# taz.de -- 70 Jahre Befreiung von Auschwitz: Der Überlebende
       
       > Im KZ Auschwitz verlor Marian Majerowicz seine Familie. Er selbst
       > überlebte. Der 70. Jahrestag der Befreiung ist Menschen wie ihm gewidmet.
       
 (IMG) Bild: Marian Majerowicz blieb in Polen. Wäre er besser nach Israel gegangen, denkt er heute.
       
       WARSCHAU taz | Normalerweise achtet er nicht auf die Nummer. Längst ist sie
       Teil seines Körpers geworden. Doch wenn er vor Schulklassen seine
       Geschichte erzählt und dann den linken Hemdsärmel langsam nach oben
       krempelt, ist es jedes Mal Ritual und Risiko zugleich: Nie weiß Marian
       Majerowicz, welche Gedanken und Gefühle im nächsten Moment hochkommen. In
       seiner Warschauer Wohnung schießen dem heute 88-Jährigen die Tränen in die
       Augen. Mit einem großen Taschentuch trocknet er das Gesicht. Wortlos.
       „Zählen Sie mal die Ziffern zusammen 1+5+7+7+1+5! Es ist eine ganz
       besondere Nummer“, sagt er wieder gefasst. „Sie haben mir in Auschwitz eine
       Lebensnummer gegeben. Die 26. Mein Geburtsjahr.“
       
       Jedes Jahr fährt Majerowicz am Jahrestag der Befreiung des
       NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in die
       südpolnische Stadt Oswiecim. „Von meiner Familie wurde dort niemand
       befreit. Erst schickten die Nazis meine Mutter und meinen damals
       dreijährigen Bruder ins Gas. Dann musste ich mich von meinem Vater
       verabschieden. Bevor die Rote Armee in Auschwitz eintraf, war ich schon auf
       dem Todesmarsch.“
       
       Aus einer Schublade im Wohnzimmerschrank zieht Majerowicz ein blau-weiß
       gestreiftes Häftlingshalstuch und die Einladung zur Gedenkfeier am 27.
       Januar. „Die Organisatoren fragten mich, ob ich vielleicht am 70. Jahrestag
       auch eine Rede halten möchte.“ Er macht eine Pause. „Aber ich kann dort
       keine Rede halten. Vor so vielen Menschen. Auf dem Friedhof meiner Familie
       und rund einer Million anderer Juden. Da sollen andere reden.“
       
       Dass der heute fast 90-Jährige wie ein 65-Jähriger wirkt, klein und
       drahtig, sportlich durchtrainiert und geistig wach, kommentiert Majerowicz
       mit einem Schulterzucken. Ohne eine robuste Gesundheit hätte er Auschwitz
       und den Todesmarsch nicht überleben können. Disziplin gehörte auch dazu.
       Nach dem Krieg holte der damals 18-Jährige das Abitur nach, besuchte die
       Offiziersschule und schlug eine Militärlaufbahn ein.
       
       ## Zu Zeitzeugengesprächen eingeladen
       
       „Bis heute mache ich jeden Tag Morgengymnastik, außerdem habe ich so viele
       Aufgaben und Pflichten, dass manchmal der Tag gar nicht ausreicht.“ So sei
       er Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Kriegsveteranen und Opfer des
       Zweiten Weltkriegs in Warschau, arbeite mit der Organisation „Kinder des
       Holocaust“ in Polen und dem Maximilian-Kolbe-Werk in Deutschland zusammen.
       Immer wieder wird er zu Zeitzeugengesprächen in Schulen eingeladen.
       
       „Als der Krieg ausbrach, war ich 13 Jahr alt und ging noch in den Cheder,
       die religiöse Grundschule. Wir lebten in Myszkow in Oberschlesien“, erzählt
       er. Die Verhältnisse seien einfach gewesen, aber sie kamen über die Runden.
       Der Vater Boruch Chaskiel Majerowicz war Schneider und hatte gut zu tun.
       Die Mutter Rifka kümmerte sich um den Haushalt und die drei Kinder.
       
