# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 35: Sandy geht
       
       > Kann sich ein Paar trennen, nachdem die eine dem anderen das Leben
       > gerettet hat? Ja - und doch nicht ganz.
       
 (IMG) Bild: Mütterchen ließ sich nie unterkriegen: Hier brettert sie Mitte der 70er Jahre auf einem Motorrad durch die Gegend.
       
       Es gab keinen Streit zuhause, sagt Beate. „Mütterchen führte grundsätzlich
       keine Grundsatzdiskussionen.“ Aber als Sandy sich dann tatsächlich scheiden
       lassen wollte, um eine andere Frau zu heiraten, hielt Mütterchen doch
       dagegen. Zwei Mal. „Ick fand ditt nich richtig“, hat sie zu mir gesagt,
       „man kann ja alles machen, aber man trennt sich nicht, wenn man Kinder
       hat.“ Ich glaube, es hat damit zu tun, dass Mütterchen selber ohne Vater
       aufgewachsen ist und ihre Mutter früh starb. Da war Mütterchen noch auf der
       Schauspielschule.
       
       Außerdem hat sie ihm das Leben gerettet, zum Teufel nochmal! Vielleicht
       konnte er ihr auch genau das nicht verzeihen. Es ist nicht leicht, so tief
       in jemandes Schuld zu stehen. Ich kenne ein Paar, das war seit 20 Jahren
       verheiratet, als der Mann ein totales Nierenversagen hatte. Durch Zufall
       hatte seine Frau dieselbe Blutgruppe. Sie spendete ihm eine Niere. Er
       überlebte und verließ sie zwei Jahre später.
       
       Eine der wenigen Gelegenheiten, sagen die Schwestern, wo sie ihre Eltern
       richtig einig erlebt haben, war der 17. Juni 1953, der Arbeiteraufstand. Da
       ist Mütterchen die ganze Strecke von der Schumannstraße in Mitte nach
       Karlshorst gelaufen. Weil keine S-Bahn mehr fuhr. 12 Kilometer ist
       Mütterchen zu Fuß gegangen. Am Ende barfuß, mit den Sandalen in der Hand.
       Knopsi sagt, ihre Eltern hätten vor dem Radio gesessen und seien sehr
       besorgt gewesen. „Die hatten Angst, dass wieder Krieg kommt“, sagt Krümel.
       
       Am 12. 5. 1961, ziemlich genau 16 Jahre nachdem sie sich im eben
       wiedereröffneten Standesamt Berlin-Charlottenburg das Ja-Wort gegeben
       hatten, wurde die Ehe meiner Großeltern geschieden. In der
       Urteilsbegründung heißt es, die Ehe sei als irreparabel zerrüttet zu
       betrachten, die Entfremdung der Eheleute sei in den letzten zwei Jahren
       seit der abgeschmetterten ersten Scheidungsklage des Klägers nur noch
       weiter fortgeschritten. Die Eheleute wohnten seit Jahren getrennt und seien
       sich nur noch freundschaftlich zugetan.
       
       Mütterchen hätte Freundschaft gereicht, Sandy nicht. Aber ich glaube, er
       hatte in Sachen Liebe seit der Nazizeit sowieso ein Rad ab. Hat den Rest
       seines Lebens versucht, seine versäumte Pubertät nachzuholen. Es sollte
       nicht seine letzte Scheidung bleiben.
       
       Nach der Scheidung meiner Großeltern kam die Mauer. Scheiße kommt eben
       immer gehäuft. Mumi war weg. Blümi war weg. Vorher waren die Töchter
       manchmal bei Blümi zu Besuch gewesen in ihrer Wohnung im Souterrain in der
       Mittenwalder Straße in Kreuzberg.
       
       Dann kochte Blümi Kartoffeln mit Butter. Also Blümi kochte Kartoffeln, die
       Butter mussten Krümel und Knopsi mitbringen, denn Butter war teuer. Nach
       dem 13. August 1961 haben sie Blümi nur noch ein paar Mal gesehen. Sie
       starb viele Jahre später ganz alleine. Keiner von den Streisands durfte zur
       Beerdigung. Weil sie nicht zur Familie gehörte. Es ist eine Schande!
       
       Mütterchen arbeitete. Arbeit und Schlaf sind heilig in dieser Familie.
       Onkel Klaus hat erzählt, wie er mal auf meine Cousins aufpassen sollte, da
       waren die noch ganz klein. „Ich bin kurz eingenickt“, sagt er, „und als ich
       die Augen öffnete, sah ich aus dem Augenwinkel den kleinen Matti
       angewackelt kommen. Der guckte nur, und als er sah, dass ich die Augen zu
       hatte, schlich er ganz leise wieder weg.“
       
       Mütterchen hatte im Theater ein kleines Kabuff mit einer Couch, auf der sie
       Mittagsschlaf machte, wenn sie es vor der Vorstellung nicht mehr nach Hause
       schaffte. Ich stelle mir vor, dass das Kabuff winzig klein und schummrig
       und schlauchartig war, mit einem Spiegel an der Wand und einem
       Kleiderständer in der Ecke. Einen Tauchsieder zum Teekochen wird sie gehabt
       haben und immer eine Packung Butterkekse.
       
       Das Abendbrotessen gewöhnte sie sich ganz ab. Abends vor der Vorstellung
       war keine Zeit zum Essen und nach der Vorstellung war es zu spät. Außerdem
       wollte sie nicht dick werden. Ihre letzte Mahlzeit des Tages war meist das
       Stück Kuchen zum Kaffee nach dem Mittagsschlaf oder ein Toast mit
       Marmelade.
       
       Bei jeder Familienfeier, sobald alle Gesellschaftsspiele gespielt waren und
       der Tisch fürs Abendbrot gedeckt wurde, drehte Mütterchen den leeren
       Teller, den man vor sie hinstellte, um und sprach, mit einer Prise Empörung
       in der Stimme, den Satz: „Kinder, ihr wisst doch, dass ich abends nichts
       esse!“ Immer. Bei jeder Familienfeier. Jeden Geburtstag, jedes Weihnachten.
       Egal, ob es Käsestulle oder Silvesterkarpfen gab. Und weil in dieser
       Familie keine Äußerung unkommentiert bleibt, sagte Tante Erna: „Ja,
       Mütterchen!“ Und Onkel Klaus sagte: „Erna! Mütterchen isst doch abends
       nichts.“ Und Matti sagte: „Also wirklich, Krümel!“
       
       Manchmal gab es dann kurz Zoff. Zum Beispiel Heiligabend, wenn Onkel Klaus
       den halben Tag in der Küche verbracht hatte, um die Weihnachtsente
       zuzubereiten. Dann drehte Mütterchen mit todesverachtender Miene ihren
       Teller wieder um, ließ sich ein Stückchen Entenbrust auf ihren Teller
       schaufeln, stocherte eine Weile darin herum, klapperte mit ihren dritten
       Zähnen und murmelte schließlich: „Der Vogel war wohl ’ne alte Dame, wa?“
       
       Sandy blieb der Vater der Kinder. Weihnachten und Geburtstage wurden
       grundsätzlich zusammen gefeiert, inklusive der jeweiligen Derzeitigen
       meines Großvaters. Und wenn Not am Mann war, war er zur Stelle. Tante Erna
       sagt, wenn sie an einem besonders kniffligen Problem rumdenkt, hat sie noch
       heute, 34 Jahre nach seinem Tod, manchmal den Reflex, zum Telefon zu
       greifen, um ihn anzurufen und um Rat zu fragen. Schade, dass er nicht mehr
       mein Opa sein konnte.
       
       31 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea Streisand
       
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