# taz.de -- Debatte Flüchtlingspolitik: Schlechtes Gewissen macht Angst
       
       > In Berlin-Kreuzberg finden sich nicht nur Touristen ein, sondern auch
       > politisch aktive Asylsuchende. Das alternative Milieu ist völlig
       > überfordert.
       
 (IMG) Bild: Frieden! Ein Flüchtling in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule.
       
       Die Welt bricht ein in Berlin-Kreuzberg, schon wieder. Da knappst das
       alternative Milieu noch an den vielen Touristen, da ereignet sich etwas
       jenseits des Zustroms der freundlich (des)interessierten internationalen
       Mittelschicht. Flüchtlinge werden sichtbar in dem Viertel, das nahezu
       geschlossen die Grünen und die Linkspartei wählt. Junge, schwarze Männer
       stehen zu Dutzenden im schäbigen Görlitzer Park und bieten Drogen an. Auf
       dem Oranienplatz im Herzen Kreuzbergs kampierten Flüchtlinge aus Lampedusa
       zwei Jahre lang unter widrigsten Bedingungen, um ein Bleiberecht zu
       erwirken.
       
       Gerade erst wurde eine von Flüchtlingen besetzte Schule mit 900
       Polizeibeamten umstellt und rund 200 BewohnerInnen die Einzelfallprüfung
       angeboten. Fast alle ließen sich darauf ein, nur um die 70 Asylsuchende
       sind noch in der Schule. Sie sind illegal hier; wird ihr Fall geprüft,
       werden sie abgeschoben. Das Angebot ist für diese Gruppe also keines – und
       was die Einzelfallprüfung bei den anderen bringen wird, ist auch völlig
       offen. Bei den Protestierenden am Oranienplatz ordnete man vielfach die
       Abschiebung an, ohne dass der Fall wie versprochen erneut geprüft wurde.
       
       Die widerständigen jungen Männer haben es sich zur Aufgabe gemacht, die
       Grausamkeit der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik sichtbar
       machen: Sie protestieren gegen die Residenzpflicht, ihre zumeist
       katastrophale Unterbringung, das Arbeitsverbot – ihre Perspektivlosigkeit.
       Anwohner behelligen sie in aller Regel nicht, trotzdem werden sie von der
       Mehrheit auch der liberalen KreuzbergerInnen als Bedrohung wahrgenommen.
       Warum? Weil manche von ihnen im Park Haschisch verkaufen, breitbeinig
       dastehen, hört man, weil sie homophobe Sprüche machen, weil sie Frauen
       ansprechen.
       
       Anmache, Sexismus, Homophobie oder Drogen sind keine Probleme, die mit
       Flüchtlingen in die Stadt gekommen sind, sie finden sich ganz unabhängig
       von ihnen in allen Teilen der Gesellschaft. Und weil das so ist, müssen
       Frauen (Anmache), Homosexuelle (Homophobie) und Stadtbewohner (Drogen) ein
       Auskommen damit finden. Was sie auch tun: mal gelingt es besser, mal
       schlechter.
       
       ## Sichtbar zu werden ist das Ziel
       
       Warum also herrscht angesichts von Flüchtlingen ein solches Unbehagen im
       alternativen Milieu? Weil das schlechte Gewissen nagt. Eigentlich müsste
       man helfen, aber man will es nicht. Eigentlich ist der Flüchtling eine
       positiv besetzte Figur – aber eben nicht, wenn er mich mit meinen
       moralischen Maßstäben konfrontiert und im Park – wie die Touristen auch –
       Bierflaschen hinterlässt. Wenn er sichtbar wird und Forderungen stellt.
       Wenn er die ihm zugewiesene Rolle des schweigenden Opfers zurückweist. Also
       sollen die Männer nicht so massiv auftreten, sondern sich hinter und nicht
       vor die Büsche stellen – dieser Vorschlag wurde während eines
       Anwohnertreffens ernsthaft diskutiert.
       
       Es gibt noch einen weiteren Grund für die Überforderung. Auch das
       alternative Milieu vermeidet es zunehmend, sich mit Machtkonstellationen zu
       beschäftigen. Lieber spricht man über sich und sexuelle Identitäten und
       Sexismus. Jede Kreuzbergerin ist jedoch ungleich viel besser gestellt als
       diejenigen, die ganz von vorne und ganz von unten anfangen müssen und ihr
       jetzt womöglich ein Gespräch aufdrängen oder sie mit einer obszönen Geste
       belästigen.
       
