# taz.de -- Türkische Angriffe auf Kurden in Syrien: Wahl um Leben und Tod
       
       > In Rojava im Nordosten Syriens kämpft die kurdische Selbstverwaltung
       > gegen Angriffe der Türkei und des IS. Die Menschen hoffen, dass Erdoğan
       > abgewählt wird.
       
       Nordosten Syriens taz | Der Himmel über dem Dorf Gezero im Nordosten
       Syriens, nicht weit von der türkischen Grenze, ist still. Kein Surren in
       der Luft, kein Donnern, nur ein paar Schäfchenwolken. Vor fünf Monaten war
       das anders. „Die Explosion riss uns aus dem Schlaf“, sagt Wadha Mohammad
       Kasim, 47 Jahre alt, blau gemustertes Kopftuch und lilafarbene Strickjacke.
       Sie hockt in einem kleinen, schlecht verputzten Haus. Auf den Sitzmatten
       vor ihr ihre acht Kinder, fünf Töchter, drei Söhne, der Älteste, Jwan, ist
       gerade 19 geworden. Einer aus der Familie fehlt: der Vater.
       
       Überlebensgroß hängt sein Porträt an der Wand. Ein Mann in weißem
       Poloshirt, eine dicke Brille mit dünnem schwarzen Rand, ein Muttermal über
       dem rechten Mundwinkel. Der Hintergrund des Posters ist grün, rot und gelb,
       die Farben Kurdistans. Darunter steht: Şehîd Fayz Ebdulah – Märtyrer Fayz
       Ebdulah. „Wir hatten ein bescheidenes, aber ein gutes Leben“, sagt Wadha
       Kasim. „Aber seit die Türkei ihn ermordet hat, ist unser Leben zur
       Katastrophe geworden.“
       
       Gestorben ist Fayz Ebdulah am 20. November 2022. Getötet von türkischen
       Raketen. Als Vergeltung für einen Anschlag mehr als 1.200 Kilometer
       entfernt von seinem Heimatdorf.
       
       Eine Woche vor dem Tod des Familienvaters hatte es [1][in Istanbul einen
       Terroranschlag gegeben]. 81 Menschen waren bei der Explosion auf der
       bekannten Straße İstiklal Caddesi verletzt worden, sechs Menschen starben.
       Die türkischen Behörden präsentierten sofort eine Schuldige: eine syrische
       Frau, die bei der Befragung angegeben haben soll, von militanten Kurden in
       Syrien ausgebildet worden zu sein.
       
       Hinter dem Anschlag, hieß es von den türkischen Behörden, stehe die YPG,
       eine kurdische Miliz, die als Teil der [2][SDF („Syrian Democratic
       Forces“)] den Nordosten Syriens kontrolliert. Die YPG steht der kurdischen
       Arbeiterpartei PKK nahe – jener Gruppe, die in der Türkei und bei einigen
       ihrer westlichen Verbündeten wie den USA und der EU als Terrororganisation
       eingestuft wird.
       
       Es gibt erhebliche Zweifel an der Darstellung der türkischen Behörden. Ein
       Bekennerschreiben, wie bei früheren Anschlägen, habe es nicht gegeben. PKK
       und YPG bestreiten bis heute, in den Anschlag involviert gewesen zu sein.
       Trotzdem begann die türkische Armee eine Woche nach dem Anschlag mit einem
       Vergeltungsfeldzug gegen die Kurden, die Operation „Klauenschwert“.
       
       Ein Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan schrieb auf
       Twitter, die Zeit der Abrechnung sei gekommen. Erdoğan selbst sagte kurz
       darauf auf dem G20-Gipfel in Bali: „Wer die Terrororganisation unter dem
       Vorwand des Kampfes gegen den IS unterstützt, beteiligt sich auch am
       Blutvergießen bei Istanbuls jüngstem Terroranschlag.“
       
       Eine Warnung, die sich offensichtlich an die westlichen Verbündeten der
       Kurden in Syrien richtete. Denn obgleich die PKK in den USA als
       Terrororganisation eingestuft wird, unterstützt das US-Militär die
       kurdischen Einheiten seit 2014 im Kampf gegen den sogenannten Islamischen
       Staat (IS).
       
