# taz.de -- Oppositioneller über Putins Machtpolitik: „Russland ist lebensgefährlich“
       
       > Wladimir Ryschkow, Ex-Duma-Abgeordneter und enger Weggefährte des
       > ermordeten Politikers Boris Nemzow, fürchtet um sein Leben. Russland sei
       > eine Diktatur.
       
 (IMG) Bild: Jeder kann der Nächste sein: Gedenken an den ermordeten Boris Nemzow am 7. März 2015 in Moskau.
       
       taz: Vor einem Monat wurde auf Boris Nemzow ein Attentat verübt. Was hat
       die Opposition an den Ermittlungen auszusetzen? 
       
       Wladimir Ryschkow: Wir haben gerade Präsident Putin gebeten, eine
       Kontaktgruppe zum Ermittlungskomitee einzurichten. Wir wollen über den
       Stand der Ermittlungen informiert sein und verstehen, was vor sich geht.
       Nur so können wir den Ermittlungen auch vertrauen. Wie Wladimir Putin
       entscheidet, ist offen. Ich bin mit den Ermittlungen nicht zufrieden, weil
       nur wenige Informationen nach außen dringen und der Mord so dargestellt
       wird, als gäbe es keine Auftraggeber. Die Widersprüche sind offensichtlich
       ...
       
       Was sind das für Ungereimtheiten? 
       
       Einerseits wird behauptet, es seien 5 Millionen Rubel für den Mord gezahlt
       worden. Demnach ist es ein Auftragsmord gewesen. Andererseits wird der
       Eindruck erweckt, als hätten die Verdächtigen die Tat allein geplant.
       
       Eine linguistische Analyse der Mails und Posts an Nemzow soll jetzt
       erstellt werden. 
       
       Nemzow erhielt viele Drohungen. Gegen eine Prüfung ist nichts einzuwenden.
       Es muss aber verhindert werden, dass er und seine Freunde kompromittiert
       werden. Leider ist nicht ausgeschlossen, dass ein doppeltes Spiel getrieben
       wird.
       
       Haben Sie Angst, das nächste Opfer zu sein? 
       
       Ja, die Gefahr ist groß. Ich werde überwacht. Neulich stand derselbe Wagen
       vorm Restaurant, wo ich gegessen hatte, der später auch vor meiner Haustür
       auftauchte. Mir war vorher schon aufgefallen, wie zwei Männer an einem
       Nebentisch nur Tee tranken. Die klassische Agenten-Nummer.
       
       Alle Verdächtigen im Fall Nemzow dienten in der tschetschenischen
       Eliteeinheit „Sewer". Sie sind Verwandte oder Freunde des tschetschenischen
       Präsidenten Ramsan Kadyrow. Bislang führen die Spuren alle nach
       Tschetschenien. Wenn die Fährte am Flughafen in Grosny abbricht, bedeutet
       das aber: wir alle - Journalisten oder Menschenrechtler - sind bedroht,
       solange der Auftraggeber nicht genannt wird. Bis heute weiß man nicht, wer
       die Morde an Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa oder Galina Starwoitowa
       in Auftrag gab.
       
       Wurden Sie früher nicht observiert? 
       
       Doch, aber meistens nur vor größeren Protestaktionen. Ich verstehe nicht,
       warum die „Agenturen" auf einmal so aktiv sind. Im Altai sind mir vor
       kurzem auch zwei Wagen tagelang gefolgt.
       
       Was bedeutet der Mord an Nemzow für die Opposition? 
       
       Das Verbrechen hat neue Realitäten geschaffen. Die Opposition wird nicht
       mehr nur bedroht und ins Gefängnis gesteckt. Sie wird jetzt auch getötet.
       Die Bedingungen für unsere Arbeit sind noch schwieriger geworden. Kurz vor
       seinem Tod meinte Nemzow: Opposition gäbe es keine mehr, wir seien nur noch
       Dissidenten jeder für sich auf seine Weise. Das trifft nach seinem Tod noch
       mehr zu.
       
       Ist Russland noch ein autoritäres Regime oder bereits eine Diktatur? 
       
       Der Übergang zur Diktatur ist vollzogen. Entweder werden wir zu Wahlen
       nicht zugelassen oder die Ergebnisse werden gefälscht. Provokationen sind
       allgegenwärtig. Veranstaltungen werden verhindert. Wir finden keine
       Geldgeber, weil die die Unternehmer eingeschüchtert sind und die Angst groß
       ist. Dennoch versuchen wir, an Wahlen teilzunehmen und uns journalistisch
       Gehör zu verschaffen.
       
       Vor allem in den Regionen haben Oppositionelle Angst. Dort verfolgt man sie
       noch unerbittlicher als in Moskau. Manche verlieren den Arbeitsplatz,
       andere werden überfallen oder festgenommen. Gegen andere strengt die
       Staatsanwaltschaft fabrizierte Verfahren an. In Nischnij Nowgorod schoss
       jemand auf die Fenster einer unserer Aktivistinnen.
       
