# taz.de -- Debatte Wahlen in Ungarn: Warten auf den Frühlingswind
       
       > Am Sonntag wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Ministerpräsident
       > Viktor Orbán sollte aus dem Amt gejagt werden. Was ist die Alternative?
       
 (IMG) Bild: Weht hier vielleicht schon der Frühlingswind? Das Räterepublik-Denkmal im Budapester Memento Park.
       
       Ungarn ist in einem erbärmlichen Zustand. Wer Freiheit, Emanzipation,
       Toleranz für unverzichtbare Teile einer Gesellschaft hält, wird enttäuscht.
       Seit 2010 ist Viktor Orbán Ministerpräsident, und er nutzt die
       Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien – seiner rechtsnationalistische
       Fidesz-Partei und der Christlich-Demokratischen Volkspartei – gnadenlos, um
       sich ein Land nach seinem Gusto zu schaffen.
       
       Er hat die Verfassung geändert und Leitbilder in Bezug auf Bildung und
       Freiheitsrechte durchgeboxt, die rückwärtsgewandt, patriarchal und
       autoritär sind. Studenten müssen die Kosten ihres Studiums zurückbezahlen,
       wenn sie nach der Ausbildung das Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten,
       Obdachlose müssen Strafe zahlen, wenn sie draußen übernachten und erwischt
       werden, und homosexuelle Paare gelten nicht als Familie.
       
       Er hat ein Mediengesetz beschlossen, das kritische Positionen jederzeit
       zensieren kann. Er hat rechtliche Rahmenbedingungen für die Ausgrenzung von
       Roma und Sinti geschaffen. Mit seiner Bodenreform verteilt er Land neu um,
       enteignet Firmen und Landwirte dabei – für ihn alles kein Problem.
       
       Am 6. April könnten die Ungarn und Ungarinnen diesen Albtraum beenden. Denn
       es sind Parlamentswahlen. Allein, es sieht nicht gut aus für die, die Orbán
       aus dem Amt jagen wollen. Für mich zum Beispiel.
       
       ## Freddy vor der Wahl
       
       1986, also noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, gaben Freddy Mercury
       und die Band Queen in Budapest ein Konzert. Am Ende sang Mercury ein
       ungarisches Volkslied – das schönste Volkslied, das wir haben. „Tavaszi
       Szèl vizet àraszt“ – „Der Frühlingswind bringt die Flut“. Soll heißen: In
       der Natur gibt es Probleme, in der Seele nicht weniger. Man kann es sich
       denken, es ist ein Liebeslied. Die Verliebte weiß nicht, welchen der zwei
       Männer, die sie begehrt, sie nehmen soll. Mercury sang es auf Ungarisch.
       „Hàt èn immàr kit vàlasszak?“ – „Wen soll ich wohl wählen?“ Mit diesem Lied
       ist Freddy Mercury zu einem ungarischen Freiheitshelden, das Lied zu einer
       zweiten Hymne geworden. Leute wie ich summen sie derzeit ständig. Wen soll
       ich wählen?
       
       Für demokratische Wahlen haben die Leute in Ungarn 1956 gekämpft und dann
       33 Jahre lang davon geträumt. 1989 haben sie sie im Zuge der Wende
       geschenkt bekommen. Mittlerweile scheint vielen in Ungarn diese
       Errungenschaft wertlos zu sein. Selbst die Politiker bringen der jetzt
       anstehenden Wahl Geringschätzung entgegen. Sie haben sich gar nicht erst
       die Mühe gemacht, ein Programm zu entwerfen – auch die Opposition hat
       nichts Substanzielles anzubieten.
       
       Aber Wahlen sind kein wertloses Geschenk. Wählen hat mit gesellschaftlicher
       Verantwortung zu tun. Es mag unbefriedigend sein, dass Mitbestimmung vor
       allem nur auf diese, alle vier Jahre stattfindende Abstimmung reduziert
       ist, dennoch wäre es in der gegenwärtigen Situation in Ungarn doch eine
       Chance auf eine moderne, freiheitliche, europäische Zukunft. Das setzt
       voraus, dass es echte Wahloptionen gibt. Mit den Optionen allerdings sieht
       es schlecht aus: „Hàt èn immàr kit vàlasszak?“ – „Wen soll ich wohl
       wählen?“
       
       Ich muss zugeben, ich weiß es nicht. Und mit mir wissen es weitere 2,3
       Millionen Wahlberechtigte in Ungarn nicht, wie Umfragen sagen. Das wären 27
       Prozent der etwa achteinhalb Millionen Wahlberechtigten – also eine Menge
       Leute, die den Ausgang der Wahlen entscheidend beeinflussen können. Noch
       besser, sie könnten sogar den Sieg, den Viktor Orbán schon sicher glaubt,
       zunichte machen. Wenn es nur Wahlmöglichkeiten gäbe. Aber alles, was ich
       bis jetzt mit Sicherheit weiß, ist, wen ich nicht wählen will und warum
       nicht.
       
       ## Linker Zusammenschluss? An sich etwas Schönes
       
       Selbstverständlich werde ich die rechte Jobbik-Partei – „jobbik“ heißt
       „rechts“ und „besser“ – nicht wählen. Elf Prozent der Wahlberechtigten
       sehen das anders und stimmen gerne mit den Jobbik-Leuten überein, wenn
       diese sagen, dass alle Roma Parasiten seien und es am besten wäre, man
       vertriebe sie aus dem Land.
       