       Schließlich waren die Kurden und ihre Verbündeten die einzigen, die sich
       dem Vormarsch der islamistischen Extremisten widersetzten, nachdem sich das
       Assad-Regime 2013 komplett aus den Gebieten im Nordosten Syriens
       zurückgezogen hatte.
       
       Bereits ab 2012 hatten kurdische Kräfte das Gebiet, das die Kurden Rojava
       nennen, de facto autonom verwaltet. Nachdem der IS 2018 so gut wie besiegt
       war, wurde die [3][„Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ (AANES)]
       ausgerufen. Diese erstreckt sich inzwischen über ein Drittel des syrischen
       Territoriums, auf dem fast fünf Millionen Menschen leben. International
       anerkannt ist sie nicht. Vor allem der Türkei ist die Selbstverwaltung ein
       Dorn im Auge.
       
       Schon in der Vergangenheit waren Angriffe auf Kurden in Syrien und
       Nordirak ein Mittel, um von innerpolitischen Problemen in der Türkei
       abzulenken. [4][Am 14. Mai will Erdoğan nun erneut zum Präsidenten gewählt
       werden.] Selten waren seine Umfragewerte so schlecht wie jetzt.
       
       Auch vor unserer Reise nach Rojava im Februar ist die Lage in Nordostsyrien
       angespannt, wir werden vor einer möglichen türkischen Invasion gewarnt.
       Doch dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Am 6. Februar erschüttert ein
       Erdbeben der Stärke 7,8 den Süden der Türkei und den Nordwesten Syriens.
       Der Nordosten des Landes bleibt größtenteils verschont. Die Witwe Wadha
       Mohammad Kasim sagt: „Ich glaube, das Erdbeben war eine Rache Gottes.“
       
       30 Autominuten von ihrem Haus entfernt, dort, wo der Boden wegen des Erdöls
       faulig riecht und sich dünne Rohre wie endlos lange Anakondas durch die
       Landschaft schlängeln, ist die Zerstörung des letzten türkischen Angriffs
       noch sichtbar. Zwischen den verkohlten Strommasten und dem Schutt des
       Steuergebäudes eines kleinen Elektrizitätswerks bauen drei junge Männer an
       einem neuen Häuschen.
       
       ## Keine Aufzeichnungen über Angriffe
       
       Wadha Mohammad Kasim erinnert sich genau an die Nacht, die ihr Leben für
       immer verändert hat, die Nacht vom 19. auf den 20. November 2022. Gegen
       Mitternacht hörten sie und ihr Mann in der Ferne einen lauten
       Raketeneinschlag. Gemeinsam mit anderen aus dem Dorf sei ihr Mann mit dem
       Auto aufgebrochen nach Teqil Beqil, wo das Elektrizitätswerk stand, um
       nachzusehen, was passiert war. Und um gegebenenfalls den Verletzten zu
       helfen. „Als er gegangen ist, hat er gesagt: Bleibt im Haus, es ist kalt
       draußen. Ich bin bald zurück.“
       
       Wadha Kasims Stimme stockt, als sie davon erzählt. Eine einzelne Träne
       rollt ihre Wange hinab. Ihr Mann kam in dieser Nacht nicht mehr zurück. Und
       auch am nächsten Morgen nicht.
       
       Als er gemeinsam mit anderen Freiwilligen in Teqil Beqil eintraf, fanden
       sie die zerstörte Station vor, einen Toten, einen Verletzten – und mehrere
       Fahrzeuge des US-Militärs. So erzählen es Augenzeugen der taz. Während die
       Helfer:innen mit der Bergung der Versehrten begannen, griff die Türkei
       erneut an. Drei weitere Raketen schlugen vor Ort ein. Sie trafen zwei
       zivile Autos. In einem saß Fayz Ebdulah. Insgesamt starben in dieser Nacht
       11 Menschen. Die Fahrzeuge des US-Militärs hätten den Ort verlassen, ohne
       zu helfen, berichten Augenzeugen später.
       