       Sollte ein Flüchtling die Hand gegen eine Berlinerin erheben, hätte das für
       ihn gravierende Folgen: Knast, Sperrung der Bezüge, Abschiebung. In keiner
       anderen gesellschaftlichen Konstellation sind Frauen also geschützter als
       im Zusammenhang mit Flüchtlingen. Erst vor ein paar Wochen ging die
       Nachricht durch die Presse, dass noch nie so wenig Anklagen wegen
       Vergewaltigung zu einer Verurteilung der Beschuldigten geführt haben wie im
       Moment.
       
       Die Flüchtlinge, ob in einem Berliner Park oder in einer Schule genauso wie
       beim Marsch nach Brüssel, begehren dagegen auf, dass keiner sie sehen
       möchte. Sie begehren dagegen auf, indem sie die von ihrer Zukunftslosigkeit
       peinlich Berührten ansprechen, indem sie Präsenz zeigen und auch
       Selbstbewusstsein. Und natürlich handelt sich dabei nicht durchweg um
       sympathische Menschen. Warum auch? Diesen Superlativ kann wohl keine
       politische Gruppierung für sich in Anspruch nehmen.
       
       Zum Teil sind auch ihre politischen Forderungen falsch. Auch das ist kein
       Alleinstellungsmerkmal von Flüchtlingen. Es besteht keine moralische
       Verpflichtung, sich mit ihnen anzufreunden. Aber anzuerkennen, dass es sie
       gibt und ihr Elend vor allem die Folge eines totalen Politikversagens ist,
       das könnte man von Grünen- und Linkspartei-WählerInnen schon erwarten.
       
       ## Stigma Armut, Stigma Opfer
       
       In dem abwehrenden, verdrucksten oder ängstlichen Umgang mit Flüchtlingen
       zeigt sich eine gesamtdeutsche Befindlichkeit: die kaum mehr hinterfragte
       Abwertung von Menschen mit Geldproblemen, die Wilhelm Heitmeyer in seiner
       Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ schon seit Jahren feststellt. Hinzu
       kommt der fehlende Pragmatismus in Sachen Verantwortung. Was ist denn
       dabei, einen blöden Spruch mit einem Witz zu parieren? Oder mit einem
       Lächeln? Was ist dabei, die kommunale, nationale und internationale Politik
       auch an ihrem Umgang mit Flüchtlingen zu messen?
       
       Flüchtlinge überschreiten Grenzen – im buchstäblichen wie im übertragenen
       Sinn. Sie fordern die Etablierten heraus, denn sie widersetzen sich mit
       ihrem ganzen Leben der herrschenden Ordnung und verlangen die Grenzöffnung.
       In diesem Jahr zählte die UN 50 Millionen Flüchtlinge, so viel wie noch nie
       seit dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Not erfordert auf der internationalen
       Ebene eine andere Politik und auf der sozialen, lokalen ein Verhalten, das
       ihnen Würde zugesteht. Das Gegenteil ist der Fall.
       
       Konservative schützen sich meist, indem sie etwas von Überfremdung faseln
       oder sich ein paar christliche Flüchtlinge herauspicken. Doch auch viele
       Liberale oder Linke verstecken sich hinter der Angst: dass zu viel von
       ihnen verlangt würde. Bin ich heute freundlich zu einem Flüchtling, kriege
       ich ihn dann je wieder los?
       
       Diese Haltung unterschätzt die soziale Kompetenz auf Seiten der Flüchtenden
       und folgt blind dem konservativen Klischee, dass Flüchtlinge alles
       „überschwemmen“, also zerstören. Die Idee, Menschen, die den Mut haben und
       auch das Organisationstalent, es trotz allem nach Deutschland zu schaffen,
       als Experten anzusprechen, ist ihnen fremd. Und Fremdes mögen sie nicht
       oder nur im Urlaub.
       
       Die Machtkonstellation erlaubt den regulär Ansässigen jederzeit, eine
       Forderung oder auch nur Bitte zurückzuweisen. Doch sie sollten nicht
       verlangen, dass die Flüchtlinge ihnen auch noch das schlechte Gewissen
       abnehmen. Damit müssen sie dann schon allein klarkommen.
       
       29 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ines Kappert
       
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