# taz.de -- Herfried Münklers Buch zum 1. Weltkrieg: Leichtsinn, Zufall und Paranoia
       
       > Politikwissenschaftler Herfried Münkler breitet auf 900 Seiten ein
       > Panoramabild des Ersten Weltkriegs aus. Seine These: Das Desaster war
       > nicht zwingend.
       
 (IMG) Bild: Das österreichische Thronfolgerpaar wenige Augenblicke vor dem tödlichen Attentat am 28.06.1914 – der Rest ist Geschichte.
       
       Im Stellungskrieg an der Westfront gab es etwas Neues, in keiner Schlacht
       zuvor Dagewesenes. „Höchstens 80 m vor uns liegen ca. 6–8 tote Franzosen,
       die ungefähr schon zwei Monate alt sind. Durch mein Fernglas bemerke ich
       die aschfahle, fast schwarze Verwesungsfarbe im Gesicht des einen“,
       notierte Ernst Jünger am 4. Januar 1915.
       
       Der Literat Robert Ranke-Graves, der aufseiten der Briten kämpfte, schrieb:
       „Ein widerwärtiger Geruch wehte zu uns herüber. Die Gesichter der Toten
       wurden zunächst fahl, dann gelblich-grau, rot, purpur-grün und schwarz, bis
       sie zum Schluss die Farbe des Schlammes annahmen“. Dass Leichen wochen- und
       monatelang im Niemandsland zwischen den Fronten verwesten, war neu. Auch
       wenn die Toten oder die Reste der Körper bestattet worden waren, war das in
       Frontnähe keine Ruhestätte. Das Trommelfeuer der Artillerie pflügte auch
       die frischen Gräber um.
       
       Der Erste Weltkrieg kostete 17 Millionen das Leben. Er war der erste
       industriell geführte totale Krieg. Im deutschen Kollektivgedächtnis spielt
       er keine große Rolle. Er gilt hierzulande, ganz anders als in Frankreich
       und Großbritannien, als Vorgeschichte der wahren Katastrophe, des Zweiten
       Weltkrieges.
       
       Der Erste Weltkrieg wurde, so Herfried Münkler, „bloß noch als
       Ausgangspunkt einer Erzählung von deutscher Hybris und deutscher Schuld
       betrachtet“, anstatt kühl Entscheidungsabläufe und Langzeitwirkungen zu
       studieren. Die Schlüsselfragen, die in Münklers Kriegspanorama „Der Große
       Krieg“ verhandelt werden, sind die bekannten: Warum kam es zum Krieg? Warum
       waren die Mächtigen in Berlin, Paris und London unfähig, ihn zu beenden,
       obwohl die Offensiven Millionen Soldaten das Leben kosteten, ohne den Sieg
       näher zu bringen? Was war aus deutscher Sicht eigentlich Sieg?
       
       ## Kein zwingendes Desaster
       
       Es gab, so Münklers zentrale These, keinen zwingenden Weg in das Desaster.
       Der August 1914 war nicht, wie es Fritz Fischer 1961 skizziert hatte, das
       logische Ergebnis des deutschen Militarismus. Zwar drängten Generale vor
       1914 zum Präventivkrieg gegen Frankreich. Berühmt wurde Generalstabschef
       Helmuth von Moltkes knappe Formel: „Je eher, desto besser“. Doch die
       meisten in den politischen Eliten, nicht nur in Berlin, hielten einen
       großen Krieg für möglich, aber unwahrscheinlich und vor allem für nicht
       führbar. Reichskanzler Bethmann Hollweg setzte eher auf Ausgleich. Die
       Ökonomien waren ja so vernetzt wie noch nie.
       
       Vor 1914 schienen sich die imperialen Konkurrenzen eher beruhigt zu haben.
       Das Bild hat insofern mehrere Seiten: In Berlin planten kriegslüsterne
       Militärs, die unzureichend von Politikern im Zaum gehalten wurden, den
       Krieg. Doch wie passt die strategische Kriegsplanung des Deutschen Reichs
       zu der Tatsache, dass im Herbst 1914 die Munition knapp wurde?
       
       Zum Krieg kam es, so Münkler, aus einer Mischung aus Leichtsinn, Zufall und
       strukturellen Gründen. Das Deutsche Reich, eine rasch und rüde aufstrebende
       Wirtschaftsmacht wie China heute, war in der Mitte Europas nicht stark
       genug, um den Kontinent zu beherrschen. Und nicht schwach genug, um zu
       verstehen, dass es auf Frieden angewiesen war. Das Deutsche Reich wähnte
       sich eingekreist – Frankreich und Großbritannien wiederum glaubten sich von
       dem deutschen Großmachtgehabe bedrängt. Die prekäre deutsche Mittellage war
       in dieser Sichtweise doch ein entscheidender Faktor: Nährlösung für die
       Paranoia auf allen Seiten, die im Juli 1914 die Katastrophe beschleunigte.
       It’s Geopolitik, stupid!
       
       Schon sechs Monate nach dem Überfall Deutschlands auf Belgien waren mehr
       als drei Millionen Soldaten tot, verwundet oder gefangen genommen worden.
       Die deutsche Generalität ahnte, dass der Krieg nach dem Scheitern des
       Schlieffen-Plans, des als Blitzkrieg im Westen geplanten Feldzugs, kaum zu
       gewinnen war. Doch gerade weil es schon so viele Opfer gegeben hatte, wurde
       weiter gekämpft, mit noch mehr Tonnen von Granaten, Toten.
       
