# taz.de -- Brasilien am Welternährungstag: Der politische Wille war da
       
       > Erstmals konnte die UNO Brasilien von der Welthungerkarte streichen. Dazu
       > verhalf dem südamerikanischen Land der Wirtschaftsaufschwung.
       
 (IMG) Bild: Sozialprojekt in Brasilien: Wo Kleinbauern angemessene Preise verlangen können, brauchen sie keine Hilfslieferungen mehr.
       
       RIO DE JANEIRO taz | Mittagessen im städtischen Kindergarten von Camamu.
       Die vielleicht 90 Kinder machen einen Heidenlärm, es ist eng an den langen,
       niedrigen Tischen im Speisesaal. Es gibt gekochtes Gemüse, dazu je ein
       Stückchen Huhn und frisches Obst zum Nachtisch.
       
       Schulspeisung ist nichts Neues in Brasilien: „Die gab es schon, als ich
       klein war“, sagt die Leiterin Almiraci Silva. Allerdings hat sich
       inzwischen vieles verändert: Das staatliche Förderprogramm PNAE wurde neu
       organisisert, es ist mehr Geld da und eine größere Auswahl an
       Lebensmitteln. Vor fünf Jahren legte die Regierung gesetzlich fest, dass 30
       Prozent der Nahrungsmittel für die Kindergärten aus der kleinbäuerlichen
       Landwirtschaft stammen müssen. „Damit hat die Qualität der Ernährung einen
       richtigen Sprung gemacht“, sagt die 44-jährige Pädagogin.
       
       Camamu ist eine Kleinstadt im Bundesstaat Bahia im armen Nordosten des
       Landes. Großgrundbesitz ist hier weit verbreitet, die Einkommen sind extrem
       ungleich verteilt. Bis vor wenigen Jahren gehörte der Hunger in vielen
       Gemeinden zum Alltag.
       
       Die Schulspeisung ist nur eines der staatlichen Programme zur
       Ernährungssicherung in Brasilien, ein anderes richtet sich etwa an Menschen
       ohne feste Einkommen: In Camamu und Umgebung sind es meist
       Kirchengemeinden, die Gemüse und Obst an Bedürftige verteilen. Für Carlos
       Eduardo de Souza von der Organisation Sasop, die in Bahia Kleinbauern
       unterstützt und ökologischen Landbau fördert, ist staatliche Finanzierung
       von Lebensmitteln nur der Anfang: „Nachhaltig sind solche Sozialprogramme
       erst, wenn auch die lokale Produktion von Agrarprodukten gefördert wird“,
       sagt er.
       
       Dabei hat man aus Fehlern gelernt: Früher kauften und verteilten die
       Behörden nur industriell gefertigte Nahrungsmittel, sodass oft sogar Bauern
       auf Hilfen angewiesen waren, um nicht zu hungern. Langjährige Lobbyarbeit
       und der Aufbau von Kooperativen waren nötig, bis Produkte aus der Region in
       die Verteilungsprogramme aufgenommen wurden. „Durch die staatlichen
       Abnahmegarantien sichern die Bauern ihre Existenz und liefern den
       Bedürftigen zugleich gesündere Lebensmittel“, erklärt de Souza.
       
       Brasilien gilt als Erfolgsgeschichte: Mitte dieses Jahres strich die UNO
       das Schwellenland erstmals von der Welthunger-Landkarte. Darüber hinaus
       sank die Zahl jener, die nicht genug zu essen haben, im gesamten
       Subkontinent Lateinamerika schneller als in Afrika oder Asien. Nach Angaben
       der Welternährungsorganisation FAO liegt der Anteil der Unterernährten in
       Lateinamerika heute bei 6,1 Prozent der Bevölkerung – vor 15 Jahren war er
       doppelt so hoch.
       
       Weniger eindeutig als die Zahlen sind die Gründe für diese Entwicklung.
       Fraglos hat der jahrelange Wirtschaftsaufschwung samt der hohen Preise für
       lateinamerikanische Rohstoffexporte bis zur Finanzkrise 2008 eine Rolle
       gespielt. Ausschlaggebend war aber, so sagt Soziologieprofessor Orlando dos
       Santos von der bundesstaatlichen Universität in Rio de Janeiro, der
       politische Wille: „Der Kampf gegen Hunger und Armut ist immer eine
       politische Entscheidung“, sagt er. „Eine Regierung muss dies wollen und die
       entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen, was auch immer zugleich ein
       Umverteilungsprozess ist.“
       
       Nach den vornehmlich neoliberalen 90er Jahren rückten die eher linken
       Regierungen in Ländern wie Venezuela, Bolivien, Ecuador oder Brasilien die
       Sozialpolitik in den Mittelpunkt: „Da die Armutsbekämpfung erfolgreich war,
       sahen sich auch konservative Regierungen wie in Kolumbien oder Peru
       gezwungen, Sozialprogrammen Priorität einzuräumen“, sagt dos Santos.
       
       ## Am wichtigsten bleibt es, Arbeitsplätze zu schaffen
       
       Zwar ist, wie er einräumt, jede Sozialhilfe „zu einem gewissen Maß nur
       lindernd, ohne die Ursachen der Not zu verändern.“ Wichtig aber sei, dass
       Hilfe Teil einer Politik ist, die Einkommen und Selbständigkeit schafft:
       „Kaum ein Land seit der Jahrtausendwende hat so viele Arbeitsplätze
       geschaffen wie Brasilien. Auch die Einkommen und vor allem der Mindestlohn
       sind kräftig gestiegen.“
       
       Das legendäre Null-Hunger-Programm, das Brasiliens erster linker Präsident
       Lula 2003 schuf, gibt es schon lange nicht mehr. Es ist in das sogenannte
       Familienstipendium „Bolsa Família“ übergegangen: eine Vielzahl von
       verschiedenen Sozialleistungen, die spezifischen Bevölkerungsgruppen
       zustehen. In fast jedem Dorf oder Stadtteil gibt es jene staatlichen Büros,
       in denen die Hilfe beantragt werden kann. Große Plakate klären die Menschen
       auf, jede Neuerung wird verkündet.
       
       Mit zunehmendem Wohlstand – die Armut ist in Brasilien laut FAO seit 2001
       um zwei Drittel gesunken – ändern sich auch die Bedürfnisse. Rentner können
       inzwischen Krankengymnastik oder Hydromassagen beantragen, für Kinder gibt
       es weiterbildende Kurse, die viele Schulen nicht anbieten.
       
       Wie erfolgreich die Sozialprogramme sind, zeigt sich nicht zuletzt im
       brasilianischen Wahlkampf. Die Regierung präsentiert sie als wichtigstes
       Argument für Kontinuität, die rechte Opposition beteuert, sie wolle das
       Familienstipendium keinesfalls abschaffen, sondern sogar ausbauen.
       
       16 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Behn
       
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