# taz.de -- taz-Serie Drogen und Gewalt in Mexiko: Das Morden und die Quote
       
       > Sie müssen täglich über das Sterben berichten und werden selbst bedroht.
       > Die Reporter von Ciudad Juárez berichten trotzdem weiter über die Morde
       > der Kartelle.
       
 (IMG) Bild: Viel tun, um sich zu schützen, können die Journalisten in Ciudad Juárez nicht – Tatort eines Anschlags im März 2013.
       
       CIUDAD JUÁREZ taz | Ihr Büro teilt sich Luz Sosa mit einem Grabmal. Ein
       Schreibtisch, vertrocknete Blumen, ein uralter Computer. Darüber klebt ein
       Porträtfoto, auf dessen Rand „El Choco is here“ geschrieben steht. „El
       Choco“, das war Armando Rodríguez Carreón, Polizeireporter beim Diario de
       Juárez; von zehn Kugeln erschossen am 13. November 2008. Er war der
       Chronist des Drogenkrieges der nordmexikanischen Ciudad Juárez. Als El
       Choco mit 40 Jahren starb, wurde Luz del Carmen Sosa Carrizosa seine
       Nachfolgerin.
       
       Die Journalistin hat am Morgen, wie stets, den Hintereingang der Redaktion
       genommen. Jetzt sitzt sie an ihrem Schreibtisch im ersten Stock, die Decken
       sind tief, das beige Neonlicht erinnert an TV-Serien aus den 80er Jahren.
       „Das Schlimmste, was einem Reporter passieren kann, ist, über den Mord an
       den eigenen Kollegen schreiben zu müssen“, sagt Sosa. Zwei Mal hat sie das
       getan.
       
       2007 begannen in Juárez die Auseinandersetzungen zwischen Mexikos größten
       Drogenbanden, es ging um den Zugang zum amerikanischen Markt und die
       Vorherrschaft in Mexiko. So war Ciudad Juárez bis vor Kurzem die Stadt mit
       der höchsten Mordrate der Welt. 2 Millionen Einwohner hat die Stadt, 12.000
       Menschen brachten die Kartelle hier um. Sechs davon waren Journalisten.
       
       22 Monate nach Carreón traf es erneut einen Kollegen: Luis Carlos Santiago
       Orozco. Mitten in der Stadt rammten Narcos das Auto des Fotografen und
       erschossen ihn und seinen Beifahrer. Auf dem Rückweg von der Trauerfeier
       erhielt Sosa einen anonymen Anruf. „Ich wurde zu einem Tatort gerufen.
       Einem Mann war der Kopf abgeschnitten worden.“ Der Kopf lag auf einer
       aufgeschlagenen Zeitungsseite mit Sosas Artikel zum Tod ihres Kollegen
       Orozco. „Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte“, sagt Sosa. „Es hätte
       heißen können: ’Wir haben euren Kollegen gerächt, dieser Mann hat ihn
       ermordet.‘ Es hätte aber auch heißen können: ’Als Nächstes bist du dran.‘“
       
       ## Die Erklärung ging um die Welt
       
       Stunden später stellte Sosas Chef einen Brief auf die Homepage seiner
       Zeitung. „Sehr geehrte Herren, die Sie um die Vorherrschaft in Ciudad
       Juárez kämpfen, in weniger als zwei Jahren wurden zwei unserer Reporter
       ermordet“, begann er. „Daher möchten wir Sie bitten, uns zu erklären, was
       Sie von uns wollen. Wir möchten gern wissen, was wir Ihrer Meinung nach
       veröffentlichen oder nicht veröffentlichen sollen.“
       
       Die Erklärung ging um die Welt. [1][Auch die taz dokumentierte sie]. Es war
       ein Aufschrei, eine Anklage von Präsident Felipe Calderón, dessen von den
       Narcos unterwandertem Staat niemand mehr zutraute, dem Morden Einhalt zu
       gebieten. Auch die Zeitungsleute von Juárez nicht. Und trotzdem: Verkaufen
       Journalisten nicht ihre Seele dem Teufel, wenn sie im Gegenzug für erhoffte
       Sicherheit die Mafia um Anweisungen bitten? Müssten sie nicht sagen: Unter
       diesen Umständen können wir nicht arbeiten? Für Sosa ist das keine Option.
       „Eine Gesellschaft braucht Informationen“, sagt sie. „Ich habe das zuerst
       als Kapitulation gesehen. Aber wir mussten verstehen, was die Narcos von
       uns wollten.“ Der Redaktionsleiter fügte daraufhin den Satz ein: „Das ist
       keine Kapitulation.“ Auf eine Antwort warten die Journalisten bis heute.
       „Trotzdem haben wir nie aufgehört zu arbeiten. Auch wenn es 20 Morde an
       einem Tag gab“, sagt Sosa, „geschrieben haben wir über jeden einzelnen.“
       