       Auf Anfrage der taz teilt ein Sprecher des US-Militärs mit, dass sie die
       Einsatzdaten für diese Nacht überprüft hätten. Es gebe keine Aufzeichnungen
       darüber, dass sich Soldaten der US-geführten Koalition vor Ort befunden
       hätten.
       
       Wie so viele Kurden in Nordostsyrien versteht die Witwe Wadha Mohammad
       Kasim die Rolle der USA nicht wirklich: Einerseits hätten sie in der Region
       immer noch 900 Soldaten stationiert und würden behaupten, sie unterstützten
       die regionalen Truppen beim Kampf gegen den IS. Zugleich hat der
       US-Kongress im Januar aber der Lieferung von F16-Kampfjets an die Türkei
       zugestimmt – unter der Bedingung, dass die Türkei grünes Licht für die
       NATO-Beitritte von Finnland und Schweden gibt. Mittlerweile ist Finnland in
       der Nato, bei Schweden blockiert die Türkei weiter.
       
       Ein harter Einschnitt im Verhältnis zwischen den Kurden und den USA war
       2019. Damals entschied der damalige US-Präsident Donald Trump ziemlich
       abrupt, einen Großteil des US-Truppenkontingents aus Rojava abzuziehen.
       Wenige Tage nach dem Teilabzug überfiel die Türkei die Städte Serê Kaniyê
       (arabisch: Ras al-Ain) und Girê Sipî (Tell Abyad) an der türkisch-syrischen
       Grenze.
       
       Das Ziel, so formulierte es Erdoğan damals auch vor der UN in New York:
       eine 30 Kilometer breite „Friedenszone“ zwischen kurdischer
       Selbstverwaltung und der Türkei zu errichten, als Pufferzone gegen die
       Kurden.
       
       Ein Gebiet, das Erdoğan auch dazu nutzen möchte, syrische Flüchtlinge –
       mehr als 3,5 Millionen sollen derzeit in der Türkei leben – anzusiedeln und
       somit im Wahlkampf zwei Streitfragen abzuräumen: das „Kurdenproblem“ und
       das „Flüchtlingsproblem“.
       
       Bei dem türkischen Angriff 2019 starben 679 Menschen, etwa 200.000 mussten
       fliehen. Mindestens 750 mutmaßliche IS-Anhänger:innen, die zuvor
       gefangengenommen worden waren, konnten aus den von Kurden bewachten Lagern
       entkommen. Nach Angaben der NGO Crisis Group fanden in den vergangenen
       Jahren viele der ausländischen IS-Kämpfer in der Türkei Unterschlupf.
       
       ## Ein Krieg an zwei Fronten
       
       Kortay Korkmaz ist einer der Kommandeure der Anti-Terroreinheiten der SDF,
       34 Jahre ist er alt. Wir treffen ihn auf einem Militärgelände in der Region
       Hassakeh, das aus Sicherheitsgründen nicht näher beschrieben werden soll.
       Von dem dreistöckigen Gebäude blättert grauer Putz ab, davor hat ein beiger
       Humvee geparkt, den die USA geliefert haben. Immer wieder sind in der Ferne
       dumpfe Explosionen zu hören. „Keine Sorge, die trainieren nur“, sagt
       Korkmaz.
       
       „Wir führen de facto einen Krieg an zwei Fronten – gegen die weltgrößte
       Terrororganisation und gegen einen der militärisch mächtigsten Staaten der
       Welt. Wie soll eine kleine Truppe wie unsere, sei sie noch so tapfer, das
       schaffen?“, fragt Korkmaz. Trotzdem versucht er, zuversichtlich zu wirken,
       wenn er erzählt.
       
