# taz.de -- Die muslimische Welt und der Westen: Europa ist nicht bedroht
       
       > Muslime ringen heute mit sich selbst, nicht mit dem Abendland. Wir werden
       > nicht mehr gebraucht – auch nicht als Zielscheibe
       
 (IMG) Bild: Der Halbmond schreckt hierzulande Viele auf
       
       An einem schwarzen Tag in diesem Winter starben 132 pakistanische Kinder
       bei einem Attentat auf ihre Schule. Zur selben Zeit wurden 15 jemenitische
       Kinder in ihrem Schulbus Opfer einer Bombe. Von einem Angriff auf den
       Westen sprach niemand.
       
       Nicht einmal westliche Werte ließen sich zitieren, wurden doch an diesem
       Tag ganz offensichtlich islamische Werte in den Boden gestampft: Fürsorge
       für Schwache, Kinderliebe, der hohe Rang der Familie.
       
       Nur aufgrund ihrer großen Zahl hatten die toten Kinder einen
       Nachrichtenwert. Ein Wert, der zivilen muslimischen Opfern gewöhnlich nicht
       zukommt. So rückte der düstere Dezembertag für einen Moment ins Licht, was
       sonst unbeachteter Alltag ist: Wo islamisch verbrämter Terror wütet,
       sterben vor allem Muslime.
       
       Anders gesagt: Die Konflikte, Kämpfe und Kriege in der islamischen Welt
       werden vor allem unter Muslimen ausgetragen – und nicht gegen den Westen
       oder dessen vermeintliche Statthalter.
       
       ## Der IS muss herhalten
       
       Dies gilt auch und gerade für den „Islamischen Staat“ (IS), der in einer so
       grotesken wie tragischen Verzerrung globaler Größen- und
       Mehrheitsverhältnisse immer dann herhalten muss, wenn im Westen jemand eine
       neue Theorie über den Islam auf den Markt werfen will.
       
       Doch es sind keine westlichen Werte, die der IS zu zermalmen sucht, sondern
       uralte Werte des Nahen Ostens, eine über Jahrhunderte praktizierte
       religiöse und kulturelle Pluralität, die es im Westen in dieser Form nie
       gab. Der IS nutzt die ekstatische westliche Aufmerksamkeit überaus
       professionell, spielt mit ihr – aber er braucht den Westen nicht.
       
       Die Epoche, in der sich ein politischer Islam am Westen abarbeitete und
       gegen den Westen eine muslimische Identität zu konstruieren suchte, geht
       ihrem Ende zu – wenn sie nicht schon vorbei ist. Es war die Furcht vor
       einem übermächtig wirkenden Europa, aus der im 19. Jahrhundert der
       politische Islam entstand: ein Europa, das industriell revolutionär,
       wirtschaftlich expansiv und kolonial aggressiv war – und sich anschickte,
       den muslimischen Osten „spurlos verschwinden zu lassen“.
       
       Das waren die Worte Dschamal al-Din al-Afghanis, 1838 in Nordpersien
       geboren, eines reisenden Denkers, der als Erster Islam und Westen als
       Gegensatz verstand. Sein Einfluss blieb prägend, noch für die Revolution in
       Iran 1979. Heute indes spricht Irans geistlicher Führer Ali Chamenei von
       einer „neuen Weltordnung“.
       
       ## Der Westen ist nicht der Mittelpunkt
       
       Wie sieht sie aus, die neue Weltordnung? Der hiesigen Öffentlichkeit fällt
       es schwer, sich mit einer Realität vertraut zu machen, in der der Westen
       nicht mehr im Mittelpunkt steht – nicht einmal als Zielscheibe islamischen
       Terrors. Aber warum?
       
       Liegt es daran, dass nichts unser Bewusstsein so nachhaltig geprägt hat wie
       die Bilder von 9/11? Oder ist der Westen so selbstbezogen, dass er den
       eigenen Bedeutungsverlust nicht einmal dann zulassen kann, wenn er
       entlastend wäre? Müssen wir uns hinreichend bedroht fühlen und deshalb
       zwanghaft die relativ kleine Zahl westlicher Opfer ins Zentrum unserer
       Wahrnehmung rücken? Oder geht es darum, unsere Deutungshoheit und
       gegebenenfalls unser Interventionsrecht zu verteidigen?
       
       Es gibt für all dies keine leichten, keine raschen Antworten. Ebenso wenig
       wie auf die Frage, warum die Kämpfe unter Muslimen, die Kämpfe um Macht,
       Ressourcen und die Deutung der Religion zumindest in einigen Gebieten eine
       derartige Gewalttätigkeit angenommen haben.
       
       Es liegt aber nahe, dass beides zusammenhängen könnte: dort das Chaos des
       an vielen Fronten geführten Kriegs, hier das Festhalten an Deutungsmustern,
       die ihr Verfallsdatum überschritten haben. Beides sind Facetten einer nun
       schemenhaft aufkommenden neuen polyzentrischen Weltordnung, die bisher eher
       von außereuropäischen Intellektuellen versuchsweise vermessen wird.
       
