# taz.de -- Medizinethiker über Sterbehilfe: „Vertrauenswürdige Ansprechpartner“
       
       > Könnte man Ärzten noch vertrauen, wenn sie auf Verlangen töten dürften?
       > Der Medizinethiker Urban Wiesing plädiert unter bestimmten
       > Voraussetzungen dafür.
       
 (IMG) Bild: „Wie ich sterben möchte, das zu bewerten steht dem Staat nicht zu.“
       
       taz: Herr Wiesing, ist es ethisch in Ordnung, wenn ein Arzt seinem
       Patienten hilft, sich zu töten? 
       
       Urban Wiesing: Unter bestimmten Bedingungen ja.
       
       Manche Politiker sehen das anders. Ärzte, sagen sie, sollten heilen,
       lindern, trösten – und nicht helfen, Leben zu beenden. Es drohe sonst ein
       Vertrauensverlust. 
       
       Diese Prognose wird durch ständiges Wiederholen nicht richtig.
       
       Woher wissen Sie das? 
       
       Durch wissenschaftliche Untersuchungen. Der Supreme Court im kanadischen
       British Columbia hat hierzu alle Untersuchungen zusammengetragen. Er kommt
       zu dem Ergebnis, dass es beim ärztlich assistierten Suizid schwierige
       Fälle, auch Gefahren gibt, die sich durch kluge Regelungen jedoch abwenden
       lassen.
       
       Aber eben keinen Beweis dafür, dass die Funktionalität der Medizin
       gefährdet wäre. Vielmehr gibt es Anzeichen dafür, dass das Vertrauen in die
       Ärzteschaft wächst, wenn die Patienten wissen, dass sie in einer sehr
       schwierigen Situation einen seriösen Ansprechpartner haben.
       
       Gegenargument: Wenn man Ärzten diese Möglichkeit gibt, werden sie zu den
       gefährlichsten Männern im Staate. 
       
       Es gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass es zum Dammbruch
       kommt. Im Gegenteil: Wir wissen aus den US-Bundesstaaten Oregon und
       Washington, dass das Hinzuziehen von Ärzten dort nachweislich dazu geführt
       hat, dass ein Großteil der Suizidwünsche gar nicht praktiziert wird.
       
       Nur 20 bis 30 Prozent derjenigen, die den Suizid ursprünglich wollten,
       praktizieren ihn nach der Konsultation eines Arztes. Unter dem Aspekt des
       Lebensschutzes scheint es geboten zu sein, die Assistenz zum Suizid in die
       Hände von Ärzten zu geben.
       
       Ärzte statt Dignitas – ist das Ihr Vorschlag? 
       
       Ja. Die Ärzte sollten sich dessen annehmen, sie sollten die Pluralität der
       Vorstellungen ihrer Patienten in Bezug auf das Lebensende akzeptieren und
       angemessen auf diese Pluralität reagieren.
       
       Was heißt das? 
       
       Die Bürger sind über die Hilfe beim Suizid uneins. Zwei Drittel wollen
       diese Hilfe für bestimmte Situationen, andere lehnen sie ab. Wie muss die
       Ärzteschaft darauf reagieren? Indem sie die Hilfe kategorisch ablehnt? Dann
       nimmt sie zwei Drittel der Menschen nicht ernst.
       
       Oder, und das wäre mein Vorschlag: die Ärzte können nur angemessen darauf
       reagieren, indem sie für Patienten, die in einer aussichtslosen,
       medizinisch nicht verbesserbaren Situation ernsthaft um Hilfe bitten, als
       vertrauenswürdiger Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Sie können
       Patienten auch davon abbringen, Suizidformen zu wählen, die Dritte
       gefährden, ich denke an Verkehrsteilnehmer und Lokführer.
       
       Wie kann ein Arzt überprüfen, dass der Patient aus eigenem Willen zu der
       Entscheidung gelangt ist, sterben zu wollen? 
       
       Wer sollte es besser können als der Hausarzt, der ein Vertrauensverhältnis
       zum Patienten hat und sein Umfeld kennt? Zusätzlich müsste ein Gutachten
       von einem weiteren, externen Arzt bestätigen, dass es sich um den
       authentischen, stabilen Patientenwillen handelt.
       
       Sämtliche Optionen für Palliativmedizin müssten ausgeschöpft sein. Und es
       müsste ausgeschlossen sein, dass eine behandelbare Depression vorliegt.
       Wenn diese Vorsichtsmaßnahmen erfüllt sind, denke ich, sind Patienten bei
       Ärzten besser aufgehoben als bei zweifelhaften Organisationen.
       
       Weil Sterbehilfeorganisationen Geld machen mit dem Leid Schwerstkranker? 
       
       Auch das, manche Preise sind schlicht Wucher.
       
       Manche Ärzte möchten lieber Palliativmedizin anbieten als Beihilfe zum
       Suizid. 
       
