# taz.de -- Debatte Palliativmedizin: Selbstbestimmt sterben
       
       > Es ist ein Fehler, den Streit über Autonomie auf den Todeszeitpunkt zu
       > reduzieren. Das hilft nur der Gesundheitsindustrie.
       
 (IMG) Bild: Kunsttherapeutin mit Patientin in einem Hospiz.
       
       Bist du jetzt dafür oder dagegen? Die sogenannte Sterbehilfedebatte gleitet
       leider nicht selten ins Ideologische ab. Es wird erstaunlich wenig darüber
       nachgedacht, was Selbstbestimmung am Lebensende in der heutigen
       pluralistischen Gesellschaft bedeuten kann.
       
       Die Erfahrungen in der Palliativbegleitung zeigen, dass es zu kurz
       gegriffen und zudem realitätsfremd ist, wenn man die Autonomiedebatte auf
       die Selbstbestimmung des Todeszeitpunktes reduziert. In der Praxis ist dies
       nur für eine sehr kleine Anzahl von Menschen das ausschlaggebende
       Kriterium.
       
       Viel wichtiger ist für die meisten Menschen, ob ihr Leben in der Rückschau
       einen Sinn ergibt (ich habe noch nie einen Patienten getroffen, der sich
       gewünscht hätte, mehr gearbeitet zu haben), ob qualvolle Symptome vermieden
       werden können und wie es den Angehörigen nach dem eigenen Tod gehen wird.
       
       Warum fokussiert sich die Debatte dennoch so stark auf das Thema
       „Sterbehilfe“? Weil sehr viele Menschen Angst davor haben, am Lebensende in
       eine Situation zu geraten, in der sie einen „Notausgang“ bräuchten und ihn
       nicht bekommen. Krankheit und Sterben werden oft als zunehmender
       Kontrollverlust erlebt. Gerade hier wäre eine offene und vertrauensvolle
       Kommunikation mit dem behandelnden Arzt von größter Bedeutung. Nur herrscht
       leider in Deutschland eine ausgeprägte Rechtsunsicherheit darüber, was am
       Lebensende erlaubt und was verboten ist.
       
       Ein Patient, der befürchten muss, bei der Äußerung eines Suizidwunsches
       „abgewimmelt“ oder gar in die Psychiatrie eingewiesen zu werden, wird dies
       eher nicht mit seinem Arzt besprechen. Der Arzt hat dann keine Möglichkeit,
       unbegründete Ängste zu klären und über die Behandlung von Symptomen und
       andere Hilfsangebote zu beraten.
       
       Der kürzlich vorgestellte [1][Gesetzesvorschlag zur Regelung des ärztlich
       assistierten Suizids] hat das Ziel, diese Ängste abzubauen und den Dialog
       am Lebensende zu stärken. Damit können nachweislich Suizide verhindert
       werden. Der Vorschlag lehnt sich an die Regelung im US-Bundesstaat Oregon
       an, wo sie nur 2 von 1.000 Todesfällen betrifft – und ein Drittel der
       Patienten, die vom Arzt ein zum Tode führendes Mittel erhalten haben,
       dieses nie einnimmt. Die Tötung auf Verlangen, deren Fallzahlen in den
       Niederlanden und Belgien zuletzt deutlich gestiegen sind (und die
       nachweislich auch bei Menschen angewendet wird, die dieses Verlangen nicht
       mehr äußern können), soll weiter strafbar bleiben.
       
       Eine Entweder-oder-Haltung ist im Hinblick auf Palliativmedizin und
       Suizidhilfe nicht zu rechtfertigen. Es ist wissenschaftlich längst belegt,
       dass es auch bei bester Palliativversorgung Menschen gibt, die mit
       Berechtigung sagen: „Das, was mir noch bevorsteht, möchte ich nicht
       erleben.“
       
       Über eines sollten wir uns allerdings nicht täuschen: Was unsere
       Selbstbestimmung am Lebensende wirklich einschränkt, ist nicht das Fehlen
       einer Regelung zur Suizidhilfe, sondern die unzureichende pflegerische und
       palliative Versorgung sowie die allgegenwärtige, ökonomisch motivierte
       Übertherapie.
       