       Es sieht so aus, als hätte der Staat sein Gewaltmonopol verloren. Er ist
       nicht mehr der einzige Akteur.... 
       
       Der Staat hat das Gewaltmonopol längst eingebüßt. Gewalt geht mittlerweile
       von oben und von unten aus. Eine Vielzahl nationalistischer und
       chauvinistischer Gruppierungen ist in letzter Zeit aus dem Boden
       geschossen. Darunter viele Heimkehrer, die in Donezk und Lugansk
       Kampferfahrungen sammeln konnten. Der Anführer der Rockergruppe
       „Nachtwölfe", sein Spitzname ist "Chirurg", hat es offen gesagt: die Feinde
       sollen mit allen Mitteln unter Druck gesetzt werden. Er ist einer der
       Rädelsführer des „Antimaidan", der die Gunst des Kreml genießt. Drohungen
       gehen von Geheimdiensten, extremistischen Gruppen und auch nicht
       organisierten Kräften aus.
       
       Aber die Propaganda verfängt ... 
       
       Die Menschen glauben daran. Sie unterstützen ohne Wenn und Aber die
       Machthaber und sind überzeugt, dass der Westen die Krise verursacht hat und
       Russland zerschlagen will. Alle Putin-Kritiker sind Feinden. Unsere
       Machthaber sind unvorstellbar reich, daher werden sie um jeden Preis ihre
       Herrschaft sichern.
       
       Wie lange kann das gut gehen? 
       
       Bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch wie ihn auch die Sowjetunion
       erlebte. Die Wirtschaft ist in Schwierigkeiten. Russland steht aber noch
       nicht vor dem Ruin, die Menschen sind von der Politik noch nicht
       enttäuscht. Die Rubelabwertung hat die Einkommen jedoch halbiert. Millionen
       sind davon betroffen, langfristig wird das zur Verarmung führen.
       
       Noch sättigt der Landgewinn ... 
       
       Noch ist die Freude über die Rückeroberung der Krim groß. Dahinter verbirgt
       sich die Nostalgie für das untergegangene Imperium. Putin weckte Hoffnungen
       auf alte Größe. Er rief die „Russische Welt" aus und forderte zu ihrer
       Verteidigung auf. Das war Wasser auf die Mühlen imperialer Nostalgie. Die
       Menschen wollen glauben: wir sind eine Weltmacht und unser Einfluss wächst
       stetig. Wahre Größe ist jedoch Wirtschaftsleistung: Wo soll das
       geopolitische Gewicht herkommen, wenn unsere Wirtschaft um fünf Prozent
       schrumpft, während die USA und China zulegen?
       
       Hat die russische Zivilgesellschaft noch eine Überlebenschance? 
       
       Der Kreml führt seit 2012 Krieg gegen sie. Ihr Zustand ist jämmerlich. Die
       aktivsten Bürger wandern aus. Viele meiner Bekannten sind schon emigriert
       oder haben es vor. Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung würde am liebsten
       ausreisen. Die Vertreibung von Regimekritikern scheint auch gewollt zu
       sein.
       
       Wie nach der Oktoberrevolution 1917. Als Stalin begriff, wie wichtig
       Fachkräfte sind, ließ er die Grenzen schließen. Das kann uns auch noch
       bevorstehen. Zurzeit emigrieren viele ins Baltikum, nach Prag, Warschau
       oder nach Deutschland. Die Geschichten der Emigranten unterscheiden sich.
       Sie ähneln sich aber darin, dass sie mit Risiken für Leib und Leben und
       Gefahren für die Familie verbunden sind. Das ist neu: Russland ist
       lebensgefährlich.
       
       Wird Russland sich auch bei anderen Nachbarn unaufgefordert einmischen? 
       
       In Moldawien unterstützt der Kreml die moskaufreundlichen Führer der
       Gagausen gerade. Aggressives Eingreifen ist eher unwahrscheinlich, aber
       Unruhestiftung und Destabilisierung sind jederzeit denkbar. Auch in Estland
       und Litauen. Nicht auszuschließen, dass der Kreml in Belarus und Kasachstan
       auch die Stabilität aushöhlen würde, wenn er mit Entscheidungen der
       politischen Elite nicht zufrieden ist. Anschließend folgt dann Bruderhilfe.
       
       Was kann die EU eigentlich noch tun? 
       
       Sie muss Einheit bewahren. Der Kreml will den Westen auseinanderdividieren.
       Das tut er bereits erfolgreich, indem er Griechenland, Zypern, Ungarn und
       Tschechien umgarnt. Ist der Westen erst mal gespalten, kann er nicht mehr
       angemessen auf das reagieren, was bei uns passiert.
       
