# taz.de -- Forscher über Willkommensklassen: „Unterschiedlich gut gerüstet“
       
       > Wie schnell junge Geflüchtete Deutsch lernen, hängt auch stark vom
       > jeweiligen Bundesland ab, sagt Bildungsforscher Oliver Winkler.
       
 (IMG) Bild: Zwei aus der Ukraine geflüchtete Schüler beim Deutschunterricht im Gymnasium am Kurfürstlichen Schloss in Mainz, April 2022
       
       taz: Herr Winkler, die meisten Bundesländer lassen junge Geflüchtete nicht
       sofort mit in den normalen Unterricht, sondern stecken sie zunächst in
       sogenannte Willkommens- oder Vorbereitungsklassen. Dort sollen sie Deutsch
       lernen. Sie haben nun herausgefunden: So gut lernen Jugendliche dort gar
       nicht Deutsch. Woran liegt das? 
       
       Oliver Winkler: Wir haben die Daten von gut 1.000 geflüchteten Jugendlichen
       untersucht und dabei drei Faktoren gefunden, die mit geringeren
       Deutschkenntnissen zusammenhängen. Dazu gehören lange Wartezeiten bei der
       Einschulung. In vielen Bundesländern beginnt die Einschulung erst dann,
       wenn die Familie einer Kommune zugewiesen ist. Das kann bis zu einem halben
       Jahr oder noch länger dauern. Je länger die Wartezeit, desto mehr
       Bildungszeit geht verloren und desto schwerer tun sich die Kinder, das
       Lernen wiederaufzunehmen. Sie dürfen nicht vergessen, dass viele Kinder ja
       bereits Monate, wenn nicht Jahre, auf der Flucht sind.
       
       taz: Und die anderen Faktoren? 
       
       Winkler: Auch ein ungeklärter Asylstatus führt zu schlechteren Leistungen:
       Wer nicht weiß, ob er bleiben darf, investiert offenbar weniger in seine
       Deutschkompetenzen. Und drittens haben junge Geflüchtete auch Jahre später
       noch schlechtere Deutschkenntnisse, wenn sie zunächst eine
       Willkommensklasse besucht haben. Den Vorbereitungsklassen gelingt es
       offenbar nicht ausreichend, Anfangsunterschiede beim Sprachniveau
       auszugleichen.
       
       taz: Was schließen Sie daraus? 
       
       Winkler: Geflüchtete sind den Rahmenbedingungen für Integration, die sie
       vor Ort vorfinden, ziemlich ausgeliefert. Gerade weil die Familien ja nicht
       so einfach den Wohnort und das Bundesland wechseln können, um in einem
       anderen Bildungssystem vielleicht bessere Bedingungen vorzufinden. Wir
       können also sagen, dass die Bundesländer für die unterschiedlichen
       Deutschkenntnisse mitverantwortlich sind.
       
       taz: [1][Ihre Studie] stützt sich auf Daten aus Sachsen, Bayern,
       Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz und damit auf unterschiedliche
       politische Ansätze: In Sachsen werden Schüler:innen ohne
       Deutschkenntnisse immer separat beschult, in Rheinland-Pfalz nie, in NRW
       und Bayern gibt es einen Mix aus verschiedenen Modellen. Brauchen wir
       künftig überall mehr Rheinland-Pfalz? 
       
       Winkler: So weit würde ich noch nicht gehen. Unsere Studie zeigt zwar, dass
       die Beschulung ohne Vorbereitungsklassen mit besseren deutschen
       Sprachkenntnissen zusammenhängt – die Studie ist aber nicht kausal. Wir
       haben keine Vorher-nachher-Messung machen können, solche Daten gibt es
       bisher nicht. Überhaupt ist immer noch wenig erforscht, wie gut der
       Unterricht in den Willkommensklassen tatsächlich ist. Deswegen wäre ich –
       ohne weitere Forschungsergebnisse – vorsichtig mit Rückschlüssen.
       
       taz: Sie würden den Ländern nicht empfehlen, geflüchtete Kinder und
       Jugendliche schneller in den Regelunterricht zu nehmen? 
       
       Winkler: Das schon. Wenn Kinder über zwei Jahre separat beschult werden,
       wie es teils immer wieder vorkommt, ist das eine große Erschwernis für die
       Integration und auch für den Spracherwerb. In diese Richtung gehen auch die
       Empfehlungen des Wissenschaftsrats und der Ständigen Wissenschaftlichen
       Kommission der Kultusministerkonferenz: In der Grundschule sollten
       Willkommensklassen vermieden werden, an weiterführenden Schulen sollte der
       Übergang in den Regelunterricht möglichst zügig erfolgen, also definitiv
       nicht erst nach zwei Jahren. Das würden auch wir dringend empfehlen.
       
       taz: Bildungsforscher:innen haben schon bald nach der Einrichtung von
       Tausenden Willkommensklassen in den Jahren 2015 und 2016 [2][Kritik an
       diesem Modell] geäußert: zu wenig Begegnung mit anderen Kindern, zu hohe
       Fluktuation in der Klasse, fehlende Curricula und Standards bei den
       Lehrkräften. Inwieweit spiegeln Ihre Ergebnisse auch diese Umstände wider? 
       