       Er war Student, als 2011 der Krieg in Syrien ausbrach und er sich den
       kurdischen Selbstverteidungseinheiten anschloss. Raqqa, Tabqa, Manbij,
       Kobane, Afrin. Es gibt kaum einen Ort im Nordosten des Landes, an dem
       Korkmaz nicht gegen den IS gekämpft hat. Die letzte große Schlacht ist
       etwas länger als ein Jahr her. Damals hatten IS-Anhänger das IS-Gefängnis
       in der kurdischen Stadt Hassakeh angegriffen. Anschließend gab es einen
       zehntägigen Häuserkampf in der Region. IS-Kämpfer hatten sich in
       Wohnsiedlungen verschanzt und Kinder als menschliche Schutzschilde benutzt.
       Während der Kämpfe starben laut Angaben der SDF 121 Mitglieder der
       Selbstverteidigungseinheiten – und 374 mutmaßliche IS-Kämpfer.
       
       Selbst während dieser Kämpfe hätten die Angriffe der Türkei nicht
       aufgehört, erzählt Korkmaz. „Wenn es der Welt ernst ist mit ihrem Kampf
       gegen den Terror, dann brauchen wir Unterstützung und jemanden, der uns vor
       den türkischen Angriffen, vor allem vor den Drohnen, schützt.“
       
       Erst Anfang April hatte es in Suleimaniyya im Nordirak einen weiteren
       Drohnenangriff auf den Konvoi des SDF-Führers Mazloum Abdi gegeben. Auch
       drei US-Soldaten waren Teil der Gruppe. Getötet wurde dabei niemand. Der
       Irak und die Kurden machen die Türkei für den Angriff verantwortlich.
       
       Korkmaz klappt seinen Laptop auf. Er will uns ein Video des kurdischen
       Senders Ronahi TV zeigen. Es wurde nach dem IS-Angriff auf das Gefängnis in
       Hassakeh aufgenommen, bei dem der IS versuchte, Kämpfer zu befreien.
       
       Das Video auf dem Laptop zeigt Interviews mit mutmaßlichen IS-Kämpfern, die
       von den SDF festgenommen wurden. Der kurdische Sender nimmt die
       Whatsapp-Verläufe der Gefangenen ins Bild: Sie beinhalten unter anderem ein
       Foto von Korkmaz, neben seinem Bild stehen sein Name und die Beschreibung
       seines Autos. „Angeblich haben sie diese Informationen aus der Türkei
       bekommen“, sagt Korkmaz. Für ihn ist es der Beleg, dass die Türkei und der
       IS auch direkt zusammenarbeiten.
       
       Neu sind die Vorwürfe nicht. 2016 hatte die türkische Zeitung
       [5][Cumhuriyet] um den damaligen Chefredakteur Can Dündar berichtet, dass
       der türkische Geheimdienst Waffen an Islamistische Gruppen in Syrien
       geliefert haben soll. Dündar ist 2016 nach Deutschland geflohen. Vor zwei
       Jahren wurde er wegen „Spionage“ und „Terrorunterstützung“ in Abwesenheit
       zu 27 Jahren Haft verurteilt.
       
       Die Türkei hat die Vorwürfe, den IS zu unterstützen, in der Vergangenheit
       immer bestritten. Auf Anfragen der taz reagierten weder das türkische
       Außenministerium noch die Botschaft in Deutschland.
       
       Selbst wenn es keine direkten Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS
       geben sollte, so scheinen ihre Ziele in Syrien doch übereinzustimmen: Beide
       wollen die Selbstverwaltung schwächen – und sie so früher oder später zu
       Fall bringen. Wim Zwijnenburg von der niederländischen Friedensorganisation
       PAX, die seit Jahren in der Region aktiv ist, sagt: „Ich glaube nicht
       unbedingt, dass es das Ziel der Türkei ist, erneut in Syrien
       einzumarschieren.“ Die Türkei verfolge eine Strategie der Kriegsführung mit
       geringer Intensität. „Damit erreichen sie genau das, was sie wollen.“
       
       Aufgrund der ständigen Bedrohung sehe sich die Selbstverwaltung gezwungen,
       die wenigen vorhandenen Ressourcen, die sie vor allem durch Ölförderung
       generiert, für militärische Zwecke und Verteidigung auszugeben.
       
