# taz.de -- Kunst in der Türkei: Am Ende des Regenbogens
       
       > Kunst hat in der Türkei lange als Motor der Gesellschaftskritik gedient.
       > Ist ihre Vielfalt nach Erdogans Wahlsieg bedroht?
       
 (IMG) Bild: Ihre Arbeit „Kindsbraut“ postete Sükran Moral am Tag von Erdogans Wahlsieg auf ihrer Facebook-Seite und schrieb dazu: „Welcome to Turkey 2014“.
       
       „Faszinierend farbig“. Als die Türkei 2008 als Gastland der Frankfurter
       Buchmesse unter diesem Motto antrat, war das eine Überraschung. Nicht die
       blutrote Nationalflagge mit der weißen Halbsichel zierte den Stand des
       Landes. Kein neoottomanischer Kitsch in Gestalt von stilisierten Minaretten
       oder tanzenden Derwischen lockte die Besucher. Auch keine Glühbirne, das
       offizielle Parteisymbol von Premier Erdogans AK-Partei, strahlte als
       Aushängeschild.
       
       Als offizielles Logo diente ein buntes Labyrinth, das von hellem Gelb bis
       zum dunklen Violett changierte. Ein Labyrinth, das man von allen Seiten
       betreten und wieder verlassen konnte. Für ein Land, das seine Schüler noch
       bis vor Kurzem allmorgendlich das Bekenntnis zur unteilbaren türkischen
       Nation stehend im Klassenzimmer deklamieren ließ, war das chromatische
       Bekenntnis zur Vielfalt ein brisanter Schritt – politisch, ideologisch,
       kulturell.
       
       Man muss sich das Regenbogenmotiv noch einmal vor Augen führen, um zu
       ermessen, welche Wende die Türkei seitdem genommen hat. Ertugrul Günay, den
       liberalen Kulturminister, der das Logo in Frankfurt stolz vorstellte, hat
       Premier Erdogan längst entlassen.
       
       Spätestens seit den Protesten im Istanbuler Gezipark vom letzten Sommer
       versucht der immer autokratischer werdende Premier seinem Land genau die
       kulturelle Zwangsjacke überzustreifen, die seine Gegner unter dem
       Schafspelz des (bis dahin) vorsichtig agierenden Politikers immer
       vermuteten: die des einheitlichen islamischen Lebensstils – vom
       Alkoholverbot bis zum Lachverbot für Frauen in der Öffentlichkeit.
       
       ## Nukleus der Zivilgesellschaft
       
       Der in der Versenkung verschwundene Ertugrul konnte seinen Frankfurter
       Marketing-Coup nur präsentieren, weil die türkische Gesellschaft längst
       diesem Regenbogen glich. Und einer der Motoren dieser allmählichen
       Verwandlung war die Kunst. In der Türkei war sie zwar schon immer
       politisch.
       
       1968 protestierte die türkische Malerlegende Mehmet Güleryüz mit der
       Skulptur eines zwei Meter großen Affen aus Holz in einem Kastengitter gegen
       das Einengende der türkischen Gesellschaft. Doch spätestens seit den 90er
       Jahren avanciert die Kunst zum Nukleus der neuen Zivilgesellschaft. Wie in
       der DDR fungierte sie als Ersatzöffentlichkeit, in der bislang tabuisierte
       Fragen diskutiert werden konnten.
       
       ## Schlüsselrolle von „starken Frauen“
       
       Es war kein Zufall, dass „starke Frauen“ wie die Künstlerinnen Gülsün
       Karamustafa, Ayse Erkmen oder Hale Tenger dabei eine Schlüsselrolle
       spielten. Für ihre Installation „Ich habe solche Freunde“ wurde Tenger 1992
       prompt vor den Kadi gezerrt. Die Arbeit zeigte die türkische
       Nationalflagge, zusammengesetzt aus Hunderten kleiner Bronzefiguren mit
       erigiertem Penis.
       
