# taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Der Affekt wider das Ritual
       
       > Statt „Man wird doch noch mal sagen dürfen“ heißt es nun: „Man wird doch
       > noch mal anders erinnern dürfen.“ Über das Supergedenkjahr 2014.
       
 (IMG) Bild: Allein von Mai bis Juli 1944 wurden über 400.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert (undatierte Aufnahme).
       
       Aus dem sogenannten Super-Gedenkjahr 2014 ist die Luft raus, Mauerfall,
       Erster Weltkrieg, Beginn Zweiter Weltkrieg vor 75 Jahren sind abgehakt. Von
       der Vernichtung der europäischen Juden war zwar nicht viel die Rede,
       dennoch meinen manche, die deutsche Erinnerungskultur sei insgesamt von
       einem hegemonialen Holocaust-Gedenken geprägt. Bekannt sind die Beschwerden
       über erstarrte „Rituale“, eine angebliche „Gedenkindustrie“ und zu viele
       „Kranzabwurfstellen“.
       
       Der Zukunftsforscher und stolze Wahlverweigerer Harald Welzer etwa spricht
       in seinem mit Dana Giesecke veröffentlichten Buch „Das Menschenmögliche.
       Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur“ von einer „Diktatur der
       Vergangenheit“. Die Erinnerung an den Holocaust sei „schal, petrifiziert,
       inhaltsleer“ geworden – „und zwar exakt wegen ihrer
       Vergangenheitsfixierung“.
       
       Der „antiritualistische Affekt“ (Aleida Assmann) ist allerdings längst
       selbst zum Ritual geworden. Es fällt nicht schwer, hier eine retromane
       Version der typischen Anti-PC-Geste zu erkennen. Statt „Man wird doch noch
       mal sagen dürfen“ heißt es nun: „Man wird doch noch mal anders erinnern
       dürfen.“ Wer das sagt, darf sich als Freigeist fühlen, der sich dem
       aufgezwungenen Erinnerungskonsens widersetzt. Rituale sind aus dieser Sicht
       voraufklärerisch, sie entmündigen die freien Individuen.
       
       Doch wenn die Holocaust-Erinnerung tatsächlich so durchgesetzt und
       hegemonial wäre, wie die Gedenkkritiker behaupten, dann hätte es 2014
       keinen aufgewärmten Streit über den Ersten Weltkrieg und keine Mauerballons
       geben dürfen. Dann hätte einzig der ungarischen Juden gedacht werden
       müssen, die vor 70 Jahren vergast wurden. Allein von Mai bis Juli 1944
       wurden über 400.000 nach Auschwitz deportiert.
       
       Die Berichte von Mitgliedern der jüdischen Sonderkommandos über ungarische
       Jungs, die sich vor Todesangst die Haare ausreißen und an die Beine der
       Sonderkommandos klammern, gehören mit zum Entsetzlichsten, was über die
       Judenvernichtung zu lesen ist.
       
       ## Kein offizielles Erinnern
       
       Daran gab es genau 70 Jahre später kein kollektives und offizielles
       Erinnern. Trotzdem meint Harald Welzer, es solle nun nicht mehr „das
       monumentalisierte Grauen der Vernichtungslager“ thematisiert werden, das
       sei ja quasi abgedroschen, sondern „das alltäglichere Bild einer
       Gesellschaft, die zunehmend verbrecherisch wird“. Als müssten sich
       Alltagsgeschichte und unnachgiebiges Opfergedenken gegenseitig
       ausschließen.
       
       „Nicht vergessen zu sollen ist ein sinnloser Appell, wenn niemand vergessen
       will“, schreibt Welzer. Stattdessen solle man sich der Zukunft zuwenden,
       diese sei der Bezugspunkt der historischen Bildung, nicht das Vergangene.
       Niemand will vergessen? Diese optimistische Diagnose klingt doch verdächtig
       abwiegelnd.
       
       Die Rede vom lähmenden Konsens ist nicht nur empirisch zweifelhaft, sondern
       auch neoliberal: Die offiziöse Erinnerung – denunziert als hypertrophe
       Gedenkbürokratie – soll im Sinne einer Minimalpolitik verschlankt werden.
       Wie so oft, wenn es in Deutschland ums Gedenken geht, werden die Opfer und
       ihre Nachkommen dabei empathiefrei ausgeblendet.
       
       ## Offizielle Anerkennung des Leids
       
       Woher wollen Welzer und Kollegen eigentlich wissen, was die „ritualisierte“
       Rede vor dem Deutschen Bundestag für einen Holocaust-Überlebenden
       persönlich bedeutet? Vielleicht kann es für manche in Berlin lebende junge
       Juden gar nicht genug offizielle Anerkennung des Leids ihrer Vorfahren
       geben?
       
       In die richtige Richtung gedreht könnte Ritualisierungskritik bedeuten:
       Statt formelhaft die „historische Verantwortung Deutschlands“ zu
       beschwören, müsste die traumatische Unabschließbarkeit der Erinnerung im
       Sinne eines unversöhnlichen „Eingedenkens“ (Walter Benjamin) zum Gegenstand
       werden. Dann aber darf das singuläre Grauen der Vernichtungslager, anders
       als von Harald Welzer herbeigewünscht, weder durch eine Verallgemeinerung
       ins „Menschenmögliche“ noch in einer naiven Zukunftsemphase neutralisiert
       werden.
       
       Die Geschichte der Vernichtung lässt sich nie loswerden, sie ragt für immer
       in Gegenwart und Zukunft hinein. Mit hohler „Vergangenheitsfixierung“ hat
       das nichts zu tun, eher mit einem realistischen Blick auf die Heimsuchungen
       durch das niemals Vergehende.
       
       13 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Aram Lintzel
       
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