# taz.de -- Surrealismus in Belgien: Showmen auf dem Jahrmarkt der Subversion
       
       > Der Surrealismus war in Brüssel und der Wallonie stark vertreten. Mehrere
       > Ausstellungen feiern das 100-jährige Jubiläum von André Bretons Manifest.
       
 (IMG) Bild: Was kucken die denn da? Paul Nougé, „La naissance de l’objet“ aus der Serie „Subversion der Bilder“, 1929/30
       
       Im ehemaligen Hospitalkloster Notre-Dame à la Rose im wallonischen
       Lessines befindet sich eine kunsthistorische Kuriosität, ein Tafelbild
       eines unbekannten Meisters aus dem späten 16. Jahrhundert. Es zeigt eine
       Wehklageszene um den Leichnam Jesu. Dessen Körper ist mit eindeutig
       weiblichen Attributen ausgestaltet, und der Tote verweist mit einer Hand
       auf seine Brüste. Es ist eine der wenigen überlieferten Darstellungen eines
       „genderfluiden“ Christus, die mystische Ursprünge hatte und selbst zu ihrer
       Entstehungszeit nur von Eingeweihten verstanden wurde.
       
       Geheimnisvolle, nicht selten provokante Bilder schuf auch der berühmteste
       Sohn des Ortes, René Magritte. 1898 wurde der Maler in Lessines im Hennegau
       geboren, wovon eine Skulptur auf der Grand’Place zeugt: Der Surrealist
       sitzt mit verkehrt aufgesetzter Melone auf dem Kopf auf einer Parkbank. Das
       lässt schmunzeln, wie so manche Werke des Belgiers.
       
       1924 schrieb der Franzose André Breton sein „Manifeste du Surréalisme“.
       [1][Das 100-jährige Jubiläum der surrealistischen Bewegung wird nicht nur
       in Paris], sondern auch in Belgien gefeiert. Nach zwei prestigeträchtigen
       Schauen im Frühjahr in der Hauptstadt Brüssel wurden nun noch weitere
       kleinere und größere Ausstellungen in der französischsprachigen Region
       Wallonie eröffnet, die einen profunden Einblick in die belgische Spielart
       des Surrealismus bieten. Die Städte Mons, Charleroi und Lüttich richten
       dafür drei umfangreiche Ausstellungen zum „Objekt“, zur Fotografie und zur
       Malerei von Paul Delvaux aus.
       
       Geschichte der Hennegau-Gruppe 
       
       Im Archiv- und Ausstellungszentrum Centre Daily-Bul & Co in La Louvière
       kann man darüber hinaus eine kleine, aber feine historische Ausstellung zur
       Geschichte der Hennegau-Gruppe besuchen. Sie zeigt auf, dass der
       Surrealismus in den 1920er und 1930er Jahren eine breite Strömung war.
       
       Bereits 1924 bildeten sich erste surrealistische Gruppen („Correspondance“
       1924, „Rupture“ 1934 u. a.) in Brüssel und im Hennegau, die ihre Gedanken,
       poetischen und politischen Schriften in eigenen Magazinen veröffentlichten.
       „Daily Bul“ nannte sich so ein Magazin, das 1957 von André Balthazar und
       Pol Bury herausgegeben wurde und mit oft satirischen Texten und Zeichnungen
       der Gruppe gefüllt war.
       
       René Magritte wuchs in Châtelet auf, wo das Magritte-Haus, Wohnhaus der
       Familie von 1911 bis 1917, seine Jugendzeit dokumentiert. Seine
       alptraumhaften Gemälde-Imaginationen gehen mutmaßlich auf Erlebnisse in
       seiner Kindheit zurück.
       
       Als Sohn eines Schneiders und einer Hutmacherin scheint ihm die Vorliebe
       für Herren in Anzügen mit Melonenhut in die Wiege gelegt worden zu sein.
       Aber auch eine tragische Begebenheit prägte ihn: Als er 13 Jahre alt war,
       ertränkte sich seine unter Depressionen leidende Mutter im nahe gelegenen
       Fluss Sambre.
       
       Der Dichter Paul Nougé 
       
       Ganz in der Nähe, in der Großstadt Charleroi, befindet sich seit 1987 in
       einem ehemaligen Karmeliterkloster das Museum für Fotografie. Zum Jubiläum
       hat es die reichhaltige Fotoausstellung „Surrealismus sozusagen …“
       konzipiert. Der heute fast vergessene Dichter Paul Nougé (1895–1967) war
       der Kopf der Brüsseler Surrealisten, erfährt man dort, seine Rolle ist mit
       der André Bretons in Frankreich vergleichbar.
       
       1929/1930 schuf er seine Fotoserie „Die Subversion der Bilder“, in der er
       seine theoretischen Ansätze in rätselhafte Bilder umsetzt. Wie „Die Geburt
       des Objekts“. Auf der Innenraumaufnahme begutachtet eine Gruppe Leute,
       darunter René und Georgette Magritte, unerklärlicherweise eine leere Stelle
       an der Wand. Nougé wollte die Menschen überraschen, sie von herkömmlichen
       Denk- und Lesemustern befreien.
       
