# taz.de -- Gaza-Stadt: Schwelle zur Hungersnot laut UN überschritten
       
       > Erstmals bewerten die Vereinten Nationen die Lage in Gaza-Stadt als
       > „Hungersnot“. Israel weist das zurück, aber die UN-Experten sind sich
       > sicher.
       
 (IMG) Bild: Leere Teller: Kifah Qadih kann kein Essen für ihre Familie finden, Khan Yunis, 28. Juli 2025
       
       Bisher gab es lediglich Warnungen vor einer Hungersnot im Gaza-Streifen.
       Jetzt sehen die Vereinten Nationen diese als bestätigt an. „In Gaza-Stadt
       herrscht aktuell Hungersnot“. Das stellte ein UN-Expertenkomitee am Freitag
       fest und veröffentlichte die Schlussfolgerungen [1][des
       UN-Hungerüberwachungssystems IPC (Integrated Food Security Phase
       Classification)]. In den Orten Deir al-Balah und Khan Younis dürfte dieser
       Zustand „in den kommenden Wochen“ erreicht werden. „Diese Hungersnot ist
       ausschließlich menschengemacht“, stellen die Experten klar und verweisen
       damit auf Israels Hungerblockade und Behinderung humanitärer Hilfe.
       
       Hungersnot ist für Hilfswerke ein sparsam zu verwendender und präzise
       definierter Begriff. Ein Gebiet befindet sich dann in einer Hungersnot,
       wenn mindestens 20 Prozent der Bevölkerung nicht einmal Zugang zu den zum
       Überleben notwendigen 2.100 Kilokalorien pro Tag haben. Mindestens 30
       Prozent der Kinder unter fünf Jahren müssen akut unterernährt sein, also an
       Auszehrung leiden. Und mindestens 2 von 10.000 Menschen täglich an
       Nahrungsmangel sterben.
       
       Festgelegt ist diese Definition im internationalen Klassifizierungssystem
       IPC zum Messen von Ernährungssicherheit. Dieses System, 2004 von den UN in
       Somalia entwickelt, ist heute der globale Standard. Darin ist „Hungersnot“
       die Stufe 5 auf einer Skala von 1 bis 5 für ganze Gebiete, entsprechend
       einer ähnlichen Skala für einzelne Haushalte.
       
       Diese Kriterien sind sehr streng. Es kommt vor, dass viele Menschen
       verhungern, aber wenn weniger als ein Fünftel der Bevölkerung des Gebiets
       betroffen sind, ist das keine „Hungersnot“ nach IPC-Stufe 5. Diese wurde
       bisher nur sehr selten festgestellt: 2011 in Somalia, 2017 und 2020 in
       Südsudan, 2024 in Sudan, jeweils in kleinen Gebieten. Und jetzt eben in
       Gaza-Stadt. Die Gaza-Lagebeschreibung des IPC-Berichts zeichnet ein
       düsteres Bild.
       
       ## Die Produktion ist zusammengebrochen
       
       Die Eigenproduktion an Lebensmitteln ist fast vollständig
       zusammengebrochen, die Bevölkerung ist von Importen über die von Israel
       kontrollierten Grenzen abhängig, entweder als Waren auf dem Markt oder als
       humanitäre Hilfe. Kommerzielle Einfuhren waren von Ende 2024 bis 5. August
       2025 vollständig verboten, humanitäre Lieferungen vom 2. März bis 19. Mai
       2025 – also ein Zehnwochenzeitraum, in dem überhaupt nichts von außen die
       Bevölkerung erreichte. Bis 12. Juli wurden 1445 humanitäre Lieferungen bei
       den israelischen Behörden beantragt, 506 davon wurden zugelassen. Sehr
       wenig davon erreichte die Bevölkerung, heißt es.
       
       62.000 Lebensmittel brauchen die 2,1 Millionen Menschen jeden Monat zum
       Überleben – als „angekommen“ vermerkte die UN im Monat Mai 1487 Tonnen, im
       Juni 1086, im Juli 880 und in der ersten Augusthälfte 659, jeweils nur ein
       Bruchteil der ursprünglichen Lademenge. Der Monat Juli verdeutlicht die
       Dramatik: 880 Tonnen für 2,1 Millionen Menschen in einem Monat sind 13
       Gramm pro Mensch pro Tag.
       
       Es gibt auch auf den Märkten Lebensmittel, vor allem seit der
       Wiederaufnahme kommerzieller Importe vor drei Wochen, aber 80 Prozent der
       Menschen haben kein Geld und die Lebensmittelpreise sind heute fast 100-mal
       so hoch wie während des Waffenstillstands im Februar.
       
       ## Wie misst man eine Hungersnot?
       
       Das Vorhandensein einer Hungersnot zu messen, ist unter den in Gaza
       gegebenen Umständen sehr schwer. Das IPC-Prozedere sieht vor, dass zunächst
       alle verfügbaren Daten ausgewertet werden und dann, wenn sich daraus der
       Verdacht auf IPC-Stufe 5 (Hungersnot) ergibt, eine unabhängige Überprüfung
       folgt, das sogenannte „Famine Review“. Nachdem die Datenauswertung am 4.
       August zu diesem Verdacht gekommen war, wurde die Überprüfung bis 20.
       August abgeschlossen.
       