       Viel tun, um sich zu schützen, können die Journalisten nicht. „Wir fahren
       immer im Konvoi. Manche tragen eine kugelsichere Weste. Ich nie“, sagt
       Sosa. Sie setze auf Professionalität: sachlich schreiben, keine
       Provokation.
       
       ## Nenne ja keine Namen
       
       Strikt neutral über das Morden der Narcos zu schreiben? „Unmöglich“, meint
       Rubén Villalpando. „Unsere Berichte helfen ihnen. Deshalb töten sie kurz
       vor den Nachrichten. Und sagen uns vorher Bescheid.“ Am Morgen sitzt er mit
       anderen Journalisten im Sanborns-Café. Jeden Tag treffen sich die Reporter
       der fünf lokalen Tageszeitungen zum Frühstück. „Jeder hier am Tisch hat
       Tausende Leichen gesehen“, sagt Villalpando. Seit 1979 ist der 62-Jährige
       im Geschäft, er schreibt für die Agentur AFP und die Tageszeitung La
       Jornada. „Es gab Tage, da habe ich Texte über 40 Tote rausgeschickt. Das
       ist, als ob einem beim Schreiben das Blut von den Fingern tropft.“
       
       Villalpando deutet in die Runde. „Wir hören alle den Polizeifunk ab.
       Manchmal kommen wir an den Tatort, und die Mörder sind noch da. Wenn sie
       dich sehen, das schafft Unsicherheit.“ Die Narcos wollen zwar, dass über
       ihre Verbrechen berichtet wird – nur eben nicht zu konkret. „Schreibst du
       ihren Namen, bist du ihr Feind.“
       
       Es seien aber nicht die Narcos, die die Pressefreiheit in Mexiko am
       stärksten bedrohen, sagt Villalpando. „Die Medien selbst sind die größte
       Gefahr für ihre Unabhängigkeit.“ 10.000 Peso verdient der Reporter im
       Monat, das sind umgerechnet 560 Euro. Dafür arbeitet er sieben Tage pro
       Woche, Krankenversicherung und Urlaub gibt es nicht. „Ich verdiene nur so
       viel, weil ich so lange schon dabei bin. Andere kommen auf 6.000 Peso, die
       verkaufen nach ihren Interview noch Anzeigen an die Interviewpartner. Das
       erwarten die Verlage sogar“, erklärt er. Klar, dass solche Journalisten für
       Korruption anfällig seien. Die Lage immerhin habe sich im letzten Jahr
       verbessert. „Das liegt aber nicht daran, dass der Staat sich durchgesetzt
       hätte, sondern weil die Kartelle sich einig geworden sind.“
       
       ## Spezielle Medienlandschaft
       
       Am nächsten Morgen ist dem Polizeibericht die Bilanz dieses Tages in
       besseren Zeiten in Ciudad Juárez zu entnehmen: Unbekannte erschießen sechs
       Männer und eine Frau.
       
       Einen Tag später gibt Ernesto Jáuregui, der Sonderstaatsanwalt für
       Frauenmorde, eine Pressekonferenz. Zehn Männer und zwei Frauen sollen für
       das Verschwinden von mindestens 13 Frauen verantwortlich sein. Jáuregui
       führt die Gefangenen nicht vor, die Kameraleute protestieren. Jáuregui
       projiziert Polizeifotos auf eine Leinwand und liest die Namen vor, obwohl
       noch nicht einmal Anklage erhoben wurde. „Diese Menschen haben die
       verletzliche Lage junger, arbeitssuchender Frauen ausgenutzt“, sagt der
       Staatsanwalt. „Sie haben sie zur Prostitution gezwungen, am Ende ermordet
       und ihre Leichen im Valle de Juárez weggeworfen.“
       