       Als Symbol des Paradigmenwechsels gilt Tengers Arbeit „Die Adepten der
       Ist-mir-scheißegal-Schule“ von 1990. Blitzblanke Bursa-Schwerter hingen da
       über einem riesigen Kessel, der mit rot gefärbtem Wasser gefüllt war und
       Assoziationen an ein Blutbad weckte. Nationale Identität, die Beziehung der
       Geschlechter, der öffentliche Raum, die Rolle des Staates, des Militärs –
       die Kunst war Labor für alle Streitfragen.
       
       ## Plattform für kulturelle Differenz
       
       Wichtigste Plattform dieser kritischen Ästhetik war die Istanbul-Biennale.
       1987 gegründet, wurde hier nicht nur immer wieder kritische Kunst
       ausgestellt. Hier wurde auch ein gesellschaftskritisches Alternativmodell
       zur Biennale von Venedig entwickelt. Für die 3. Ausgabe 1992 wählte der
       Kurator Vasif Kortun das Motto: „Produktion kultureller Differenz“. Er
       schaffte die nationalen Pavillons ab und lud junge Künstlerinnen aus dem
       Balkan und Osteuropa ein.
       
       2001, unter dem unmittelbaren Eindruck des September-Attentats in New York,
       fragte die japanische Kuratorin Yuko Hasegawa mit dem Titel „Egofugal“ nach
       einer besseren Welt jenseits des Egoismus. Und propagierte eine neue
       Beziehung von Individuum und Gesellschaft. 2003, während der Kriege im Irak
       und in Bosnien, kritisierte der amerikanische Kurator Dan Cameron das
       amerikanische Gerechtigkeitsideal. Mit seiner 8. Biennale forderte er
       „Poetic Justice – Poetische Gerechtigkeit“.
       
       Die Biennale mischte sich oft in türkische Debatten ein. 2007 stellte der
       chinesische Kurator Hou Hanrou mit der 10. Biennale dem
       Modernisierungsmodell des türkischen Staatsgründers Atatürk das einer
       „Modernisierung von unten“ entgegen. Auf der 13. Biennale 2012
       demonstrierte der türkische Politkünstler Halil Altindere mit seiner Arbeit
       „Wonderland“ die gesellschaftsprognostische Kraft der Kunst. In dem Video
       stürmen drei jugendliche Roma-Rapper durch das von der verhassten
       staatlichen Entwicklungsgesellschaft TOKI tot„sanierte“ Viertel Sulukule.
       Am Ende geht ein Polizist in Flammen auf. Altindere hatte das Video drei
       Monate vor Gezi gedreht.
       
       ## Maßregler der Künste
       
       Nach der Präsidentenwahl machen sich unter türkischen Künstlern und
       Intellektuellen Angst und Enttäuschung breit. Nicht wenige sehen ihr Land,
       auch wenn sie es öffentlich nicht so direkt sagen, auf dem Weg zum
       islamischen Faschismus. Gerade deswegen beschwört Beral Madra, die
       72-jährige Doyenne der türkischen Kunstszene, die Kunst und die Biennalen
       als „die am meisten freien, unabhängigen und dissidenten Plattformen“. Dass
       den Kunstevents die Gefahr der Zensur droht, wie es die 44-jährige
       deutsch-türkische Künstlerin Nezaket Ekici vor Kurzem beschwor, ist
       allerdings schwer von der Hand zu weisen.
       
       Schon bevor Recep Tayyip Erdogan während der Gezi-Proteste die sozialen
       Netzwerke Twitter und Youtube sperrte, gefiel sich der Ministerpräsident
       als oberster Maßregler der Künste. 2011 hatte er ein Versöhnungsdenkmal,
       das der türkische Bildhauer Mehmet Aksoy im nordostanatolischen Kars an der
       Grenze zu Armenien errichtet hatte, ohne viel Federlesen abreißen lassen.
       Schwer vorstellbar, dass er als Präsident mit „erweiterten Vollmachten“
       plötzlich zum Freund der Künste zu mutieren gedenkt.
       