       Die Einstufung der Lage in Gaza-Stadt als „Hungersnot“ beruht vor allem auf
       einer drastischen Zunahme des Anteils von Kindern in akuter Unterernährung.
       Es gibt nach internationalem Standard mehrere Wege, dies zu messen: das
       Verhältnis von Gewicht zur Körpergröße (WHZ), das als verlässlichster
       Indikator des aktuellen Ernährungszustands gilt; und der Oberarmumfang
       (MUAC), der als verlässlichster Indikator des Sterblichkeitsrisikos gilt.
       
       Beim WHZ müssen 30 Prozent der Probanden unterhalb des
       Unbedenklichkeitswerts liegen, beim MUAC 15 Prozent, wobei dies nur im
       Kombination mit weiteren Indikatoren auf IPC-Stufe 5 (Hungersnot) schließen
       lässt. Als kritischer MUAC-Wert bei Kindern im Alter unter sechs Jahren
       gelten 125 Millimeter.
       
       Hier wird die Beweisführung kompliziert. Die genauen IPC-Daten für Gaza
       beruhen auf MUAC-Messungen verschiedener Hilfswerke, im Juli allein an über
       22.000 Kindern. In Gaza-Stadt waren demnach im Mai 3,4 Prozent der Kinder
       „akut unterernährt“, im Juni 5,9 Prozent und im Juli 13,5 Prozent. Der Wert
       übersteigt in der zweiten Julihälfte die 15-Prozent-Marke – die Schwelle
       zur Hungersnot. Aufgrund des Umstands, dass sich der Wert in Gaza-Stadt
       etwa alle vier Wochen verdoppele – in anderen Orten dauert es etwas länger
       – sei daraus eine Hungersnot ableitbar, heißt es im IPC-Bericht. Ähnliche
       Steigerungsraten seien bei anderen Indikatoren zu beobachten.
       
       ## Israels Regierung kritisiert Bericht scharf
       
       Israels Regierung hat daran scharfe Kritik geübt und in einem
       [2][Gegenbericht] behauptet, die vorgelegten Daten gäben die Einstufung der
       Lage als „Hungersnot“ nicht her. So sei der übliche Standard, wonach 30
       Prozent der Kinder akut unterernährt sein müssen, auf 15 Prozent abgesenkt
       worden.
       
       Der IPC-Bericht selbst führt allerdings aus, die in Gaza angewandte
       MUAC-Grundlage, bei dem die Schwelle bei 15 Prozent liegt, sei seit 2019
       Standard dort, wo andere Messungen nicht möglich seien, etwa in Südsudan
       und Sudan. Die erste [3][IPC-Feststellung von Hungersnot in Sudan im Juli
       2024] beruhte auf einem MUAC-Wert von 23,4 Prozent, der im
       Vertriebenenlager Zamzam in Darfur festgestellt wurde.
       
       [4][Jeremy Konyndyk] von der Hilfsorganisation „Refugees International“,
       der an mehreren IPC-Erhebungen beteiligt war, nennt die israelischen
       Behauptungen „konzertierte Desinformation“ und erklärt, das UN-Prüfkomitee
       habe „korrekt“ gehandelt. Kritiker verweisen auch auf die sehr niedrigen
       offiziellen Zahlen von Hungertoten aus Gaza, weit unter der Schwelle von
       zwei Toten pro 10.000 Einwohnern pro Tag.
       
       ## Die Hamas hat andere Zahlen
       
       Die Angaben der Hamas-kontrollierten palästinensischen Gesundheitsbehörde,
       die lediglich offiziell gemeldete und bestätigte Tote umfassen, umfassen
       bis zum 15. August 240 Hungertote im gesamten Gaza-Streifen, mit zuletzt
       stark steigender Tendenz bis zu einem Fünftage-Durchschnitt von sechs Toten
       am Tag. Aus IPC-Sicht ist das aber nur ein „Bruchteil“ der Realität:
       Todesfälle außerhalb von militärischen Angriffen würden zumeist nicht
       registriert.
       
       Schon im März 2024 stellte [5][die erste IPC-Erhebung in Gaza] fest, zwei
       Drittel der Bevölkerung lebten bereits in IPC-Stufe 4 oder 5, also in
       „katastrophalen“ Zuständen. Dieses Jahr hat insbesondere die Hungerblockade
       von März bis Mai die zwischenzeitlichen Verbesserungen zunichtegemacht und
       in den letzten Wochen verschlechtern sich alle Indikatoren extrem.
       
       Das könne man leicht ändern, [6][schäumte am Freitag der
       UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten, Tom Fletcher]. „Es
       ist eine Hungersnot in wenigen hundert Metern Entfernung von Lebensmitteln
       in einem fruchtbaren Land. Es ist eine Hungersnot, die wir hätten
       verhindern können, wenn man uns gelassen hätte.“
       
       24 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.ipcinfo.org/fileadmin/user_upload/ipcinfo/docs/IPC_Famine_Review_Committee_Report_Gaza_Aug2025.pdf
 (DIR) [2] https://govextra.gov.il/mda/ipc/gaza/
 (DIR) [3] /Hoechste-Stufe-erreicht/!6025393
 (DIR) [4] https://x.com/JeremyKonyndyk/status/1959062460863799695
 (DIR) [5] https://www.ipcinfo.org/fileadmin/user_upload/ipcinfo/docs/IPC_Gaza_Strip_Acute_Food_Insecurity_Feb_July2024_Special_Brief.pdf
 (DIR) [6] https://reliefweb.int/report/occupied-palestinian-territory/mr-tom-fletcher-under-secretary-general-humanitarian-affairs-and-emergency-relief-coordinator-remarks-gaza-un-press-briefing-and-qa-22-august-2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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