# taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Lieber subjektive Trugbilder
       
       > Ich-Journalismus ist eitel und öde? Das Teilen subjektiver Erfahrungen
       > entspricht den flachen Hierarchien des Netzzeitalters. Und ist obendrein
       > ehrlicher.
       
 (IMG) Bild: Was aus dem Mund kommt, kommt immer aus dem Ich.
       
       Heftig schalt neulich Michael Sontheimer [1][in einem taz-Beitrag] die
       Kolleginnen und Kollegen. In deutschen Zeitungen und Magazinen werde
       „Nabelschau“ betrieben, eitel und narzisstisch dargebotene Banalitäten
       beherrschten die journalistische Berichterstattung, die diesen Namen kaum
       mehr verdiene. Indikator für diese Verfallsgeschichte sei die Omnipräsenz
       des Wortes ich: „Es icht. Es icht immer häufiger in den deutschen Zeitungen
       und Zeitschriften. Es icht ganz furchtbar“, so Sontheimer.
       
       Aber greift es nicht etwas zu kurz, Qualitätsmängel allein an dem Ich-Wort
       festzumachen? Gibt es sonst keine Kriterien? Als ob es nicht genügend
       Journalisten gibt, die ihre Eitelkeit in eine Sprache der Objektivität
       kleiden. Seit Nietzsches Vernunftkritik ist bekannt, dass der Glaube an ein
       autonomes Subjekt lediglich einer „grammatischen Gewohnheit“ entspringt.
       
       Sontheimer mag seine Störgefühle ohne die erste Person ausdrücken, den
       metaphysischen Schrullen der Subjekt-Prädikat-Struktur entkommt er deswegen
       nicht. Ganz im Gegenteil: Er überhöht das Ich ex negativo und macht es zum
       Vehikel für einen mehr oder weniger versteckten Traditionalismus und ein
       gewisses Ressentiment.
       
       Sontheimers polemische Denunziation zielt ganz direkt auf einen
       Kolumnenjournalismus, wie er auch [2][in der taz gepflegt wird]. Allerdings
       unterschlägt er dessen äußere Bedingungen. Der neue Kolumnismus ist eine
       Antwort der herkömmlichen Printblätter auf die neue Blogkultur mit ihrem
       oft anmaßenden Subjektivismus. Deren Popularität stellt den klassischen
       Edelfederjournalismus radikal infrage.
       
       ## Legitimationsprobleme herkömmlicher Schreibweisen
       
       Nun mag man die Konvergenz von Blogjournalismus und Printjournalismus
       opportunistisch finden oder schlicht als Ausdruck einer eitlen
       „Selbststilisierung“ verdammen. Die Legitimationsprobleme der herkömmlichen
       Schreibweisen verschwinden deswegen nicht. Denn wer glaubt noch, dass das
       Herrschaftswissen in den Redaktionen zentralisiert wäre? Das Sharen
       subjektiver Alltagserfahrungen ist ein Eingeständnis genau dieses
       Machtverlusts. Journalisten versuchen nicht mehr von oben herab zu
       schreiben und zeigen, dass ihr Leben genauso trivial ist wie das ihrer
       Leser.
       
       Dieses Schreiben in flachen Hierarchien kann für manche Leser durchaus eine
       therapeutische Funktion haben: Ich bin nicht allein. Das darf man zu Recht
       belanglos und betroffenheitskitschig finden, aber das Phänomen als solches
       lässt sich nicht unvermittelt personalisieren und den angeblich so eitlen
       Autoren ankreiden. Es ist das Ergebnis einer neuen Form von Interaktion
       zwischen Schreibern und Lesern. Selbst dann, wenn Autoren bewusst im
       Hintergrund bleiben, werden ihre Texte in den Onlineforen heutzutage ad
       personam adressiert.
       
       Und ist die Alternative – die ich-freie Behauptung dringlicher
       Objektivitäten und Relevanzen – wirklich so wünschenswert? Ein großspuriger
       Debattenjournalismus, wie er im „Debattenmagazin“ The European versucht
       wird, wirkt oft allzu händeringend. In [3][der aktuellen Ausgabe] ist
       „Hitlertainment“ das heiße Thema. Gänzlich ich-frei ist auch der
       professional style des typischen Spiegel-Artikels.
       
       ## Der Schwindel der Objektivität
       
       Doch sind diese Texte mit ihren durchschaubaren Skripten tatsächlich besser
       für den „Ruf des Berufsstands“, um den Sontheimer sich sorgt? Ulrich Raulff
       liefert in seinem neuen Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden
       Jahre des Lesens“ ein passendes Roland-Barthes-Zitat zu diesem Thema:
       „Lieber die Trugbilder der Subjektivität als der Schwindel der
       Objektivität.“
       
       Wobei Michael Sontheimer gegen Subjektivität an sich nichts einzuwenden
       hat, vorausgesetzt, sie steht für eine „charismatische, kluge Person, die
       existenzielle Erfahrungen gemacht hat“. Doch echte Typen gebe es leider
       kaum noch, denn „Journalisten in Deutschland stammen nahezu ausnahmslos aus
       dem Mittelstand, gerne ist der Vater oder die Mutter Lehrer“.
       
       Ja ja, wir Mittelschichtschreiber sind alle verweichlicht und verweiblicht.
       Sontheimer garniert seinen machistischen Klassendünkel dann noch mit einer
       neokonservativen Volte gegen die „inzwischen hegemoniale Alternativkultur
       der Siebzigerjahre“. Sehnt sich da jemand nach krasseren Zeiten zurück?
       Sontheimer mag die Reportagen von Carolin Emcke schätzen, noch lieber wäre
       ihm wohl aber der heroische Scholl-Latour-Journalismus alter Schule.
       
       Ich ganz persönlich stürze mich lieber narzisstisch ins nächstbeste
       Stylegewitter, anstatt mich fürs journalistische Stahlgewitter rekrutieren
       zu lassen.
       
       13 Oct 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Das-Ich-im-Journalismus/!146417/
 (DIR) [2] /!p4634/
 (DIR) [3] http://de.scribd.com/doc/237772764/The-European-4-2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Aram Lintzel
       
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