       Die Gelder würden beim Wiederaufbau ziviler Infrastruktur fehlen. Und da
       Rojava nicht als eigenständiger Staat anerkannt sei, gebe es auch keine
       Wiederaufbauhilfen der Vereinten Nationen.
       
       Wir waren das letzte Mal vor eineinhalb Jahren vor Ort in Rojava. Seitdem
       sind die blauen Schriftzüge auf den Häusern, auf denen in arabischen
       Lettern „zu verkaufen“ steht, mehr geworden. Die Dürre schreitet voran. Die
       Felder der Bauern liegen brach, weil der Regen ausbleibt – und weil die
       Türkei Rojava Wasserzuflüsse wie den Euphrat blockiert. Immer mehr Menschen
       erzählen uns, sie würden weggehen, wenn sie es sich nur irgendwie leisten
       könnten.
       
       ## Wasser wird in der Region zur Waffe
       
       Es sind Menschen, die nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll – Menschen
       wie Fahima Hussein Hassan, 38. Sie ist 2019 wie viele andere vor den
       türkischen Angriffen aus Serê Kaniyê geflohen. Acht Monate lang war sie mit
       ihrem kranken Mann, einer Herde Schafe und ihren fünf Kindern auf der
       Flucht. Bis sie schließlich im Flüchtlingscamp Washokani, nahe der Stadt
       Hassakeh, strandeten. Ihr jüngster Sohn, Marwan, zwei Jahre alt, wurde erst
       im Camp geboren – und wäre fast hier gestorben.
       
       Fahima Hassan erinnert sich im Gespräch an diese Nacht im Januar. Wie immer
       pfiff der kalte Wind durch die Ritzen in der zerschlissenen Zeltplane.
       Marwan und seine Geschwister hatten schon seit einigen Tagen an Durchfall
       gelitten. In dieser Nacht fing der Kleine an, zu zittern und zu glühen.
       Seine Lippen hätten gebebt, die Glieder gekrampft, die Augen hätten sich
       verdreht, so dass nur noch das Weiße zu sehen gewesen sei.
       
       Der Bruder ihres Mannes sei gekommen. Sie hätten ein Taxi gerufen, seien
       ins Krankenhaus gefahren. Im Krankenhaus hätten sie Marwan Infusionen
       gegeben. Die Diagnose: Cholera.
       
       Etwa 100.000 Menschen sind seit August 2022 in Syrien Schätzungen der UN
       zufolge an Cholera erkrankt. Rund die Hälfte davon im Nordosten des Landes.
       Den Grund dafür sehen Gesundheitsexpert:innen im Wassermangel, der
       dazu führe, dass die Qualität des Wassers schlechter werde. Dass sich
       wasserbedingte Krankheiten wie Cholera schneller verbreiten.
       
       „Ich versuche das Wasser, das wir bekommen, immer abzukochen. Oft schwimmen
       Dreck oder kleine Würmer darin“, sagt Fahima Hassan.
       
       Das Wasser bekommen die Menschen im Washokani-Camp aus Wassertrucks, die es
       von den Brunnen vor den Toren der Stadt holen. Seit die Milizen der
       pro-türkischen SNA die Grundwasserpumpstation in der Region besetzt halten
       und den Wasserzufluss gekappt haben, der die Region früher mit sauberem
       Trinkwasser versorgt hat, sind die Menschen auf das Brunnenwasser
       angewiesen.
       
       Die SDF beklagen, die Türkei würde selbst das Wasser als Waffe einsetzen.
       „Ich fühle mich schlecht, wenn ich meinen Kindern Wasser zu trinken gebe,
       weil ich fürchte, dass es sie krank macht“, sagt Fahima Hassan. Wie viele
       im Camp hatte Fahima Hassan einst große Hoffnungen in die Autonome
       Selbstverwaltung gesetzt. Wie viele ist sie enttäuscht worden. Wie so viele
       gibt sie dafür vor allem einem Mann die Schuld: Recep Tayyip Erdoğan.
       
