# taz.de -- Sexuelle Revolution in den Medien: Die Zeit der bösen Onkel
       
       > Freiheit wurde in den 70ern und 80ern am Körperbild von Jugendlichen
       > verhandelt. Mit Lolita-Filmen im Mainstream und Schamlosem in der
       > Gegenkultur.
       
 (IMG) Bild: Jahre später noch en vogue: „Lolita“-Film mit Dominique Swain und Jeremy Irons von 1998
       
       Wir hatten Angst vorm bösen Onkel und eine vage Vorstellung von einem
       dicken Kerl, der sich aus einem Auto beugen und uns Bonbons anbieten würde.
       „Nimm nichts von Fremden“, hieß es. Alles andere verschwand in einem
       furchtbaren Knäuel von Wissen und Nichtwissen. Einige von uns mussten
       erfahren, dass es nicht Fremde waren, von denen die größte Gefahr ausging.
       
       Und dann kam ein großer Diskurs der Befreiung. Die Kinder sollten befreit
       werden, die Sexualität sollte befreit werden. Konsequenterweise sollte auch
       die kindliche Sexualität befreit werden, von der schon die klassische
       Psychoanalyse erzählte.
       
       Sexuelle Provokation freilich gehörte auch zu den Waffen der
       Counterculture. Es war ein Teil der Befreiung, sich „unschicklich“
       anzuziehen, „obszöne“ Texte zu singen, sich „schamlos“ zu bewegen.
       
       Aber es war ein Unglück, dass sich dabei auch der böse Onkel befreite, in
       neuer Gestalt. Er – und manchmal auch sie – gab sich als Teil der Revolte
       aus. Er war ganz und gar verständnisvoll, und dick war er meistens auch
       nicht. Natürlich ahnte niemand etwas von einem pädophilen Netz, das von den
       Kommunarden bis zu den Grünen, von der taz bis zur Zeit, vom
       Kinderschutzbund bis zu reformpädagogischen Schulen, von der Kunst bis in
       den Sport reichte. Für die neuen Bösen Onkels gab es nicht einmal Worte,
       keine Lieder, keine Warnungen…
       
       ## Verdruckste sexuelle Gier der Medienwelt
       
       Es war ein kollektiver böser Onkel, eine von einer verdrucksten sexuellen
       Gier befallene Mediengesellschaft, die sich in den 70er Jahren ein neues
       erotisches Beutebild fantasierte: die Kindfrau. In den
       „Schulmädchen-Reports“ und den „Lolita-Movies“, in Gestalt von Nastassja
       Kinski, Brook Shields oder Eva Ionescu. In den weichgezeichneten
       Fotografien von David Hamilton, der von sich behauptete, er könne die
       Jungfrauen am Geruch erkennen und der den Kamerablick zum
       Deflorationsinstrument machte.
       
       In den Wiederauflagen des Buchs „Josephine Mutzenbacher“, das man als
       Sprachkunstwerk zu erkennen glaubte. In Filmen wie „Pretty Baby“,
       „Maladoleszenza“ oder „Ausgerechnet ihr Stiefvater“, die das saturierte
       Bürgertum an der empfindlichen Stelle treffen sollten. Und in den
       Mainstream-Medien, die sich gern an den „Debatten“ beteiligten, mit vielen
       Bildern.
       
       Wenn sich der Mainstream empörte, dann nicht über die neuen bösen Onkels,
       die realen wie die medialen, sondern über die Kids selber. Manches in
       dieser subpornografischen Kultur für den Mainstream war in der Tat als
       mediales „Selber Schuld“ zu lesen. Als ein „Sie haben es nicht anders
       verdient“ und „Sie fordern es ja heraus“. Als die Umkehrung der
       Täter/Opfer-Rollen.
       
       War das andere, das Gegenkulturelle, das, nun eben, „Befreite“, dagegen auf
       „Selbstbestimmung“ aus? Das Kind in der Kommune, deren Mitglieder sich
       nackt fürs Poster fotografieren ließen, das enorm erfolgreiche
       Aufklärungsbuch „Zeig mal“ – wo zum Teufel mochten die Grenzen sein
       zwischen einem Medienkapitalismus, der sich auch noch die Kinder zum Ziel
       der sexuellen Ausbeutung machte, der Vernetzung der neuen bösen Onkels und
       einer „befreiten“ und „angstfreien“ Bejahung der kindlichen Lust an der
       Körperlichkeit? Und wer profitierte von der Verwischung der Grenzen, wenn
       es sie denn gab?
       
       ## Verschobene Grenzen
       
       Die Grenze zwischen Verklärung und Kriminalisierung wurde jedenfalls
       entschieden verschoben. Der böse Onkel konnte nur noch der verklemmte,
       latent faschistische Gewalttäter sein; auf „unserer“, der richtigen Seite
       dagegen konnten nur glückliche und befreite Wesen stehen. Widerspruch, ja
       sogar bloße Skepsis konnte als Ausweis verklemmter Rückständigkeit gewertet
       werden.
       
       Aber mittendrin war die neue Freiheit vor allem eine moralische Unklarheit,
       und es nahmen sich wieder nur diejenigen die Freiheit, die die Macht dazu
       hatten. Jetzt haben wir Erzählungen dazu, furchtbare Erzählungen, und wir
       haben Täter, Klaus Kinski, Roman Polanski, die Mutter von Eva Ionesco und
       andere, in den verschiedensten Abstufungen der Schuld. Was wir nicht haben,
       ist eine soziale und kulturelle Theorie. Und wie es aussieht, werden wir
       diese auch nicht kriegen.
       