       Es macht keinen Sinn, Palliativmedizin gegen Sterbehilfe auszuspielen.
       Selbst die Palliativmediziner geben inzwischen zu, dass es bei bester
       Palliativmedizin Situationen gibt, in denen das Sterben für die Patienten
       unerträglich wird. Diese Fälle müssen wir regeln.
       
       Eine Regelung des ärztlich assistierten Suizids sollte mit einem
       Forschungs- und Entwicklungsprogramm der Palliativmedizin einhergehen. Wir
       sollten fragen, wo es Verbesserungsbedarf gibt. Überdies besitzen wir keine
       Zahlen zum ärztlich assistierten Suizid. Das sollte sich ändern.
       
       Beihilfe zum Suizid setzt voraus, dass die Tatherrschaft beim Patienten
       bleibt. Angenommen, ein Patient ist bei klarem Verstand, aber gelähmt. Das
       Medikament, das Sie ihm freundlicherweise überlassen, kann er nicht selbst
       schlucken. Helfen Sie ihm trotzdem? 
       
       Das wäre Tötung auf Verlangen und ist in Deutschland verboten. Die modernen
       Geräte, die das Gift applizieren, lassen sich aber sogar über Augenblinzeln
       oder Mundbewegungen in Gang setzen. Damit bleibt die Tatherrschaft
       eindeutig beim Patienten.
       
       Sie schalten eine Maschine dazwischen und sagen, der Arzt hat gar nichts zu
       tun damit. Wie scheinheilig ist das denn? 
       
       Auch bei dieser Maschine bleibt die Täterschaft beim Patienten, und darum
       geht es. Wir würden andernfalls eine Grenze überschreiten, die wir im
       Augenblick politisch nicht überschreiten können und sollten, weil sie
       überhaupt nicht zur Debatte steht.
       
       Na schön, dann für den rein theoretischen Fall, dass die moderne Technik
       versagt: Kann aktive Sterbehilfe ethisch geboten sein? 
       
       Sie kann geboten sein. Aber es ist unrealistisch, dass sie absehbar auf der
       politischen Agenda der Bundesrepublik steht.
       
       Warum gibt es in Deutschland keine offene politische Diskussion um aktive
       Sterbehilfe wie etwa in den Niederlanden oder Belgien? 
       
       Politische Diskussionen sind immer vor historischem Hintergrund zu
       betrachten. Und in Deutschland haben wir historisch eine große Scheu.
       Machen wir uns aber nichts vor: Die Tötung auf Verlangen steht in allen
       modernen Industriegesellschaften früher oder später auf der Agenda. Aber
       wir müssen jetzt nicht alle Probleme der Zukunft lösen.
       
       Wann könnte die Tötung auf Verlangen denn in ferner Zukunft moralisch zu
       billigen sein? 
       
       Die Entwicklung zur Individualität und Pluralität dürfte in den modernen
       Gesellschaften voranschreiten. Und dann stellt sich in der Tat die Frage,
       ob es nicht eine Anmaßung des Staates ist, eine wohlüberlegte, individuelle
       Entscheidung wie das Sterben zu bewerten und zu beschränken. Es gibt viele
       Dinge, für die ich diesen Staat schätze. Aber wie ich sterben möchte, mit
       Verlaub, das zu bewerten steht ihm nicht zu.
       
       Der Staat scheint anderer Meinung zu sein – sonst würde die Debatte nicht
       so hitzig geführt, oder? 
       
       Man muss genau unterscheiden: Der Staat hat sich zu den Fragen, wie
       Menschen wohlüberlegt sterben wollen, nicht zu äußern. Er hat jedoch für
       Bedingungen zu sorgen, dass dies ohne Missbrauch und ohne Bedrängung
       geschieht, dass voreilige, affektiv überlagerte Entscheidungen vermieden
       werden. Den unterschiedlichen Einstellungen der Bürger zu Tod und Sterben
       hingegen hat er mit Neutralität zu begegnen. Wir leben nicht in einem
       Gottesstaat.
       
       Einige Politiker befürchten, dass einmal gelockerte Regelungen weitere
       Lockerungen nach sich ziehen. In Belgien etwa wurde gerade die aktive
       Sterbehilfe auf Minderjährige ausgedehnt. Eine Gefahr? 
       
       Dieses Argument mahnt zur Vorsicht, reicht aber nicht für ein kategorisches
       Verbot. Denn ob der nächste Schritt wirklich kommt, ist eine Prognose. In
       der Schweiz zum Beispiel wird aktive Sterbehilfe für Kinder nicht
       diskutiert, in Oregon und Washington auch nicht.
       
       Und selbst wenn die Prognose eintritt, braucht sie einen Bewertungsmaßstab.
       Wenn ich es dann als gut bewerte, auch bei Jugendlichen über Assistenz beim
       Suizid nachzudenken, dann ist das Resultat des zweiten prognostizierten
       Schrittes ein moralisch wünschenswertes.
       
       Können Kinder überblicken, was es heißt, den Zeitpunkt ihres eigenen Todes
       zu bestimmen? 
       