       Geht es nach SDF-Kommandeur Kortay Korkmaz, gibt es neben dem IS und der
       Türkei aber noch eine dritte Gefahr für die Selbstverwaltung: das syrische
       Regime. In der Vergangenheit gab es kaum Konfrontationen zwischen
       Selbstverwaltung und syrischer Armee. Die SDF sind in ein Machtvakuum
       gestochen, das das Regime nach seinem Abzug hinterlassen hatte. Doch das
       könnte sich in Zukunft ändern. Das Erdbeben, das Erdoğans Wahlsieg zu
       gefährden droht, scheint dem syrischen Diktator Bashar al-Assad vor allem
       Aufwind gegeben zu haben.
       
       Die Gespräche über internationale Hilfe nutzte er als Möglichkeit, sich
       Staaten wie Ägypten und Jordanien wieder anzunähern, sowie den reichen
       Golfstaaten Saudi Arabien und Katar, die lange Zeit als Unterstützer der
       syrischen Opposition im Exil galten. Gleichzeitig finden seit Ende
       vergangenen Jahres Gespräche zwischen Vertretern Syriens und der Türkei
       statt: Im Dezember hatten sich die Verteidigungsminister mit ihrem
       russischen Amtskollegen in Moskau getroffen, im Januar dann die
       Außenminister. Und wäre das Erdbeben nicht gewesen, wäre es vielleicht auch
       schon zum Treffen der zwei ehemals verfeindeten Autokraten Assad und
       Erdoğan gekommen.
       
       Obwohl sie sich lange Zeit an unterschiedlichen Fronten gegenüberstanden,
       verfolgen beide inzwischen ähnliche Interessen in Syrien, die sie bei einer
       Annäherung realisieren könnten: Zum einen die Rückführung der 3,5 Millionen
       syrischen Flüchtlinge aus der Türkei – und zum anderen die Zerschlagung der
       Selbstverwaltung und die Eingliederung der SDF in die syrische Armee. Das
       Erdbeben hat die Annäherung der beiden Staaten vorerst aufgehalten.
       
       Für viele Menschen in Rojava ist das eine große Erleichterung. Die Wahlen
       in der Türkei sind die einzige Hoffnung, die Angriffe zu stoppen. Wenige
       Wochen vor der Wahl sind die Umfragen so eng wie seit Jahren nicht. Erdoğan
       selbst liegt laut Meinungsforschungsinstitut ORC bei 44 Prozent der Stimmen
       – Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP, der ein Oppositionsbündnis
       aus sechs Parteien anführt, bei 48 Prozent. Die pro-kurdische
       linksgerichtete HDP ist nicht Teil des Bündnisses, hatte aber zuletzt
       angekündigt, keine eigene Kandidatin ins Rennen schicken zu wollen, um
       Erdogans Ein-Mann-Herrschaft zu beenden.
       
       Das Leben der Witwe Wadha Mohammad Kasim hat sich seit dem Tod ihres Mannes
       um 180 Grad gedreht. Ihr 19-jähriger Sohn hat die Uni geschmissen, ist
       zurück nach Hause gezogen, hat sich Arbeit gesucht, um die Familie zu
       ernähren, weil die Witwenrente dazu nicht ausreicht. Wadha Kasim sagt, sie
       bete dafür, dass Erdoğan im Mai abgewählt werde.
       
       Das sei ihre einzige Hoffnung, sagt sie, dass „das sinnlose Sterben von uns
       Kurden“ ein Ende nimmt.
       
       Die Recherche wurde vom Europäischen Journalistenzentrum im Rahmen des
       Global Health Security Call mitfinanziert, unterstützt von der Bill &
       Melinda Gates Foundation.
       