       Die türkische Gesellschaft hat freilich Übung darin, auf politische
       Repression zu reagieren. Ihr großes Trauma ist der Militärputsch vom 12.
       September 1980. Gerade weil er so blutig war, gebar er seine Kontrahenten
       selbst: Als Antwort formierten sich die unabhängige Frauenbewegung und die
       neue Kunstszene. Präsident Erdogan sieht sich heute einer ungleich
       entwickelteren Zivilgesellschaft gegenüber als die Militärs vor 34 Jahren.
       
       ## Aufschrei und Warnung
       
       Am 10. August, dem Tag von Erdogans Präsidentschaftssieg, postete die
       Videokünstlerin Sükran Moral auf ihrem Facebook-Account ein Foto ihrer
       Arbeit „Kindsbraut“: Zu sehen ist ein von Blutspritzern besudeltes
       Hochzeitsbett in Form der türkischen Landkarte. Darüber schrieb sie:
       „Welcome to Turkey 2014!“ Das Signal der 1962 Geborenen, eine der
       provozierendsten Künstlerinnen des Landes, war Aufschrei und Warnung
       zugleich: Die Kunst in der Türkei lässt sich auch in Zukunft den Schneid
       nicht abkaufen!
       
       Die „Generation Gezi“ blieb während des Wahlkampfs zwar stumm. Ihre
       humorvollen, ästhetisch inspirierten Widerstandsformen, mit denen sie am
       Istanbuler Taksimplatz der Kunst den Rang ablief, dürfte die sanfte
       Protestjugend aber nicht vergessen haben.
       
       Und die liberale, säkulare Großbourgeoisie, die Erdogan nicht nur hasst,
       weil er ihnen zu Zeiten politischer Krisen gern Steuerfahnder auf den Hals
       hetzt, hat sich mit einem „cordon sanitaire“ in Gestalt üppig finanzierter
       Kunstinstitutionen umgeben. Die von ihnen getragene IKSV-Stiftung für Kunst
       und Kultur hat gerade erst die Ex-Documenta-Chefin Carolyn
       Christov-Bakargiev zur Kuratorin der 14. Istanbul-Biennale im Herbst 2015
       berufen. Kaum nominiert, wies die streitlustige Kunstwissenschaftlerin
       darauf hin, dass auf der Istanbul-Biennale schon immer Arbeiten gezeigt
       worden seien, „die nicht zur offiziellen Linie der Regierung passten“.
       
       ## Kulturelle Stimmung
       
       Ersten Aufschluss über die kulturelle Stimmung im Land dürfte der Herbst
       bringen. Dann eröffnen gleich zwei, bislang eher unbekannte Biennalen.
       „Mythologien“ lautet das Motto der 3. Mardin-Biennale Mitte Oktober. Die
       multikulturelle Metropole im kriegsgeprüften kurdischen Südosten der
       Türkei, direkt an der syrischen Grenze, ist immer für eine Überraschung
       gut.
       
       Und in der Provinzstadt Canakkale an den Dardanellen, dort, wo die Türkei
       in der Schlacht von Gallipoli 1915 die Briten aufhielt, wagt sich Beral
       Madra Ende des Monats an ein heißes Eisen. Im Gedenkjahr des 1.
       Weltkrieges, in Sichtweite des antiken Troja, will sie der Frage nachgehen,
       ob die Dominanz des Krieges durch eine Kultur des Friedens abgelöst werden
       kann. Das Motto der 4. Canakkale-Biennale hat sie dem antiken Philosophen
       Platon entlehnt. In einer kriegerisch entflammten Welt könnte es aktueller
       nicht sein: „Only the dead have seen the end of the war.“
       
       21 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arend
       
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