wissensvorsprünge
       zu sichern. Sie begannen, ihre Botschafter und Gesandtschaften mit
       Instruktionen auszustatten, um Wissen über Land und Leute, über die
       Ressourcen und Absichten ihrer Gegner zu bekommen. Als ein relativ
       schwacher Akteur waren sie darauf angewiesen, mit einer gewissen Sicherheit
       antizipieren zu können, welche strategischen Züge die andere Seite macht
       und machen kann.
       
       Haben die Venezianer auch ihre Bevölkerung überwacht? 
       
       Ja. Berühmt ist der Briefkasten für anonyme Denunziationen. Soziale
       Kontrolle wurde in politische Kontrolle verwandelt. Die Privatsphäre ist
       erst eine bürgerliche Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Die Erfindung
       der Rasterfahndung in den 1970er Jahren war in mancher Hinsicht ein
       Substitut dafür, dass in der Anonymität der Wohnsilos diese herkömmliche
       soziale Kontrolle weggefallen war. Wir sollten also nicht
       überdramatisieren, was wir heute betrachten. An die Stelle der sozialen
       sind technische Kontrollagenturen getreten.
       
       Heute hätten viele Menschen gern ein echtes Recht auf die Verschlüsselung
       ihrer Daten. 
       
       Sie haben doch jedes Recht, sich ein verschlüsseltes Handy zu kaufen.
       
       Das kostet 2.500 Euro, nervt in der Handhabung, und es lassen sich nur
       Leute anrufen, die auch so ein Ding haben. 
       
       Warum haben die Russen 1914 die Schlacht bei Tannenberg verloren? Weil sie
       ihre Informationen nicht chiffriert haben. Warum haben sie nicht
       chiffriert, obwohl sie Chiffriergeräte hatten? Weil sie auf der Divisions-
       und Regimentsebene keine Bücher zur Dechiffrierung hatten. Deshalb mussten
       die Befehle offen gegeben werden. So wusste die deutsche Seite über die
       Operationen der Russen Bescheid. Ähnlich ist es heute. Sie können sich ein
       Kryptohandy kaufen, aber es wird nur wenige geben, mit denen sie dann
       kommunizieren können. Das Problem ist nicht, dass sie es nicht haben
       können. Das Problem ist Ihre Präferenzentscheidung. Wie viel Geld wollen
       Sie ausgeben, um sich zu schützen? Und auf wie viele Kontakte wollen Sie
       verzichten?
       
       Es könnte doch eine staatspolitische Aufgabe sein, diese Technologie
       massenkompatibel zu machen, also Standards zu formulieren, die einen
       echten, materiellen Rechtsschutz gewähren, damit meine Verfassung auch
       etwas wert ist. 
       
       Dann muss der Steuerzahler finanzieren, dass man keine
       Präferenzentscheidung treffen muss. Verschlüsselung hat Kosten: Geld und
       soziale Kontakte. Ich selbst etwa will gar keine verschlüsselte
       Kommunikation. Wenn ich wirklich etwas Wichtiges besprechen will, dann kann
       ich das in geeigneten Formen tun, etwa persönlich.
       
       Ich übersetzte mal: Es ist NSA-Skandal und Sie sagen: „Gebt uns keine
       Briefumschläge, uns reichen Postkarten!“ 
       
       Nein, jeder hat das Recht, seine Kommunikation zu verschlüsseln. Wieso
       sollte der Staat das zur Pflicht machen?
       
       Vielleicht weil es nötig ist. 
       
       95 Prozent unserer Handykommunikation ist Informationsmüll. All die
       Gespräche, die ich in der U-Bahn höre, muss kein Mensch verschlüsseln. Die
       Leute sprechen so laut, dass der ganze Waggon es versteht. Und was die
       Leute da sagen, ist zumeist banal, überflüssig und Zeitverschwendung. Jeder
       Euro zum Schutz dieser ausgetauschten Informationen wäre rausgeschmissenes
       Geld. Wir würden in einen teuren Rüstungswettlauf eintreten für nichts.
       Strategisches Denken ist Konzentration auf zentrale Ziele bei begrenztem
       Ressourceneinsatz. Wir sollten das schützen, was als Geheimnis wirklich
       wertvoll ist.
       
       Sie geben die Schuld den Einzelnen und vertrauen darauf, dass die USA artig
       mit den Daten umgehen. 
       
       Nein, das läge mir völlig fern. Die USA haben ihre eigenen Interessen.
       Unsere sind damit nicht identisch. Aber ich will darauf hinweisen, dass die
       Folgen, die wir derzeit spüren, auch ein Ergebnis gesellschaftlicher und
       politischer Gleichgültigkeit in Europa sind.
       
       Was ist nicht totalitär daran, dass der private Kommunikationsbereich jedes
       Menschen von einer Behörde überwacht, protokolliert und nach Belieben
       gespeichert werden kann? 
       
       Im strengen Sinn wäre es totalitär, wenn die Behörde daraus
       Steuerungsmechanismen entwickelt, um uns in unseren Meinungen und
       Verhaltensweisen zu lenken und zu kontrollieren. Die alten totalitären und
       posttotalitären Staaten haben über den Leib zugegriffen. Dissidenz wurde
       mit Repression beantwortet. Wir haben es hier mit etwas anderem zu tun. Die
       Überwacher müssen den Körper nicht mehr erledigen, um den Willen zu
       erledigen.
       
       In Ihrer Theorie nennen Sie vier Kriterien für ein Imperium. Die Herrschaft
       über das Netz gehört nicht dazu. 
       
       Sie ist aber ein wesentliches Element imperialer Macht. Darin sind Elemente
       ökonomischer, kultureller und politischer Macht gebündelt. Es geht dabei
       auch um die Frage, was im 21. Jahrhundert eine Waffe ist. Und was die Räume
       sind, die man kontrollieren muss, um Herrschaft auszuüben. Darüber muss man
       nachdenken, wenn man aus der NSA-Affäre lernen will. Die selbstverliebten
       Jammerer dagegen haben schon aufgegeben, sich und ihre Rechte zu
       verteidigen. Sie wissen nämlich nicht, was verteidigen ist. Aber darum geht
       es. Sie können Spähstrategien als Kompensation für Kriegsstrategien
       verstehen. Wir könnten auch hämisch sagen: Das ist die wahre Humanisierung
       des Krieges.
       
       19 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Kaul
       
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