       Wir kennen Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, die sehr genau um sich
       wissen und durchaus ihren Tod gestalten können. Wir wissen es sicher ab 14
       Jahren, dass Jugendliche die Tragweite und Bedeutung ihres Handelns
       verstehen können. In anderen Bereichen gestehen wir Jugendlichen dieses
       Alters auch Selbstbestimmung zu. Mädchen können heute mit 14 oder 15 Jahren
       die Pille vom Frauenarzt bekommen, ohne dass die Eltern informiert sein
       müssen.
       
       Sie sehen da keinen Unterschied zwischen sexueller Selbstbestimmung und
       Fragen von Leben und Tod? 
       
       Frau Haarhoff, bitte! Ich sage, dass die starre Grenze von 18 Jahren der
       Vielfalt der Entwicklungen des Menschen nicht gerecht wird. Insofern glaube
       ich, dass es richtig war in Belgien, dies zu thematisieren. Bedenken habe
       ich allerdings bei der Ausweitung auf Kinder unter 14 Jahren.
       
       Warum? 
       
       Die Urintention aller Liberalisierung von Sterbehilfe ist die Autonomie des
       Patienten. Indem wir aber Sterbehilfe auf kleine Kinder ausweiten, die noch
       gar nicht über sich selbst bestimmen können, geraten wir in ein anderes
       Paradigma: Wann gebe ich dem Kind die Erlösungsspritze? Wer das möchte, der
       soll das auch so sagen. Ich möchte das nicht.
       
       14 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Haarhoff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Sterbehilfe
 (DIR) Beihilfe zum Suizid
 (DIR) Palliativmedizin
 (DIR) Palliativmedizin
 (DIR) Sterbehilfe
 (DIR) Sterbehilfe
 (DIR) USA
 (DIR) Honorare
 (DIR) Suizid
 (DIR) Sterbehilfe
 (DIR) Minderjährige
 (DIR) Sterbehilfe
 (DIR) Sterbehilfe
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte Palliativmedizin: Selbstbestimmt sterben
       
       Es ist ein Fehler, den Streit über Autonomie auf den Todeszeitpunkt zu
       reduzieren. Das hilft nur der Gesundheitsindustrie.
       
 (DIR) Kommentar Gesetzentwurf zur Sterbehilfe: Verschärfung zur Liberalisierung
       
       Der Entwurf von Ethik-Experten würde Sterbehilfevereine unter Strafe
       stellen, aber ärztliche Beihilfe zum Suizid erlauben. Eine akzeptable
       Lösung.
       
 (DIR) Sterbehilfe in Europa: Richter urteilen über Leben und Tod
       
       In Frankreich ist die Debatte über passive Sterbehilfe neu entbrannt. In
       Großbritannien lehnten die obersten Richter das Recht auf aktive
       Sterbehilfe ab.
       
 (DIR) US-Professor über Krankenhauskontrolle: „Bei uns wäre das undenkbar“
       
       In den USA werden schlecht arbeitende Krankenhäuser finanziell bestraft.
       Das verbessert die Qualität und nutzt den Patienten, sagt Ralph Weissleder.
       
 (DIR) Kommentar Ärztemangel: Leidtragende sind die Patienten
       
       Falsch verteilte Gelder, egoistische Kommunen, zu hohe Honorare. Es gibt
       nicht zu wenig Ärzte. Aber die Verantwortlichen blockieren sich
       gegenseitig.
       
 (DIR) Sterbehilfe in Deutschland: Siebzehn Wege zu sterben
       
       Eine taz-Recherche zeigt: Ärzte, die im falschen Bundesland Sterbehilfe
       leisten, riskieren ihren Job. Pech für Patienten. Droht ein
       „Suizid-Tourismus“?
       
 (DIR) Belgien und die Sterbehilfe: Leiden kennt kein Alter
       
       In Belgien ist jetzt auch Sterbehilfe für Kinder erlaubt. Was macht so eine
       Haltung mit der Gesellschaft? Ein Arzt, ein Priester und ein Politiker
       erzählen.
       
 (DIR) Belgisches Parlament für neues Gesetz: Sterbehilfe ohne Mindestalter
       
       Als erstes Land der Welt erlaubt Belgien Sterbehilfe auch für todkranke
       Kinder. Die Abgeordneten in Brüssel stimmten mit klarer Mehrheit für eine
       Gesetzesänderung.
       
 (DIR) Kommentar Sterbehilfe für Kinder: Selbstbestimmt ins frühe Ende
       
       Sterbehilfe für Kinder? In den Medien hat das zu gruseligen Assoziationen
       geführt. Doch sie gibt Sicherheit in einer schwierigen Ausnahmesituation.
       
 (DIR) Sterbehilfe in Deutschland: Aus der Schublade gezogen
       
       Die Debatte um Sterbehilfe ist wieder entbrannt. So erhält ein alter
       Gesetzentwurf neue Brisanz, der auch ärztliche Beihilfe unter Strafe
       stellen will.