# taz.de -- Sexuelle Revolution in Berlin: Die Luft war voller Sehnsucht
       
       > Viel Sex ist gleichbedeutend mit viel Glück: Diese Gleichung
       > funktionierte schon in den 70er Jahren nur bedingt. Westberlin war ein
       > Großversuch.
       
 (IMG) Bild: Ein Sexsymbol für ClubgängerInnen in den 70ern: Bryan Ferry, 2004.
       
       Macht viel Sex besonders glücklich und macht das vielfältige Angebot von
       Sex superglücklich? Dazu gab es eine Art unfreiwilligen Großversuch im
       West-Berlin der 70er und frühen 80er Jahre. Der hatte mit schlichten
       Zahlenverhältnissen zu tun.
       
       West-Berlin war damals eine Art Losbude, bei der Frauen die größere Auswahl
       hatten, was das Angebot an Männern betraf. Der Grund war einfach: Junge
       Männer, die sich der Wehrpflicht entziehen wollten, gingen nach
       West-Berlin. Dort gab es keinen Wehrdienst. Die Folge war ein klarer
       Männerüberschuss, nicht nur an der Uni, sondern auch in Kneipen, Diskos und
       Bars. Frauen, die damals um die 20 Jahre und älter waren und ein paar
       optische Kriterien erfüllten, sahen sich einem Angebot gegenüber, das zum
       weiblichen Größenwahn hätte führen können, wenn es nicht auch ein bisschen
       unheimlich gewesen wäre.
       
       „Man wusste halt nicht, ob man wirklich so gemeint war, als Person“, sagt
       eine Freundin in Erinnerung an diese Tage. Das Bierglas in der Hand,
       diskutierten Männer im Dschungel mit der Gesprächspartnerin gerne über
       Wilhelm Reich, Triebbefreiung und Charakterpanzer. Was ein zweideutiges
       Gefühl hervorrief. Das zweideutige Gefühl verstärkte sich, wenn einem der
       männliche Gesprächspartner im Laufe des Abends vorwarf, irgendwie zu
       „verkopft“ und zu „unlocker“ zu sein, nur weil man ein bisschen auf Distanz
       gegangen war.
       
       Die Szenekneipe Dschungel war zuerst noch nicht in der Nürnberger Straße,
       sondern am Winterfeldplatz angesiedelt. Man ging mehrmals in der Woche hin,
       ein paar passende Klamotten an, Secondhand, vielleicht ein bisschen 30er
       oder auch 50er-Jahre-Look. Blondgefärbte Haare galten damals als prolo,
       hennarot war besser. Mini war okay, musste aber nicht sein. Es waren die
       Jahre nach Einführung der Pille und vor der Bedrohung durch Aids. Kurz:
       größtmögliche Freiheit. Eigentlich.
       
       ## Sehnsucht nach Nähe
       
       Aber zu ständigen Glücksgefühlen führte das keineswegs. Nicht, weil man
       sich als Objekt fühlte und irgendwie benutzt. So etwas ließ sich steuern,
       denn es gab auch jede Menge Männer, die nichts gegen menschlichen Kontakt
       einzuwenden hatten, auch jenseits von Sex. Die sensible Kombination aus
       Psyche und Physis vieler Männer ist ohnehin nur bedingt geeignet für
       schnellen Sex mit einer Unbekannten, was Sexualwissenschaftler als
       „Impotenz der ersten Nacht“ bezeichnen. Aber darüber redete man damals
       lieber nicht, obwohl das doch eigentlich für die Empfindsamkeit der Männer
       sprach.
       
       Der Grund, warum viel Sex nicht unbedingt das Glückslevel steigert, deutet
       sich damit schon an: Wenn der emotionale Kontext fehlt, entsteht kein
       Gefühl von Nähe. Der französische Autor Michel Houellebecq schrieb zwar,
       Sex sei immer noch die beste Art, einem Menschen nahe zukommen. Das ist
       auch richtig, doch dazu braucht man einen Kontext. Dieser hat etwas mit
       Vorlauf zu tun, mit Phantasie und Hoffnung. Und schafft erst die
       Voraussetzung für das überwältigende Gefühl von Nähe, wenn eine Begegnung
       auf seelischer und körperlicher Ebene gelingt. Das ist Glück. Die Psyche
       ist überfordert damit, diesen Kontext bei ständig wechselnden Partnern
       herzustellen.
       
       Hatte man einen Partner getroffen, mit dem man länger zusammen bleiben
       wollte, war man damit beschäftigt, die Kombination von Sex, Verbindlichkeit
       und Freiheit auszuhandeln. Paare trafen gewagte Absprachen, über den Umgang
       mit Nebenbeziehungen.
       
