# taz.de -- US-amerikanische Bürgerrechtsaktivistin: Hedy Epstein, immer im Dienst
       
       > Hedy Epstein ist dem Holocaust entkommen. Seither kämpft sie gegen
       > „schlimme Dinge“. Zuletzt wurde sie in Ferguson in Handschellen
       > abgeführt.
       
 (IMG) Bild: Angefeindet und bewundert: Hedy Epstein im August 2014
       
       ST. LOUIS taz | „Das ist meine Dienstuniform“, sagt die alte Dame lachend
       und zupft an ihrem schwarzen T-Shirt. „Stay Human“ steht darauf in großen
       weißen Buchstaben. Sie hat es bei vielen Demonstrationen getragen. Auch am
       18. August, bei dem Sit-in vor dem Eingang zum Amtssitz des Gouverneurs von
       Missouri, wo die Teilnehmer den sofortigen Abzug der Soldaten der
       Nationalgarde aus Ferguson verlangen und den heranrückenden Polizisten
       zurufen: „Wem dient ihr? Wen schützt Ihr?“
       
       Wenig später wird sie von zwei Polizistinnen abgeführt, die sie beide um
       einen Kopf überragen. Ihr hölzerner Gehstock baumelt zwischen der
       Plastikfessel auf ihrem Rücken, die so fest zugezogen ist, dass sie am
       nächsten Tag blaue Flecken an den Handgelenken haben wird. Sie ist zu
       konzentriert, um mitzukriegen, dass ihr die Umstehenden applaudieren. Die
       Nachrichtenagenturen melden: „90-jährige Holocaust-Überlebende bei
       Protesten gegen Polizeigewalt in Ferguson in Handschellen abgeführt“.
       
       Hedy Epstein hat am 15. August bei sich in St. Louis ihren runden
       Geburtstag gefeiert. Als die letzten Gäste abgereist sind und Freunde
       fragen, ob sie zum Wainwright-Gebäude mitkommen will, wo der Gouverneur ein
       Büro hat, zögert sie keinen Moment. Die Stadt ist seit 53 Jahren ihr
       Zuhause. Das Thema ist ihr wichtig. Und sie hat Erfahrung mit gewaltfreiem
       Widerstand.
       
       „Gewundert hat es mich nicht“, sagt sie über den Ausbruch von Wut, der auf
       die tödlichen Schüsse eines weißen Polizisten auf einen unbewaffneten
       schwarzen Teenager in Ferguson gefolgt ist. „Wenn man Leute unterdrückt und
       ihnen nicht dieselben Chancen gibt, kommt es irgendwann zu einer
       Explosion.“
       
       ## Erste Beobachtungen
       
       Von ihrer Hochparterrewohnung in einem Backsteinhaus in St. Louis aus ist
       die Vorstadt Ferguson eine knappe halbe Autostunde entfernt. Den toten
       Michael Brown hat sie nicht gekannt. Aber das Misstrauen und die Vorurteile
       gegen Afroamerikaner gehören zu den ersten Dingen, die sie beobachtet hat,
       als sie 1948 in das Land kam, das ihre neue Heimat werden sollte.
       
       Sie ist eine staatenlose, einsame junge Frau. Die einzige Überlebende der
       Familie Wachenheimer aus Kippenheim am Schwarzwald. Ihre Eltern haben sie,
       als 14-Jährige, im Mai 1939 mit einem der letzten „Kindertransporte“ nach
       England geschickt. Im Jahr nach der Umarmung auf dem Bahnsteig werden die
       Mutter und der Vater deportiert, wie alle anderen in Deutschland
       zurückgebliebenen Mitglieder der Familie. Ihre Spuren verlieren sich in
       Auschwitz.
       
       Als Hedy Epstein, 24-jährig, in New York eintrifft, führt eine Kollegin die
       junge Frau in ihre neue Stelle bei einer Flüchtlingshilfsorganisation ein.
       Die New Yorkerin ist freundlich, aber reserviert. Ein gemeinsames
       Mittagessen lehnt sie kategorisch ab. Nach mehreren Tagen liefert sie die
       Erklärung: „Sie wissen doch, dass Schwarze nicht dieselben Restaurants wie
       Sie besuchen können.“ Hedy Epstein bleibt mit einer Verstörung zurück, die
       bis heute nachwirkt.
       