       „Mit der Ankunft der Deutschen in Myszkow verschlechterte sich die
       Situation für uns Juden dramatisch, aber richtig schlecht wurde es 1942. Da
       führten die Nazis die ’Aktion Judenrein‘ durch. Wir wurden ins 13 Kilometer
       entfernte Ghetto Zawiercie deportiert.“ Majerowicz schweigt einen Moment:
       „Wir hatten entsetzlichen Hunger. Die Wohnung war ein nasses Loch.“ 1943
       sei das Ghetto aufgelöst worden. Die Familie wurde getrennt. Die Eltern und
       die beiden Brüder mussten den Zug nach Auschwitz besteigen. Er selbst und
       hundert kräftige Jungen leisteten weiterhin Zwangsarbeit in Zawiercie.
       
       „Aber das dauerte nicht lang. Drei Monate. Dann waren auch wir in
       Auschwitz.“ Der alte Mann hält wieder inne: „Es ist schwer zu erzählen. In
       Birkenau kam mein Vater auf mich zu. Ich habe ihn nicht erkannt.
       Ausgemergelt, kahl – wie ein Gespenst sah er aus.“ Der Vater erzählte ihm,
       dass sich die Mutter bei der Selektion auf der Rampe nicht vom dreijährigen
       Rublik trennen wollte. Sie seien beide sofort ermordet worden.
       
       Die Nummer, die dann auf seinem linken Unterarm eintätowiert wurde, sei
       eine ganz besondere gewesen. Das hätten sein Vater und er sofort bemerkt:
       157715 – in der Quersumme sein Geburtsjahr. „Wir haben das als ein Zeichen
       des Schicksals angesehen: Ich würde diese Hölle überleben.“
       
       ## "... sah ich zu, wie er ins Gas ging“
       
       Jeden Tag hätte es Selektionen in den Häftlingsbaracken gegeben. Im Januar
       1944 habe ein SS-Mann mit der Peitsche auch auf seinen Vater gezeigt. Das
       war das Todesurteil. „Ich habe meine Tagesration Brot für zwei Zigaretten
       getauscht. Dann haben wir uns umarmt und verabschiedet. Er rauchte noch die
       Zigaretten. Und am nächsten Tag sah ich zu, wie er ins Gas ging.“
       
       Majerowicz räumt den Wohnzimmertisch auf, um sich zu fassen. Er faltet das
       Halstuch zusammen, stapelt die Papiere aufeinander und verstaut alles
       wieder in der Schublade. „Mein zwei Jahre älterer Bruder Szmulek kam zur
       Zwangsarbeit nach Deutschland. Er hatte großes Glück. Das hat ihm das Leben
       gerettet.“ Aber das habe er damals nicht gewusst. Er dachte, alle seien
       tot. Ermordet. Vergast. Verbrannt. Kurz darauf habe es wieder eine
       Selektion in Auschwitz-Birkenau gegeben. Aber diesmal wurden junge,
       kräftige Häftlinge ausgewählt. „Wir kamen nach Jaworzno, ein Nebenlager von
       Auschwitz. Dort mussten wir so schwer im Kohlbergwerk arbeiten, dass ich
       mir einen Rückenschaden zugezogen habe. An manchen Tagen konnte ich vor
       Schmerzen kaum laufen.“
       
       Er steht auf, streckt sich, setzt in der kleinen Küche Wasser auf und deckt
       den Tisch. „Am 18. Januar 1945, als die Rote Armee schon vor Tschenstochau
       stand, lösten die Deutschen das KZ Auschwitz-Birkenau auf. Es war
       entsetzlich kalt. In Jaworzno luden sie uns in einen offenen Güterwaggon.
       Ich war kurz vor dem Erfrieren.“ Es ging zurück nach Auschwitz. Doch die
       Gaskammern arbeiteten nicht mehr. Die Todesmärsche begannen. „Als wir
       losliefen, waren wir 1.200 Häftlinge.“
       
       Fast vier Monate lang marschierten sie auf Nebenstraßen durch Polen und
       Deutschland, kreuz und quer, bei jedem Wetter, weit über 1.000 Kilometer.
       Erst am 9. Mai 1945 befreite sie die Rote Armee rund 60 Kilometer vor Prag.
       „Von den 1.200 waren nur noch 106 übrig. Alle anderen waren auf dem Marsch
       erfroren, oder verhungert.“ Unwillkürlich zieht er die Schultern zusammen.
       Die Kälte. Es sei so unglaublich kalt gewesen. Das wichtigste seien die
       Schuhe gewesen. Am besten Stiefel.
       