       Es gab Variante eins: „Wir führen eine offene Beziehung und müssen uns gar
       nichts erzählen.“ Was zur wechselseitigen Beobachtung führte und heimlichen
       Abgleichen, wenn der Partner noch jemand anderen hatte: „Muss ich jetzt den
       Ausgleich schießen?“ Manche Paare probierten Variante zwei: „Wir erzählen
       uns alles ganz genau über unsere Affären.“ Das war was für Masochisten und
       Voyeure. Nervenschonender war Variante drei: „Herunterspielen.“ Man
       erwähnte die Affäre, spielte aber deren Bedeutung gnadenlos herunter („hat
       sich nur so ergeben, wir hatten ganz schön was intus“). Wenn das alles
       nicht funktionierte, blieb noch Variante vier, das Modell 19. Jahrhundert:
       „Einfach die Klappe halten.“
       
       ## Suche nach neuen Kicks
       
       Oft checkte frau die Nebenbuhlerin einfach nur ab: Wenn man sich für die
       Heißere hielt oder einem der Lebenspartner dieses Gefühl gab – siehe
       Variante drei – dann war alles in Butter.
       
       Das alles bedeutete immer auch Stress. Und der machte sich ohnehin gerne im
       Bett breit. Denn der gleichzeitige Orgasmus galt irrsinnigerweise eine Zeit
       lang als Merkmal einer harmonischen Partnerschaft und Zeichen von Sexyness
       auch bei Frauen. Nicht wenige Frauen glaubten damals ernsthaft, dass es ein
       Zeichen von Zurückgebliebenheit sei, wenn es bei ihnen mit dem vaginalen
       Orgasmus nicht so recht klappte. Alice Schwarzer wurde wohl auch deshalb
       von den Männern gehasst, weil ihre Propagierung des klitoralen Orgasmus für
       die Männer etwas mehr Mühe bedeutete.
       
       Zum sexuellen Erfahrungsschatz, den man nach dem Diktat der Zeit auffüllen
       wollte wie ein Bankkonto für die Altersvorsorge, gehörte das Herumprobieren
       mit Praktiken. Hie und da tauchten Typen mit Peitschen und Fesseln auf.
       Aber durch Verhauen oder Gefesseltsein (in echt, nicht in der Phantasie)
       Lust oder Geborgenheit zu empfinden, das ist eine Fixierung, die man sehr
       früh in der Kindheit erwirbt und über die nur eine Minderheit verfügt. So
       einfach mit ein bisschen Spielzeug waren neue Kicks dann doch nicht zu
       haben.
       
       Und irgendwann kam die Ermüdung. Manche Frauen gingen zum Tanzen lieber in
       die Schwulendisco Kleist-Casino oder trafen sich im Café Anderes Ufer am
       Kleistpark. Da hatte man seine Ruhe. Und fühlte sich im Bedürfnis nach
       einer Freundschaft, in der Sex nichts zu suchen hatte, bei schwulen Männern
       zeitweise besser aufgehoben.
       
       ## Spazieren am anderen Ufer
       
       Kein Wunder, dass sich manche Heterofrauen fragten, ob sie nicht vielleicht
       auch am anderen Ufer entlang spazieren sollten. Sie waren quasi als
       Probierlesbe in den Frauenbars Pour Elle und Die Zwei unterwegs. Man küsste
       sich und schwärmte. Und stellte fest, dass man sich als Heterofrau auch in
       andere Frauen verlieben, sich für sie begeistern, die körperliche Nähe
       genießen kann. Aber im Bett wirklich sexuell auf Frauen gepolt zu sein, ist
       eine andere Sache. Weswegen sich die dauerhaften Lesben eher nicht in
       vermeintlich bisexuelle Frauen verknallten. Sie wussten genau, warum nicht.
       
       Mit dem Hereinbrechen der Aidsgefahr in den 80er Jahren war all das vorbei.
       Einiges kehrte zurück, was in Vor-Pillen-Zeiten zum Sex gehört hatte: die
       Angst, die Vorsicht, der Aufschub. Hinzu kam das Grauen, als mehr und mehr
       Namen schwuler Bekannter in den Todesanzeigen auftauchten.
       
       „Aber am Ende ist man doch froh, dass man die Zeit erlebt hat“, sagt die
       alte Freundin aus dem Dschungel. Im Rückblick möchte man die 70er und
       frühen 80er Jahre nicht missen. Nicht, weil viel Sex viel Glück bedeutete.
       Aber man erlebte Vielfalt und gewann einen Einblick in Triebschicksale,
       inklusive des eigenen. Zum Triebschicksal gehören auch unschöne
       Verquickungen von Begehren und Verachtung, Abhängigkeit und Aggression.
       Manche Ambivalenzen sind immerhin einzuhegen, wenn man darum weiß.
       
       Die Sensibilität war wichtig für die Phase danach, als der Sex wieder zum
       intimen Akt wurde und erneut einen emotionalen Unterbau erhielt.
       Praktischerweise passend für die späteren Lebensjahre.
       
       Am Ende bleibt Respekt. Nicht nur vor dem Triebgeschehen, sondern auch vor
       den PartnerInnen in dieser Phase, die sich fair verhielten. Dass Respekt
       zwischen den Geschlechtern wichtig ist, war vielleicht ein wenig aus dem
       Blickfeld geraten in den 70er Jahren, als man im Dschungel mit der
       Weinschorle in der Hand herumstand, den Männerüberschuss um sich herum und
       die Luft voller Sehnsucht. „Hätten wir gern die Zahlenverhältnisse von
       damals wieder zurück?“, fragt die Freundin heute. Manchmal vielleicht. Aber
       nicht wirklich.
       
       8 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Dribbusch
       
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