       ## Analyse des Versagens
       
       Münkler ist kein Historiker, sondern Politikwissenschaftler. Er hat anders
       als Christopher Clarke, der in „Die Schlafwandler“ akribisch die
       Vorgeschichte des Krieges rekonstruiert hat, keine Quellenbestände
       durchforstet. „Der Große Krieg“ ist im Kern die Analyse des Versagens des
       politisch-militärischen Komplexes im wilhelminischen Deutschland. Es ist
       der Versuch, die Binnenlogik nachzuzeichnen, in der sich die Akteure – die
       Militärs Moltke, Erich von Falkenhayn und Erich Ludendorff und Kanzler
       Bethmann Hollweg – bewegten.
       
       „Der Große Krieg“ entwirft ein facettenreiches Bild. Wir springen von den
       verwüsteten Schlachtfeldern Flanderns in die Strategien des deutsche
       Generalstabs, von Schilderungen der weitgehend in Vergessenheit geratenen
       Verheerungen an der Ostfront zu dem Anfall kollektiver Todessehnsucht, der
       Künstler befiel.
       
       ## Wahn der Künstler
       
       Ernst Barlach schrieb: „Opfern ist eine Lust, die größte sogar.“ Der Maler
       Franz Marc: „Die Welt will rein werden, sie will den Krieg.“ Thomas Mann
       adelte den preußischen Militarismus zur „deutschen Moralität“.
       
       Ein Novum dieses Krieges war auch, dass sich deutsche Professoren als
       Einpeitscher betätigten, die militärisch kenntnisfrei alles jenseits eines
       Siegfriedens als Verrat denunzierten. Es gab zuhauf nationalistische
       Akademiker, die im Massenschlachten ein Mittel gegen das Vordringen
       „französischen Kokottentums“ an die deutschen Universitäten sahen. Der
       politisch irrende Intellektuelle ist hierzulande keineswegs nur eine Figur
       der Linken. Die irrwitzigen Weltmachtfantasien deutscher Bellezisten
       machten die ohnehin zaghaften Versuche, politische Lösungen zu finden, noch
       schwieriger.
       
       Der böse imperiale Traum von einem Deutschland vom Atlantik bis zum Ural
       war ein Grund, warum der Krieg immer weiterging. Weil das Deutsche Reich
       uneins über den Sieg war, war es unfähig zu Kompromiss und Frieden, zumal
       die zivile Politik bis 1918 immer mehr unter die Fuchtel des Militärs
       geriet.
       
       Als Gegenfigur inszeniert Münkler den Liberalen und Soziologen Max Weber.
       Der war ein eifriger Anhänger des deutschen Kolonialismus, aber nach 1914
       einer der wenigen pragmatischen Köpfe. Das Debakel des wilhelminischen
       Deutschlands war, so die These, weniger der Überfall auf Belgien oder der
       Gaskrieg. Es war die Unfähigkeit zu begreifen, dass der Krieg nicht zu
       gewinnen war. Eine Blindheit, die in der Eskalation des U-Boot-Krieges
       gipfelte.
       
       ## Unübersichtliches Gefecht
       
       Münkler entfaltet gut lesbar ein Panorama des Krieges. Dieser Krieg, so das
       Credo, hätte „mit mehr politischer Weitsicht vermieden werden können“. Das
       ist ein scharfes Dementi zu Lenins Imperialismustheorie, derzufolge der
       Krieg das Resultat kapitalistischer Konkurrenz war.
       
       Ist das überzeugend? Zwangsläufig ist kaum ein historisches Ereignis: Auch
       die Französische Revolution 1789 oder die Russische 1917 waren nicht
       zwangsläufig und wären, wenn die herrschenden Eliten klüger gewesen wären,
       vermeidbar gewesen. Historische Konjunktive sind stets etwas ungefähr. Das
       unübersichtliche Geflecht von Bedingungen, Zufällen, Interessen existiert
       ja fast immer. Der Debatte um 1914 würde ein intelligentes Update der
       Imperialismustheorie jedenfalls guttun.
       
       Warum soll uns dieser Krieg heute noch interessieren? Sind Pickelhauben und
       Preußendrill nicht längst versunkene Vorgeschichte? Reichskanzler Bethmann
       Hollweg strebte nach 1914 „einen mitteleuropäischen Wirtschaftsverband mit
       Frankreich, Belgien, Holland, Polen, Österreich-Ungarn, Dänemark unter
       äußerlicher Gleichberechtigung, aber tatsächlich unter deutscher Führung“
       an. Deutschland als ökonomische Leitmacht in einer Nord-EU, das klingt auch
       2013 ziemlich vertraut.
       
       Ist Deutschland wieder in der prekären Situation, für die Rolle des
       Hegemonen in Europa zu klein zu sein und zu groß als einer unter vielen –
       nur dass nicht mehr mit Flottenaufrüstung, sondern mit Kreditlinien
       gekämpft wird? Münkler riskiert keine Prognose. Er zweifelt leise, ob die
       Mittellage 2013 „noch die Bedeutung hat wie zu Beginn des 20.Jahrhunderts“.
       Der Schlüssel, die Furien der Konkurrenz zu bändigen, liegt wie damals im
       deutsch-französischen Verhältnis. Solange diese Achse funktioniert, bleibt
       Europa pazifiziert.
       
       2 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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