       ## „Der Rassismus sitzt tief“
       
       66 Jahre später steht sie in ihrer „Dienstuniform“ zwischen Basilikum,
       Thymian und Geranien auf ihrem Balkon in St. Louis. Ihre Fenster sind die
       einzigen in der Straße, in denen Poster mit einer politischen Botschaft
       hängen: gegen Krieg. „Der Rassismus“, sagt Epstein, „sitzt tief in den
       Gedanken und Gefühlen der Weißen hier – er ist Mentalität.“
       
       Die Holocaust-Überlebende Hedy Epstein weiß, dass möglicherweise derselbe
       Polizist, der im Vorbeigehen freundlich „Guten Tag“ zu der alten, weißen
       Dame sagt, in den schwarzen Jugendlichen an der nächsten Straßenkreuzung
       potenzielle Kriminelle sieht. In ihrer Kindheit ist sie selbst als
       „dreckige Jüdin“ beschimpft und am Tag nach der Kristallnacht von der
       Schule geworfen worden. Und sie hat die Angst erlebt, wenn auf der Straße
       ein besonders übler Nazi auf sie zukam. Aber den Rassismus zwischen Weiß
       und Schwarz hat sie erst in den USA kennengelernt: „Das gab es in
       Kippenheim nicht.“ Schon bald nach ihrer Ankunft wird sie Mitglied in zwei
       afroamerikanischen Bürgerrechtsgruppen, die für gleiche Rechte eintreten,
       NAACP und Urban League.
       
       Damals trifft sie eine Entscheidung, die ihr Leben durchziehen wird: Wenn
       sie „schlimme Sachen“ sieht, wird sie nicht untätig bleiben – „das würde
       mich mitschuldig machen“. Hedy Epstein wird eine der wenigen Weißen, die
       sich für Bürgerrechte von Schwarzen engagieren. Eine Linke im konservativen
       Bundesstaat Missouri, wohin sie mit ihrem Mann zieht, die für das Recht auf
       Abtreibung und für die Aufnahme von haitianischen Flüchtlingen kämpft. Und
       eine Jüdin, die israelische Gewalt gegen Palästinenser bekämpft.
       
       ## Redeverbote
       
       Anfeindungen begleiten sie seither. Die schärfste Kritik kommt aus der
       jüdischen Gemeinschaft. Hedy Epstein hält Vorträge über ihre Kindheit in
       Nazideutschland. Sie ist eine beliebte Zeitzeugin. Sie kann den Einzug der
       Nazis in ihren Kinderalltag in Kippenheim so anschaulich beschreiben, dass
       die Zuhörer das Gefühl haben, dabei zu sein. Aber als sie beginnt, Israel
       öffentlich zu kritisieren, in Missouri eine Zweigstelle der „Women in
       Black“ gründet und ab 2004 zu Solidaritätsaktionen ins Westjordanland reist
       und mehrfach vergeblich versucht, nach Gaza zu gelangen, wird an das
       Holocaust-Museum in St. Louis herangetragen, ihren Namen von der
       Rednerliste zu streichen.
       
       Museumskurator Dan Reich lehnt das Ansinnen ab. Er nennt sein Museum einen
       „Ort der Toleranz“, und er sorgt dafür, dass Hedy Epstein weiterhin
       sprechen darf. Aber sie muss sich thematisch auf ihre „Holocaust-Erfahrung“
       beschränken.
       
       Wenn Hedy Epstein mit ihrem öffentlichen Engagement vonihrer
       Holocaust-Erfahrung abweicht, werden die Anfeindungen gegen sie heftig.
       Nach ihrer Festnahme in Ferguson erscheinen Leserbriefe, die behaupten, sie
       stünde im Holocaust-Museum auf dem Index. Und sie sei eine „fake
       Holocaust-Überlebende“. Es kommt noch schärfer: Als sie Ende August einen
       Brief von mehreren hundert Holocaust-Überlebenden und Nachfahren
       unterzeichnet, der die „Massaker an Palästinensern in Gaza“ sowie die
       „fortwährende Besatzung und Kolonisierung Palästinas“ kritisiert. „Genozide
       beginnen mit dem Schweigen der Welt“, steht in dem offenen Brief des
       internationalen jüdischen antizionistischen Netzwerks. „Leider ist sie dem
       Verbrennungsofen entkommen“, steht in manchen Leserkommentaren.
       