       ## Die Übertherapie
       
       Etwa ein Drittel aller Gesundheitskosten fällt in den letzten ein bis zwei
       Lebensjahren an. Es geht hier um dreistellige Milliardenbeträge. Die
       verzweifelte Hoffnung Schwerstkranker auf Heilung oder wenigstens Aufschub
       wird von der Gesundheitsindustrie bewusst instrumentalisiert, um höhere
       Renditen zu erzielen. Dem spielt wiederum die Angst der Ärzte in die Hände,
       einem Patienten „nichts mehr anbieten zu können“.
       
       Ich habe es erlebt, wie ein junger Patient die Krebsärzte geradezu
       anflehte, ihn mit einem neuen Medikament weiter zu behandeln, obwohl dieses
       – bei voraussichtlich geringem Nutzen – schwerste Nebenwirkungen auslöste.
       Die zur Beschwerdelinderung notwendige Cortisontherapie durfte er nicht
       bekommen, weil dies die Wirkung des Medikaments hätte beeinträchtigen
       können. Der Patient starb qualvoll drei Tage später.
       
       Dass es auch anders geht, belegt eine Studie aus Harvard: Eine frühzeitige
       Palliativbetreuung führte bei Krebspatienten zu einer besseren
       Lebensqualität, weniger Chemotherapien und gleichzeitig einem signifikant
       längeren Überleben – nebenwirkungsfrei und kostensparend. Die
       Palliativmedizin erreicht dies, indem sie leidvolle Symptome effektiv
       behandelt und die psychosozialen wie spirituellen Bedürfnisse und
       Prioritäten der Patienten und ihres sozialen Umfelds in den Mittelpunkt
       stellt.
       
       Aber trotz vieler Lippenbekenntnisse wird sie, wenn es um
       Ressourcenzuteilung geht, immer noch stiefmütterlich behandelt. Warum wohl?
       Vielleicht deshalb, weil die Palliativmedizin der modernen, technologisch
       und pharmakologisch orientierten Medizin die unbequeme Frage stellt: Ist
       wirklich immer alles sinnvoll, was machbar ist?
       
       ## Abwertung der Palliativmedizin
       
       Derzeit ist zudem zu beobachten, wie die Palliativmedizin vom
       Gesundheitssystem geradezu „anästhesiert“ wird, indem man sie – mit
       tatkräftiger Hilfe der Pharmaindustrie – zu einer Unterform der
       Schmerztherapie umzudefinieren versucht. Dabei stellt die Schmerzbehandlung
       in Wirklichkeit nur etwa ein Sechstel der ganzheitlichen,
       multiprofessionellen Arbeit in der Palliativbetreuung dar. Aber die
       Pharmaindustrie macht ihre Umsätze nun einmal nicht mit spiritueller
       Begleitung.
       
       Was wir dringend brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das in der Lage ist,
       die hochgradig unterschiedlichen Bedürfnisse, Ängste und Sorgen kranker
       Menschen und ihrer Familien wahr- und ernst zu nehmen. Dies geschieht nicht
       durch die standardmäßige Ingangsetzung aller medizinischen Behandlungen,
       die vom System bezahlt werden, sondern beginnt ganz wesentlich mit dem
       Zuhören.
       
       Wenn wir diesen Weg nicht gehen, riskieren wir die Entstehung einer
       Zweiklassenmedizin, in der es nur Unter- oder Überversorgte geben wird. Es
       ist daher meine feste Überzeugung: Die Medizin der Zukunft wird eine
       hörende sein, oder sie wird nicht sein. Wenn die Sterbehilfedebatte einen
       Beitrag in diese Richtung liefern könnte, wäre sie hochwillkommen.
       
       6 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gian Domenico Borasio
       
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