       In der Stadt hat sich in den letzten Jahren eine ganz besondere
       Medienlandschaft entwickelt, spezialisiert auf grausame Polizeigeschichten.
       Die Reporter leben in einer Symbiose mit den Mördern. „Die Menschen
       fasziniert die Gewalt, und die Medien inszenieren sie“, erklärt
       Villalpando. Ein Sender habe extra einen Satellitenwagen angeschafft, um
       live von den Tatorten zu übertragen. „Manchmal zeigen sie zwischen 17 und
       19 Uhr drei Viertel der Zeit Bilder von Toten. Sie schlachten den Krieg
       aus. Das bringt Quote. Und es hilft den Verbrechern bei ihrem Ziel, ihre
       Gegner einzuschüchtern.“ Ihm sind diese Dinge bewusst, ändern kann er sie
       nicht.
       
       Und so entsetzlich es ist, was der Staatsanwalt Jáuregui jetzt vorzutragen
       hat, so wirkt es doch, als könnte es den Reportern gar nicht blutig genug
       sein. „Einer der Festgenommen hat Jobs in seinem Schuhgeschäft angeboten.
       Tatsächlich wurden Bewerberinnen an Zuhälter übergeben.“ Ein anderer habe
       sogar eine Modelagentur gegründet, um hübsche junge Frauen zu fangen. „Sie
       wurden mit Gewalt und Drogen gefügig gemacht, man drohte ihnen mit der
       Ermordung der Familie. Irgendwann hat man dann sie selbst umgebracht.“ Die
       Reporter schreiben ihre Blöcke voll.
       
       ## Kaum Strafverfolgung
       
       „Das Töten kostet hier wenig. Niemand muss dafür bezahlen“, sagt Sosa. „Die
       verdammte Straffreiheit ist schuld an der Gewalt.“ Nur 4 Prozent der 12.000
       Morde in Juárez haben zu einer Anklage geführt, Urteile gab es kaum. „Die
       Opfer werden oft nachträglich als Kriminelle dargestellt. So rechtfertigt
       der Staat seine Untätigkeit.“ Das habe nicht nur mit der Überlastung der
       Polizei zu tun, sondern auch mit ihrer Angst vor den Narcos – und mit
       Korruption. „Viele Einschüchterungen von Journalisten kommen von
       Polizisten.“
       
       45 Jahre ist Sosa alt, Mutter von zwei Kindern. „Machmal denkt man: Ich
       kann nicht mehr. Aber dann ist es wie bei den Anonymen Alkoholikern: Wieder
       ein Tag geschafft.“ Warum tut sie sich das an? „Ich habe mich entschieden,
       Reporterin zu sein, und werde es bleiben.“
       
       2011 hat Sosa den Journalistenverband von Juárez gegründet. Im selben Jahr
       lud die Heinrich-Böll-Stiftung sie zu einer Konferenz nach Berlin ein. „Es
       war herrlich. Keine Polizeisirenen.“ Ein Jahr später hat Mexiko ein Gesetz
       zum Schutz von Journalisten erlassen. Es gibt ihnen ein Recht auf Schutz
       bei Bedrohung, stärkt aber nicht die Strafverfolgung. Trotzdem gilt es als
       kleiner Erfolg der Zivilgesellschaft.
       
       Ein Leben wie ihres, sagt Sosa, sei nur zu ertragen, „wenn man seine
       Grenzen kennt“. Man muss sich zurückziehen können, bevor einen die Gewalt
       überwältigt. So wie am Vortrag. Die Überreste von Berenice Beatrice, einem
       jungen Mädchen, wurden zu Grabe getragen. Als Berenice vor vier Jahren
       verschwand, kam die Mutter zu Sosa. Die ganze Zeit begleitete Sosa sie bei
       ihrer verzweifelten Suche. Als sie und andere Mütter verschwundener Mädchen
       sieben Tage durch die Wüste liefen, um in der 360 Kilometer entfernten
       Landeshauptstadt Chihuahua gegen die Untätigkeit der Polizei zu
       demonstrieren, kam Sosa mit. „Irgendwann man macht sich gemeinsam
       Hoffnung.“ Bis letzte Woche. Da kam das Ergebnis einer DNA-Untersuchung von
       Knochen, die in der Wüste gefunden waren. „Eine Kollegin musste die Mutter
       am Telefon befragen. Ich kannte sie mittlerweile zu gut.“ Zur Beerdigung
       ging Sosa nicht.
       
       31 Mar 2014
       
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