       Hedy Epstein ist in zahlreichen Friedensgruppen aktiv - darunter die Jewish
       Voice for Peace. Aber sie wohnt allein. Anrufe und E-Mails beantwortet sie
       selbst. Wenn es Hassbotschaften sind, reagiert sie nicht. Auf eine Debatte
       über die Hamas lässt sie sich nicht ein. „Israelis und Palästinenser müssen
       einen Weg finden, um in Frieden neben- und miteinander zu leben“, sagt sie
       allenfalls. Oder, zu den jüngsten Hinrichtungen in Gaza: „Ich bin gegen
       jede Gewalt.“
       
       Sie hat das Gefühl von Hass und Wut in sich selbst erlebt. Bei ihrer ersten
       Reise nach Deutschland, kurz nach Kriegsende, betteln Kinder auf einem
       deutschen Bahnhof die aus England zurückkehrenden Flüchtlinge an. Als
       Mitreisende den Kindern Schokolade schenken, reagiert Hedy Epstein wütend:
       „Das sind Nazis.“ In den folgenden drei Jahren arbeitet sie für die USA in
       Deutschland. Als Dokumentaristin für die Anklage im Nürnberger Ärzteprozess
       erfährt sie von den medizinischen Experimenten an Häftlingen. Und sie sitzt
       im Gerichtssaal, als die Ärztin aus dem Konzentrationslager Ravensbrück,
       Herta Oberheuser, sich für die Experimente rechtfertigt: „Es waren
       Polinnen. Sie würden sowieso bald sterben.“
       
       Jahre später ist Hedy Epstein in den USA im Widerstand gegen den
       Vietnamkrieg aktiv. Plötzlich fällt ihr auf, dass sie Petitionen schreiben
       und demonstrieren kann, ohne dabei Gefängnis zu riskieren. Das ist für sie
       ein Schlüsselmoment. „Hätten Deutsche so etwas im Zweiten Weltkrieg getan,
       hätten sie ihr Leben riskiert“, sagt sie sich. „Damit war der Hass weg.“
       
       ## Antizionistische Eltern
       
       2004 gerät die 79-Jährige auf der Rückreise von der Westbank auf dem
       Flughafen Ben Gurion in eine Wut, die sie nicht kontrollieren kann. Sie
       wird in einen abgetrennten Raum geführt, muss sich komplett ausziehen und
       eine tiefe Leibesvisitation – „vorne und hinten“ – über sich ergehen
       lassen. „Sie sind eine Terroristin“, wird ihr zur Begründung gesagt: „ein
       Sicherheitsrisiko.“ Als Hedy Epstein endlich im Flugzeug zurück in die USA
       sitzt, schwört sie sich, „nie wieder“ nach Israel zu reisen. Sie macht eine
       Therapie, um ihre Wut zu überwinden.Und reist schon im selben Sommer wieder
       nach Israel.
       
       Ihre Überzeugungen, ihr inneres Fundament, führt sie auf Mutter und Vater
       zurück. „Wir sind Antizionisten“, sagt sie als kleines Mädchen Mitte der
       30er Jahre der Großmutter in Kippenheim . Sie weiß nicht, was das bedeutet,
       sie hat es bei den Eltern aufgeschnappt. Die Großmutter antwortet
       ängstlich: „Psst.“ Hedy Epstein denkt viel an ihre Eltern. „Ich wäre froh,
       wenn ich am Ende vor meinen Eltern stehen könnte, und sie würden mir sagen:
       Das hast du gut gemacht.“
       
       Die zweite Inspiration, die sie fürs Leben prägt, kommt aus England. Eine
       Zeit, über die sie sonst nicht gern spricht: „Ich war unglücklich dort, ich
       habe meine Eltern wahnsinnig vermisst.“ Aber sie stößt auf eine Gruppe
       junger Leute, die sich darauf vorbereiten, Deutschland nach dem Krieg zur
       Demokratie zu erziehen. Hedy Epstein erhält bei der „Free German Youth“ –
       von der die 90-Jährige sagt, dass sie etwas ganz anderes war als die FDJ in
       der späteren DDR – ihre politische Erziehung. Lernt: Faschismus und
       Sozialismus und Kapitalismus. „Ich war 16 und ich habe alles wie ein
       Schwamm aufgenommen.“
       
       Mehr als sieben Jahrzehnte später führt ihre Erzählung behände von
       Kippenheim über St. Louis nach Gaza. Von den 30er Jahren in das zweite
       Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Dabei klingt Hedy Epsteins Deutsch so
       flüssig, als hätte sie nicht mit 14 aufgehört, es im Alltag zu sprechen.
       Ihr Ausstrahlung ist auch dann positiv, wenn sie über Trauriges spricht.
       Wie den Tod des jungen Italieners, von dem das Motto auf ihrer
       „Dienstuniform“ stammt. Vittorio Arrigoni wurde 2011 von palästinensischen
       Extremisten in Gaza ermordet.
       
       Als der Gouverneur von Missouri kurz nach dem Sit-in entscheidet, die
       Nationalgarde aus Ferguson abzuziehen, sieht Hedy Epstein das als kleinen
       Erfolg. Ohne Druck, glaubt sie, „wäre das nicht passiert“.
       
       3 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
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