       Mitarbeit: Shaveen Mohammad
       
       9 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Terroranschlag-in-Istanbul/!5892138
 (DIR) [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Kr%C3%A4fte_Syriens
 (DIR) [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Rojava
 (DIR) [4] /Wahlen-in-der-Tuerkei/!5928729
 (DIR) [5] https://www.cumhuriyet.com.tr/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bartholomäus von Laffert
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Kurden
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) GNS
 (DIR) Rojava
 (DIR) Wahlen in der Türkei 2023
 (DIR) Afrin
 (DIR) Rojava
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Fossile Rohstoffe
 (DIR) Türkei
 (DIR) Kolumne La dolce Vita
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Wahlen in der Türkei 2023
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Wahlen in der Türkei 2023
 (DIR) Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Syrische Demokratische Kräfte (SDF)
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kurden in Syrien: Kein Platz für Kurden
       
       Der syrische Kanton Afrin ist für Kurden kein sicheres Zuhause mehr. Sie
       werden diskriminiert, verfolgt und dürfen die eigene Sprache nicht
       sprechen.
       
 (DIR) Bewegungstermine in Berlin: Hoffnung international
       
       Inmitten des gesellschaftlichen Rechtsrucks sind gute Nachrichten rar. Ein
       Grund mehr, das elfjährige Bestehen der Revolution in Rojava zu feiern.
       
 (DIR) Hilfslieferungen nach Syrien: Fatale Abhängigkeit
       
       Um dringende Hilfsmittel nach Syrien liefern zu können, braucht es die
       einstimmige Zustimmung des UN-Sicherheitsrats. Das hat unsägliche
       Konsequenzen.
       
 (DIR) Provisorische Ölraffinerien in Syrien: Schwarzer Ruß über jedem Grashalm
       
       Mohameds Kinder hören nicht auf zu husten. Sie leben nahe einer Raffinerie,
       die Erdöl über offener Flamme auskocht. Die Folgen sind dramatisch.
       
 (DIR) IS-Prozesse in Nord- und Ostsyrien: Am Ort ihres Verbrechens
       
       Die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien strebt Prozesse gegen
       ausländische IS-Täter an. Die Herkunftsländer haben ihre Pflicht versäumt.
       
 (DIR) Kurd*innen in der Türkei: Die tragenden Säulen der Proteste
       
       In der deutschen Berichterstattung über die Wahlen in der Türkei fehlt die
       kurdische Perspektive. Für Kurd*innen geht der Kampf weiter.
       
 (DIR) Syrien wieder Teil der Arabischen Liga: Eine Liga für sich
       
       Syrien wird wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Die Mitglieder hoffen
       so auf eine regionale Lösung für den Konflikt. Die USA sehen das kritisch.
       
 (DIR) Türkei-Wahl in Norddeutschland: Zünglein an der Waage
       
       Rund 170.000 Menschen im Norden dürfen noch bis Dienstag für die Wahl in
       der Türkei abstimmen. Die Wahl gilt als „Schicksalswahl“, da Erdoğan
       kippelt.
       
 (DIR) Arabische Liga: Syrien ist wieder dabei
       
       Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Ausschluss darf Syrien der Arabischen
       Liga wieder angehören. Das beschlossen die Außenminister der
       Mitgliedstaaten.
       
 (DIR) Wahlen in der Türkei: Einheit gegen Erdoğan
       
       Die türkische Opposition steht vor den Wahlen geschlossen wie nie zusammen.
       So hat sie eine Chance gegen den schwächelnden Amtsinhaber Erdoğan.
       
 (DIR) Syrisch-türkische Beziehungen: Tauwetter im Sinne Putins
       
       Syriens Diktator Assad und der türkische Präsident Erdoğan nähern sich an.
       Vor einer echten Verständigung sind aber komplexe Fragen zu klären.
       
 (DIR) Syrisches Lager al-Hol für IS-Gefangene: Von Gott verlassen
       
       57.000 Menschen sitzen im syrischen Camp fest. Kurden bewachen die Tore, im
       Inneren herrschen Banden und Islamisten. Die Aussichten sind düster.