       Unter den vielen kunstvollen Stücken in Charleroi fasziniert besonders
       Raoul Ubacs kleinformatiges Foto „La Nébuleuse“ von 1929. Schemenhaft ist
       darauf eine Frau in vamphafter Pose und in diffuser Umgebung zu erkennen.
       
       Den phantastischen Effekt erzielte Ubac (1910–1985), indem er sein Negativ
       erhitzte, um so durch „göttlichen Zufall“ (Ubac) ein unerwartetes Resultat
       zu erzielen. Die surrealistische Fotografie, sie zeichnete sich durch viel
       Experimentierlust aus, eröffnete dem Medium neue Möglichkeiten.
       
       Die Wirklichkeit erschüttern 
       
       Um den belgischen Surrealismus zu verstehen, sollte man ins Museum der
       Schönen Künste nach Mons reisen und die Ausstellung „Surrealismus, die
       Wirklichkeit erschüttern“ besuchen. Sie versammelt Werke von den Anfängen
       bis in die Gegenwart, von rund 30 Künstlerinnen und Künstlern.
       
       Auch die lang vergessenen Frauen wie Jane Graverol, Rachel Baes oder
       [2][Evelyne Axell], deren surrealistische Kunst in der Nachkriegszeit
       wichtig war, tauchen in der Schau wieder auf. Am Anfang der Bewegung stand
       eine subversive Idee: Die Welt sollte „verändert werden“ (gemäß Arthur
       Rimbaud) und „verwandelt“ (Karl Marx).
       
       Das Mastermind der belgischen Surrealisten, Paul Nougé, schuf dafür
       Formeln, die an Marketingstrategien erinnern: Wie „Showmen“ des Jahrmarkts,
       „kokette“ Damen oder Werber sollten die Surrealisten agieren, damit
       Passanten auf ihre Kunst aufmerksam würden und eine „Begierde“ danach
       entwickelten. Nougé experimentierte in vielfältiger Form, wandelte
       Werbeanzeigen oder Wahlplakate subtil ab und veränderte so komplett ihren
       Sinn. [3][]
       
       [4][Sein Freund René Magritte] arbeitete zum Broterwerb in der Werbung und
       schuf [5][unzählige Grafiken und Plakate], von denen viele in Mons
       ausgestellt sind. Unzweifelhaft nutzte Magritte später diese Erfahrung, um
       die uns heute traumwandlerisch perfekt erscheinende Gestaltung seiner
       Gemälde zu optimieren.
       
       Gedanken jenseits des Konsums 
       
       Zentraler Begriff, so zeigt Schau in Mons, ist für die belgischen
       Surrealisten das „erschütternde Objekt“. Es sollte die Menschen zu neuen
       Gedanken jenseits des Konsums anregen. Ein solches Objekt konnte ein
       Gedicht, ein Foto oder ein Gegenstand auf einem Gemälde sein.
       
       Wie das geheimnisvolle, scheinbar riesige Ei auf dem Bild „Der Blick“ („Le
       regard“) von Jane Graverol (1905–1984), das in einer irrealen Landschaft
       thront. Es konnte aber auch ein gefundener Alltagsgegenstand sein, der als
       Skulptur oder Installation eine neue Bedeutung erfuhr.
       
       Marcel Mariën (1920–1993), der die zweite Generation der Surrealisten nach
       dem Tod von Magritte und Nougé 1967 als Denker wie als Künstler prägte,
       schuf 1966 das dreidimensionale Objekt „Die Lasterhafte“ („La Vicieuse“).
       Es zeigt ein Ei in einem Glaskasten, das in einem goldenen Schneebesen
       gefangen ist.
       
       Eine kritische Anspielung auf die damalige [6][Doppelrolle vieler Frauen
       als Hausfrau] und Objekt der Begierde zugleich. Man kann an „La Vicieuse“
       aber auch ablesen, dass in den 1960ern neue Kunstbewegungen wie die Pop Art
       in den Surrealismus einfließen.
       
       Unterschied zum französischen Surrealismus 
       
       Was macht denn aber nun die belgische Spielart des Surrealismus aus?
       Kuratorin Marie Godet formuliert den Unterschied zum französischen
       Surrealismus so: „Die Franzosen wurden stärker von [7][Freuds
       Psychoanalyse] und Traumdeutung inspiriert und bevorzugten abseitige,
       schräge Objekte, während die Belgier eine rationale Methodik anwendeten und
       das Surrealistische in Alltagsgegenständen suchten.“
       
       Wer gerne in die phantastische Bilderwelt des Surrealismus eintaucht,
       sollte in Lüttich das Museum „La Boverie“ besuchen, das Paul Delvaux
       (1897–1994) eine Werkschau widmet. Delvaux ist nach Magritte der
       bekannteste surrealistische Maler aus Belgien.
       
       Andy Warhol verehrte seine Kunst und schuf im Jahr 1981 eine Serie von
       Delvaux-Porträts, die auch in „La Boverie“ zu sehen sind. Die Motive des
       belgischen Malers oszillieren auf seinen großformatigen Leinwänden zwischen
       Eros, Bahnhof, Antike und Tod. Viele der ausgestellten Werke scheinen ein
       unwiderstehliches Geheimnis zu bergen, wie bei Magritte.
       
       18 Nov 2024
       
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