       Winkler: Wir gehen davon aus, dass die Punkte, die Sie ansprechen, genau
       diejenigen sind, die dazu führen, dass Willkommensklassen ein Nachteil für
       den Deutscherwerb sein können. Es fehlen einheitliche Lehrpläne, es gibt
       keine verpflichtenden oder vergleichbaren Qualifikationen für die
       DaZ-Lehrkräfte, teilweise sind auch die Bedingungen für den Übergang in die
       Regelklassen nicht eindeutig. Die Liste der fragwürdigen Punkte, die
       Kolleginnen und Kollegen bisher zusammengetragen haben, ist lang.
       
       taz: Manche Länder legen geflüchteten Schüler:innen zusätzliche Steine
       in den Weg. In Bayern gibt es die Willkommensklassen nur an Mittel- und
       Realschulen, nicht aber am Gymnasium. 
       
       Winkler: Warum manche Länder die Gymnasien hier außen vor lassen,
       erschließt sich mir nicht, denn Unterricht in den Willkommensklassen ist
       schulformunabhängig. Für Sachsen ist mir bekannt, dass vor ein paar Jahren
       auch einige Gymnasien Willkommensklassen eingerichtet haben – das machen
       sonst nur die Oberschulen. Zumal diese Aufteilung konkrete Folgen für die
       Geflüchteten hat: Wir haben 2022 in einer gemeinsamen Studie mit dem
       Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg herausgefunden, dass das
       Risiko in Bayern oder Sachsen deutlich höher ist, auf einer der niedrigeren
       Schulformen zu verbleiben. In den Ländern, die Willkommensklassen an allen
       Schulformen erlauben, schaffen mehr Geflüchtete den Übergang auf das
       Gymnasium.
       
       taz: Eine zentrale Rolle für den Spracherwerb spielt auch der Kitabesuch.
       Haben Sie diesen Faktor in Ihrer Analyse mit berücksichtigt? 
       
       Winkler: Das haben wir uns nicht angeschaut, weil die untersuchte Gruppe zu
       alt war, um in Deutschland in die Kita gegangen zu sein. Generell ist aber
       eindeutig, dass die Lernzuwächse beim Spracherwerb in einem frühen Alter
       besonders hoch sind. Für Kinder mit Migrationsgeschichte beispielsweise ist
       das in Deutschland auch gut dokumentiert. Ich würde also davon ausgehen,
       dass ein Kitabesuch in Deutschland auch für Geflüchtete ein positiver
       Faktor wäre.
       
       taz: Sofern sie einen Kitaplatz erhalten … Studien zeigen, dass Kinder mit
       Fluchterfahrung [3][beim Zugang zu früher Bildung besonders benachteiligt]
       sind. Können Schulen die Abstände zu privilegierten Kindern überhaupt
       wieder aufholen? 
       
       Winkler: Ich kann mich erinnern, dass die Bildungsforschung schon 2015
       angemahnt hat: Die zunehmende Heterogenität von Kindern und Jugendlichen
       wird in den nächsten zehn Jahren eine der größten Herausforderungen für das
       Bildungssystem sein. Das hat sich aus meiner Sicht bewahrheitet. Die
       Professionalisierung von Lehrkräften ist hierfür entscheidend. Und Sie
       haben recht, es geht dabei nicht allein um die Schulen, sondern auch um den
       wichtigen Zugang zu früher Bildung. Das bleibt auch heute eine große
       Herausforderung für unsere Sozial- und Bildungspolitik.
       
       taz: Die Jugendlichen, deren Daten Sie analysiert haben, sind heute Mitte
       20. Wissen Sie, was weiter aus ihnen geworden ist? 
       
       Winkler: Das konnten wir leider nicht untersuchen. Meine Vermutung wäre
       aber, dass sie unterschiedlich gut gerüstet sind für den Arbeitsmarkt. Man
       darf nicht vergessen, dass viele junge Geflüchtete gar nicht die
       Möglichkeit erhalten, eine Schule zu besuchen. Wer beispielsweise erst mit
       16 oder 17 Jahren nach Deutschland kommt, kann vielleicht noch ein Jahr in
       der Schule Deutsch lernen. Danach ist man auf Sprachkurse angewiesen. Je
       nach Alter sind die Integrationsbedingungen in Deutschland sehr
       verschieden.
       
       taz: Wie wichtig sind gute Deutschkenntnisse für eine erfolgreiche
       Ausbildung? 
       
       Winkler: Sehr! Wir sehen das jedes Jahr beim Übergang in die
       Berufsausbildung: Junge Geflüchtete, die einen Schulabschluss erworben
       haben und gut Deutsch können, haben deutlich bessere Chancen auf einen
       Ausbildungsplatz. Sie konkurrieren auf dem Ausbildungsmarkt nicht nur mit
       anderen Geflüchteten, sondern vor allem auch mit Jugendlichen, die das
       ganze Schulsystem in Deutschland durchlaufen haben und dadurch besser
       aufgestellt sind.
       
       Was interessant ist: Geflüchtete, auch jene mit sehr guten
       Schulabschlüssen, suchen sich für die Ausbildung nicht den Wunschberuf,
       sondern sehr oft Mangelberufe aus – vermutlich, weil sie sich erhoffen,
       eine Ausbildungsduldung zu erhalten. Das zeigt sehr deutlich die Not, in
       der sich junge Geflüchtete teilweise befinden.
       
       19 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/00016993251351531
 (DIR) [2] /Ukrainische-Jugendliche-in-Deutschland/!5896827
 (DIR) [3] /Bremen-als-Vorreiter/!6099489
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Pauli
       
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