       „Freiheit“ wurde in den siebziger und achtziger Jahren vorrangig an den
       Körperbildern verhandelt und nicht zuletzt an denen der Jugendlichen und
       Kinder. Sie waren die einzige Möglichkeit für den Erwachsenen-Mainstream,
       sich am Aufbruch und an der Revolte zu beteiligen. Gewiss wurde durch die
       „verkauften Lolitas“, wie der Spiegel das damals nannte, nicht Pädophilie
       legitimiert. Aber es wurde eine Grauzone geschaffen, eine Strategie der
       Blendung.
       
       Sex sells – immer noch. Allerdings ist es in einer vollpornografisierten
       Welt wie der heutigen nicht mehr möglich, von Befreiung zu faseln.
       Wenigstens diese eine Grenze, die Grenze der Macht und der Gewalt gegenüber
       dem Kind, wird neu und festgezogen. Und schon fühlt man sich als etwas
       Besseres. Und vermeidet das Nachdenken über sexuelle Ausbeutungs- und
       Machtbeziehungen, die politisch und ökonomisch gewollt sind.
       
       ## Reproduktion der alten Bilder
       
       Wir erleben gerade eine neue Form der sexuellen Panik, zeitgleich und
       unzeitig zur Befragung von Medien und Alltag nach dem, was damals die
       Bilder und die Kodes so zu vergiften vermochte.
       
       Kann eine ganze Kultur schuldig werden? Reorganisiert sich die Macht durch
       die Sexualität ebenso, wie sich die Sexualität durch die Macht
       reorganisiert? Die Organisation von Empörung jedenfalls dient noch stets
       der Verhinderung von Aufklärung. Während nämlich die mediale Empörung auf
       Lynchmob geschaltet wird, dreht der Staat ohne nennenswerte
       gesellschaftliche Gegenwehr, den wissenschaftlichen und medizinischen
       Formen von Prävention und Aufklärung den Geldhahn zu, und Männer mit
       pädophilen Neigungen, die sich selbst als Gefahr erkannt haben, müssen als
       Patienten abgewiesen werden.
       
       Die Menschen werden von der Werbung und von den Medien dagegen immer
       schneller zum Erwachsenen (Konsumenten) gestempelt. Mit der kollektiven
       Begeisterung für Popstars als soziale Erfolgsmodelle ist eine neue Falle
       aufgebaut. Insbesondere dort, wo man nichts anderes anzubieten, wo nichts
       anderes nachgefragt wird als die Unterwerfung des Körpers. Natürlich wissen
       die neuen bösen Onkels, dass man die Kinder von heute nicht mehr mit
       Bonbons und Befreiungsfantasien erreicht, sondern in den elektronischen
       Labyrinthen und in den Diskursen der Castingshows und der Karrieresucht.
       Dort hat die Industrie ein ideales Terrain erzeugt.
       
       Auch in der Jugendkultur erwischt uns eine ikonische und narrative
       Gemengelage: „Lolita-Kleider“ sind in der Goth- und Cosplay-Szene beliebt.
       Die Manga, die populären Comics aus Japan, haben nicht nur eine eigene
       sexuelle Mythologie, das vollbusige großäugige Kind, das von tentakeligen
       Aliens vergewaltigt wird, ist ein Leitmotiv, wie das „japanische
       Schulmädchen“ eine pornografische Ikone geworden ist, die sich mit
       kindlich-schüchternem Lächeln dem bösen Onkel unterwirft. Die Gesellschaft
       ist so beschäftigt mit der Empörung über die alten bösen Onkels, dass sie
       die Kulturen, in denen die neuen bösen Onkels arbeiten werden, nicht näher
       betrachten mag.
       
       ## Macht ohne Gegenmacht
       
       Sexualität, Macht und Moral verhalten sich in einer direkten Relation
       zueinander. Das erklärt den Umstand, dass in den letzten Jahrhunderten die
       Gesellschaft vom Wirken der bösen Onkels so viel wusste und so wenig
       dagegen unternahm. Beinahe jeder und jede kennt Geschichten von
       Gemeinschaften, die von dem Missbrauch von Kindern durch Geistliche, durch
       Pädagogen, durch Verwandte wussten oder es hätten wissen müssen – und die
       schwiegen. Weil man es gewohnt war, dass die Macht recht oder Rechte hat.
       
       Die Moral wird dann umgemünzt in ein Mittel, sich der Opfer zu entledigen
       oder sie zum Schweigen zu bringen. Böse Onkels werden auch in unserer
       Gesellschaft in der Regel geschnappt, wenn sie arm, dumm, „angeschlagen“
       oder tot sind (wie im Fall des englischen Entertainers, noch so eine
       schreckliche Geschichte).
       
       Wie aber, wenn sich daran gar nicht so viel geändert hätte? Wenn die
       Reinigung nur ein schlechtes Theaterstück wäre? Wir haben es damals selbst
       lernen müssen, denn die Diskurse der Erwachsenen waren nie viel anderes als
       Verschleierungen: Wo es Macht gibt, die keine Gegenmacht und keine
       Kontrolle, keine Kommunikation und keinen Diskurs hat, da ist es
       gefährlich. Die bösen Onkels kennen die Gesellschaft, in der sie auf die
       Jagd gehen, immer besser, als die sich selbst kennt. Sie kennen ihre
       Schwächen. Sie kennen die Schattenseite ihrer Hysterien. Die
       Gleichgültigkeit.
       
       5 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Seesslen
       
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