       Putin hält den Westen für schwach und spricht mit mehreren Zungen. Außerdem
       reicht auch das Geld noch, um Politiker zu kaufen. Oberstes Gebot für die
       EU: sie darf die gemeinsame Position nicht preisgeben. Vor zehn Jahren war
       die EU noch Russlands wichtigster strategischer Partner. 70 Prozent der
       Russen standen ihr positiv gegenüber. Zurzeit halten 80 Prozent die EU für
       ein feindliches Gebilde. Es finden keine Treffen mehr statt, kein Dialog
       und keine Gipfel. Die Wende von Freundschaft zu Konfrontation ist
       vollzogen. Europa wurde zum Gegner.
       
       2 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Opposition
 (DIR) Boris Nemzow
 (DIR) Kreml
 (DIR) Russland
 (DIR) 100 Jahre Oktoberrevolution
 (DIR) Russland
 (DIR) Nadeschda  Sawtschenko
 (DIR) Russland
 (DIR) Boris Nemzow
 (DIR) Weißrussland
 (DIR) Russland
 (DIR) Nachtwölfe
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Kreml-Kritiker
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Geständnis
 (DIR) Moskau
 (DIR) Mordanschlag
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Verhaftung russischer Nationalisten: Hunderte Jugendliche festgenommen
       
       Die Anhänger einer verbotenen Nationalistengruppe versammelte sich in
       Moskau. Ihr Anführer kündigte an, dass eine Revolution ausbrechen werde.
       
 (DIR) Aus Le Monde diplomatique: Außerparlamentarisch wider Willen
       
       Das liberale Lager ist hoffnungslos zerstritten und hat bei den Duma-Wahlen
       keine Chance. Die meisten Wähler halten eine Opposition nicht für nötig.
       
 (DIR) Justiz in Russland: Ohne Wasser und Brot
       
       Die ukrainische Kampfpilotin Nadeschda Sawtschenko könnte am Mittwoch zu 23
       Jahren Haft verurteilt werden. Dagegen gibt es Proteste.
       
 (DIR) Tochter von Kreml-Kritiker über Russland: „Heimweh? Absolut nicht“
       
       Schanna Nemzowas Vater Boris wurde vor einem Jahr ermordet. Ein Gespräch
       über Putins Staat, ihr Leben in Bonn und deutsche Strümpfe.
       
 (DIR) Justiz in Russland: Neue Anklage im Mordfall Nemzow
       
       Ein tschetschenischer Polizeioffizier soll den Mord in Auftrag gegeben
       haben. Die Opposition vermutet ein Ablenkungsmanöver des Staates.
       
 (DIR) Sanktionen gegen Lukaschenko: EU will Geste Richtung Minsk schicken
       
       Nachdem Weißrussland jüngst politische Gefangene freigelassen hat, bereitet
       die EU eine vorläufige Aussetzung der Sanktionen vor.
       
 (DIR) Bürgerwehren in Russland: Sicheres Moskau dank „kräftiger Kerle“
       
       Freiwilligen-Patrouillen sollen für Recht und Ordnung sorgen. Damit macht
       die Kremlpartei „Einiges Russland“ Wahlkampf.
       
 (DIR) Einreiseverbot für russische Biker: „Nachtwölfe“ müssen draußen bleiben
       
       Die „Nachtwölfe“ dürfen nicht nach Deutschland einreisen. Deutsche
       Ministerien wollen sich damit gegen eine Instrumentalisierung des Leids der
       Nazi-Opfer stellen.
       
 (DIR) Opposition in Russland: Kremlkritiker schließen Bündnis
       
       Mehrere Organisationen planen, bei den kommenden Wahlen gemeinsam
       anzutreten. Sie wollen damit staatliche Schikanen zu umgehen.
       
 (DIR) Ermittlungen im Mordfall Nemzow: Menschenrechtler sprechen von Folter
       
       Der Geständnis des angeblichen Nemzow-Mörders könnte unter Folter
       entstanden sein. In Russland kursiert der Name des möglichen Täters.
       
 (DIR) Mordfall Boris Nemzow: Schneller Fahndungserfolg
       
       Die russischen Fahndungsbehörden haben fünf Verdächtige aus dem Kaukasus
       festgenommen. Einen Auftraggeber für den Mord soll es nicht geben.
       
 (DIR) Mord an Boris Nemzow in Russland: Verdächtiger gesteht Tatbeteiligung
       
       Fünf Personen sind im Mordfall Nemzow festgenommen worden. Einer von ihnen
       hat die Beteiligung an der Tat eingeräumt.
       
 (DIR) Attentat auf Boris Nemzow: Die Verrohung Russlands
       
       Putin opfert sogar sein Streben nach Stabilität der permanenten
       Mobilisierung gegen Feinde. Der Hass, den er sät, wird unkontrollierbar.
       
 (DIR) Russische Politologin über Nemzow-Mord: „Der Hass liegt in der Luft“
       
       Die Staatsmacht hatte es gar nicht nötig, den Befehl zur Ermordung des
       Putin-Kritikers Boris Nemzow zu geben, sagt die russische Politologin
       Schewzowa.