       „Manchmal wollten uns Polen und später Deutsche am Straßenrand Brot
       zuwerfen, Pellkartoffeln, oder uns etwas zu trinken geben. Aber die wurden
       sofort erschossen.“ Wo die SS-Männer sie auch hintrieben, hinterließen sie
       eine Blutspur: verhungerte und entkräftete Häftlinge im Straßengraben,
       erschlagene Flüchtlinge sowie erschossene Frauen und Männer, die ihnen
       helfen wollten. „Am 9. Mai war alles vorüber. So etwas wie Freude hat wohl
       kaum jemand von uns verspürt. Wir waren viel zu erschöpft.“
       
       Marian Majerowicz schenkt Tee ein. Er ist erleichtert, das Schlimmste schon
       erzählt zu haben. Nach Kriegende habe er nur einen Gedanken gehabt: „Nach
       Hause! Ich hoffte, irgendjemanden in Polen wiederzutreffen, zumindest von
       der entfernteren Familie, von den alten Freunden oder Nachbarn.“ Nach ein
       paar Tagen Erholung habe er sich auf den Weg zurück gemacht. Doch in
       Myszkow traf er nicht nur niemanden von der Familie. In der früheren
       Wohnung wohnten jetzt Fremde. Ebenso in der Wohnung der Großeltern. Als
       drei zurückkehrende Schoah-Überlebende in Myszkow ermordet wurden, flohen
       die Heimkehrer in Panik.
       
       ## Brief aus Israel - mit einer Überraschung
       
       „Später half mir ein Pole, den ich von früher kannte. Er holte mich nach
       Klodzko, ins frühere Glatz, und gab mir Arbeit als Koch bei der
       Kommunistischen Partei.“ Majerowicz trat dann auch in die Partei ein,
       glaubte an einen Neuanfang und eine bessere Zukunft. Er bezog eine von den
       Deutschen verlassene Wohnung in Klodzko. „Irgendwie hat mich dann mein
       älterer Brüder gefunden. Er hatte in Deutschland Zwangsarbeit geleistet und
       auch überlebt. Wir haben dann unser Leben neu begonnen.“
       
       Dann sei irgendwann ein Brief aus Israel gekommen. Seine Tante Dora
       Birenbaum, die jüngere Schwester des Vaters, hatte ebenfalls überlebt und
       die erste Chance genutzt, um nach Palästina zu emigrieren. Majerowicz hatte
       eine neue Wohnung, Arbeit, wollte in Polen bleiben. 1948 wurde er zur neu
       gegründeten Armee der Volksrepublik Polen eingezogen, diente zwei Jahre und
       blieb dann beim Militär. „Ich heiratete, bekam eine Tochter, machte
       Karriere – bis zum Jahr 1968. Da wurde ich Knall auf Fall in Rente
       geschickt. Ich war gerade 42 Jahre alt.“
       
       Um von der katastrophalen wirtschaftlichen Lage und den Fehlentscheidungen
       der Partei abzulenken, veranstaltete die Polnische Vereinigte
       Arbeiterpartei eine antisemitische Hetzkampagne. Schuld an der Misere in
       Polen seien die „Zionisten“. Rund 30.000 Juden emigrierten nach Israel,
       Frankreich, Schweden, in die USA. Die Übrigen versuchten „unsichtbar“ zu
       werden. So auch Majerowicz: „Meine Frau war Katholikin, ihre ganze Familie
       lebte hier. An eine Emigration war nicht zu denken, und schon gar nicht
       nach Israel.“
       
       Die arbeitslosen Juden seien 1968 in Behindertenwerkstätten untergekommen.
       „Als Schoah-Überlebender hatte ich automatisch den Invaliden-Status.
       Tausende von uns haben dann Spielzeug oder Ledertaschen in sogenannten
       Invaliden-Fabriken hergestellt.“ Als er in den 80er Jahren die wenigen
       Verwandten in Israel besuchte, seien ihm zum ersten Mal Zweifel gekommen:
       „Jetzt im Alter, wenn ich auf die letzten Jahrzehnte zurückblicke, denke
       ich mitunter, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn ich nach dem Krieg
       nach Israel oder in die USA emigriert wäre. Mein Leben hätte eine ganz
       andere Richtung genommen“, so Majerowicz. „Aber es ist eben so gekommen,
       wie es gekommen ist.“
       
       26 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Lesser
       
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