       ## Narzisstisches Europa
       
       Für den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe ist es „die Grunderfahrung
       unseres Zeitalters“, dass „Europa nicht mehr das Gravitationszentrum der
       Welt bildet“. Und der indische Autor Pankaj Mishra spottet über die „wirren
       Selbstbilder“ der Europäer, die sich immer noch für das Maß des
       Fortschritts hielten.
       
       Das dichotome Denken – wir und sie, der Westen und der Islam – war bei uns
       für kurze Zeit aufgebrochen, während des sogenannten arabischen Frühlings.
       Nun ist es mit überraschender Wucht zurückgekehrt, auf den Straßen und in
       Schreibstuben. Welch seltsamer Zufall: Nachsicht gegenüber der
       antiislamischen Pegida-Bewegung paart sich nun mit dem Bemühen, die
       angeblich faschistischen Ursprungsmotive des Islamismus zu enthüllen.
       
       Um nicht missverstanden zu werden: Zur Debatte steht hier nicht das
       moralische Gewicht des Faschismusvorwurfs, wenn er auf den IS gemünzt wird,
       eines Phänomens, an dem bisher unsere politischen Begriffe versagen.
       
       Aber welche „wirren Selbstbilder“ sind am Werk, wenn dabei der im Herzen
       des Abendlands entstandene Faschismus als antiwestlich bezeichnet wird?
       „Wie der Nazismus ist der Islamismus (?) eine zutiefst antiwestliche
       Ideologie“, meint Welt-Autor Clemens Wergin; denn beide sähen im
       Liberalismus den Hauptfeind. Verhasste Teile der eigenen Persönlichkeit
       abspalten und sie auf andere projizieren – Psychologen ist dieses Muster
       vertraut. Die US-Folter wäre demnach antiwestlich, auch wenn sie selbst es
       nicht weiß.
       
       ## Schwarz-Weiß funktioniert nicht mehr
       
       Womöglich sind solche intellektuellen Kunstsprünge die einzige Möglichkeit,
       um im zunehmend unübersichtlichen Gelände ein dichotomes Weltbild zu
       wahren. Faktisch aber werden die Attribute „westlich“ und „antiwestlich“
       immer funktionsloser. Beispiel Säkularität: Darin einen Ausweis
       demokratischer Gesinnung zu sehen, war schon früher dubios.
       
       Die Regierung al-Sisi geht in Ägypten mit einer Härte gegen Homosexuelle
       vor, die es während der Herrschaft der Muslimbrüder nicht gab. Trügerisch
       auch die Annahme, gebildete Muslime seien eher säkular, während Arme,
       Ungebildete die leicht manipulierbare Gefolgschaft islamistischer Parteien
       darstellten. Deren Wähler sind nach neuen Erhebungen gut integriert und oft
       sogar gebildeter als der Rest. Keine Modernisierungsverlierer, sondern aus
       Überzeugung konservativ.
       
       In einer Welt, in der die Macht zunehmend multipolar verteilt ist, wird
       auch in der muslimischen Hemisphäre eine Vielfalt politischer Modelle
       entstehen, die sich nicht mehr nach ihrer Nähe zu westlichen Vorbildern
       sortieren lassen. Womöglich wird ausgerechnet der Iran, schon heute ein
       Hybridsystem, dafür einmal ein Beispiel sein. Während die Regierung Rouhani
       mit dem Westen verhandelt, konservieren die Hardliner ihre antiwestliche
       Propaganda, warnen vor einem „samtenen Umsturz“ durch die Infiltration
       westlicher Auffassungen.
       
       Tatsächlich hat sich die iranische Gesellschaft in drei Jahrzehnten
       Islamischer Republik bereits so gewandelt, dass die Propaganda der
       Hardliner wie aus der Zeit gefallen wirkt. Ihre Slogans haben eine ähnliche
       Funktion wie die Islamisierungsschimäre von Pegida: die eigenen Karten zu
       verbergen. Nicht klar zu sagen, was für eine Gesellschaft man will.
       
       ## Indonesien zerfällt nicht
       
       Große Teile der islamischen Welt haben sich jener Liebe-Hass-Beziehung mit
       dem Westen, die in unseren Feuilletons beschrieben wird, nie angeschlossen.
       Beispiel Indonesien, mit 250 Millionen Menschen die größte muslimische
       Nation. Westliche Experten haben dem Vielvölkerstaat wahlweise seinen
       Zerfall oder seinen Absturz in den Islamismus prophezeit. Nichts davon ist
       geschehen. Gerade wurde ein junger demokratischer Präsident gewählt.
       
       Es geschieht auch sonst vieles nicht, was die westlichen Propheten sagen.
       Sie werden sich damit abfinden müssen, dass ihr Standort irgendwann nicht
       mehr sein wird, als eine geografische Kategorie.
       
       1 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Wiedemann
       
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