       Auch würde ich niemals Viktor Orbáns Fidesz-Partei wählen oder die
       Christdemokraten, die mit ihm in der Regierung sitzen und seine
       Steigbügelhalter sind. Bleibt nur das Bündnis der eher links orientierten
       Parteien und die Grünliberalen. Man könnte auf die Idee kommen, es gäbe
       doch Optionen.
       
       Immerhin ist es ein Erfolg, Gut, dass die linken Parteien MSZP
       (Sozialisten), Együtt (eine neue Partei des Exministerpräsidenten Gordon
       Bajnai), PM (die Grünen), DK (die Partei von Ferenc Gyurcsány, dem
       ehemaligen Ministerpräsidenten der Sozialisten) sich unter dem Begriff
       „Kormanyvaltas“ – Regierungswechsel – zusammengeschlossen haben. Denn nur
       zusammen haben sie gegen Orbán eine Chance und nur so können sie überhaupt
       verhindern, dass dessen Koalition wieder eine Zweidrittelmehrheit bekommt.
       Mit der könnte Orbán die Verfassung weiter nach Lust und Laune beugen. Dass
       sich die linken Parteien also zusammengeschlossen haben, ist an sich etwas
       Schönes, zeigt es doch, dass sie dazu fähig sind. Das Problem aber ist,
       dass fast alle diese Parteien oder zumindest ihre Parteichefs schon einmal
       Regierungsverantwortung hatten und gescheitert sind. Ihre Politiker wurden
       beim Lügen und Schwindeln ertappt. Wie können sie da erwarten, dass man
       ihnen noch etwas abkauft und ihnen vertraut? Unklar ist auch, wie stabil
       dieses Bündnis überhaupt wäre, wenn es nicht in der Opposition, sondern an
       der Macht wäre.
       
       Die LMP, die grünliberale Partei wiederum, die sich kurz vor den letzten
       Wahlen gründete, hat sich mittlerweile an Machtkämpfen zermürbt und ist in
       sich zerrissen. Zudem könnte es sein, dass sie an der Fünfprozenthürde
       scheitert. Eine Stimme für sie wäre eine verlorene Stimme gegen Orbán und
       seine Fidesz-Partei.
       
       Wer hat mich, wer hat uns in dieses Dilemma gestürzt?
       
       Ich bin hilflos und wütend, nicht nur auf die Politiker, die Demokratie nur
       als einen Spielplatz für ihre Interessen nutzen, sondern auch auf die
       Mehrheit der Ungarn und Ungarinnen, die in den vergangenen vier Jahren der
       Fidesz-Regierung alles geschluckt, gefressen und ohne größeren Widerstand
       geduldet haben. Sie haben sich an die Gehirnwäsche der Fidesz-Rhetorik
       gewöhnt, sie haben sich eingerichtet in Populismus, Ungarntümelei und
       Nebenkostensenkung. Sie drücken gerne mal ein Auge zu, wenn es um
       Verfassungsänderungen, Einschränkung des Mediengesetzes, konservative
       Strömungen im Bildungswesen und korrupte Geschäfte geht. Es ist schwer zu
       sagen, ob dies Opportunismus ist oder Feigheit.
       
       ## Ungarische Nostalgie
       
       Dabei passt Feigheit eigentlich nicht in unser Selbstbild. Die Ungarn, die
       Magyaren, sind doch nur von der Geschichte schlecht behandelte Helden. „O
       Gott, segne die ungarische Nation mit deiner Gnade, deinem Reichtum“, heißt
       es in der Nationalhymne, der ersten Hymne also, die bei jeder Gelegenheit
       gesungen wird, „schütze das Land, wenn die Feinde kommen, wenn das
       Schicksal ihm schlecht mitspielt. Erlöse es, denn wir haben schon so viel
       gelitten. Diese Nation hat doch schon für alle Sünden der Vergangenheit und
       der Zukunft gesühnt.“ – Wann kapieren die Ungarn endlich, dass sie aufhören
       müssen, die Zukunft in der Vergangenheit zu suchen?
       
       Das ist offenbar zu viel verlangt. Nationale Rhetorik kommt an. Auch bei
       den ungarischen Minderheiten in Transsylvanien und Kroatien, in der
       Slowakei und der Ukraine – das sind immerhin etwa 200.000 Menschen. Wohl
       wissend, dass bei ihnen ein ungarischtümeliger Konservativismus und
       ungarische Nostalgie hochgehalten werden, hat Orbán ihnen für die kommende
       Wahl das Wahlrecht gegeben, selbst wenn sie gar keinen ungarischen Pass
       haben. Das kann wahlentscheidend sein. Für sie ist es leichter, ihre Stimme
       abzugeben, als für alle ungarischen Bürger und Bürgerinnen, die in
       Deutschland, den USA und sonst wo rund um den Globus leben, etwa 230.000
       Menschen. Ich bin eine von ihnen. Anders als die ungarischen Minderheiten
       dürfen wir nicht per Briefwahl abstimmen. Wir müssen persönlich zur
       Botschaft oder zum Konsulat. Für die, die nicht in Berlin oder London oder
       Paris leben, wird wählen also umständlich und kostspielig.
       
       Noch ist Zeit bis zur Wahl. Der Frühling kann kommen. Mit ihm der Wind. Mit
       ihm die Flut.
       
       5 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Agnes Szabó
       
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