# taz.de -- Entomologe im Interview: „Blumen weg, Schmetterlinge auch“
       
       > Der Insektenforscher Thomas Schmitt erklärt, warum die Agrarindustrie
       > Insekten verhungern lässt und wie man die systemrelevanten Tierchen
       > retten kann
       
 (IMG) Bild: Der Libelle geht's noch gut – der verbesserten Gewässerqualität sei Dank
       
       taz: Herr Schmitt, seit 2017 kennt in Deutschland jeder den Begriff
       „Insektensterben“. Wird uns das Thema dauerhaft begleiten oder bleibt es
       eine Eintagsfliege? 
       
       Thomas Schmitt: Den Fachleuten ist längst klar, dass da draußen etwas
       gehörig schief läuft. Es haben sich auch schon lange Abgeordnete für die
       Problematik eingesetzt, aber das war eine kleine Minderheit, die bis vor
       Kurzem kaum gehört wurde, erstaunlicherweise auch bei den Grünen nicht.
       Panda und Tiger zu schützen oder in Deutschland den Biber, war immer
       populär. Das sind große Tiere, die jeder kennt und die auch noch kuschelig
       aussehen. Aber damit setzt man ganz oben in der Nahrungspyramide an, und
       wenn man deren Fundament vernachlässigt, fängt sie an zu bröckeln. Dieses
       eigentlich triviale Wissen ist mittlerweile auf der politischen Agenda
       angekommen, spätestens seit Januar 2016, als es im Umweltausschuss des
       Bundestags eine Expertenanhörung zum Insektensterben gab. Inzwischen
       scheint das Thema im Fachministerium und den entsprechenden Institutionen
       durchgedrungen zu sein.
       
       Die Medien berichten oft etwas verkürzt, dass „80 Prozent aller Insekten“
       verschwunden seien. Was ist von der Zahl zu halten? 
       
       Ich finde es gar nicht so wesentlich, ob es nun 70 Prozent sind oder 50
       oder 90. Tatsache ist: Wir haben starke Verluste sogar in der Biomasse von
       Insekten. Das paust sich auf andere Tierarten durch: Die Insekten werden ja
       unter anderem von Vögeln gefressen, und da spiegelt sich der Rückgang
       eindeutig. Vor allem bei den großen Insekten ist er dramatisch, und nun
       schauen Sie mal, wie es dem Kuckuck geht: schlecht. Was frisst der? Dicke,
       haarige Raupen. Da haben es kleinere Vögel noch leichter. Wobei es auch
       Ausnahmen gibt.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Größeren Vögeln, die sich viel von Libellen ernähren, geht es ganz gut,
       denn die scheinen vom Insektensterben bei weitem nicht so betroffen zu
       sein. Libellen leben viel an Gewässern, und deren Qualität hat sich in den
       letzten 20, 30 Jahren stark verbessert. Der stärkste Rückgang von Arten und
       Individuen bezieht sich auf die terrestrischen Insekten.
       
       Was sind die Gründe dafür? 
       
       Es gibt einen ganzen Cocktail von Gründen, aber ganz oben auf der Liste
       steht die Veränderung in der Landnutzung. Ich verweise gerne auf eine
       Studie britischer Kollegen, die ausgerechnet haben, wie sich die Zahl der
       Individuen von zwei ganz gewöhnlichen Schmetterlingsarten, dem Kleinen
       Feuerfalter und dem Gemeinen Bläuling, zwischen 1900 und 2000 entwickelt
       hat. Dazu haben sie berechnet, wie dicht deren Populationen in bestimmten
       Habitaten waren und das mit den Flächenanteilen dieser Habitate
       multipliziert. Allein durch den Verlust von Habitaten in den folgenden
       hundert Jahren kamen sie auf Verluste von 88 und 95 Prozent! Dass diese
       Habitate selbst heute noch dünner besiedelt sind, ist da noch gar nicht
       berücksichtigt.
       
       Und der Grund für den Verlust an Habitaten … 
       
       … ist die enorme Intensivierung der Landwirtschaft! Die hat in Deutschland
       im größeren Stil nach dem 2. Weltkrieg angefangen und sich von den Zentren
       der landwirtschaftlichen Produktion in die Peripherie ausgebreitet. Die
       Mittelgebirge waren zuletzt betroffen. Ich bin im Hunsrück aufgewachsen, da
       gab es in den 80ern noch überall Blumenwiesen mit Schmetterlingen! Vorbei:
       Die Blumen sind weg und die Schmetterlinge auch. Die Größe der einzelnen
       bewirtschafteten Flächen hat stark zugenommen, erst in Ostdeutschland,
       bedingt durch die Kollektivierung. Aber diesen Unterschied, den man ja aus
       dem Flugzeug deutlich gesehen hat, gibt es kaum noch. Wenn ich heute über
       Deutschland fliege, sehe ich mit Erschrecken, dass das Offenland, also
       alles, was nicht Wald, Siedlung oder Verkehrsfläche ist, zu 95 Prozent oder
       mehr aus intensiven Agrarflächen besteht, mit ganz viel Mais, Raps,
       Getreide. Da ist kein Platz mehr für Insekten. Wir haben sie systematisch
       herausgelandwirtschaftet.
       
       Die Landwirtschaft müsste wieder viel kleinteiliger werden. 
       
       Das Problem sind die ökonomische Zwänge, die die Landwirte dahin gebracht
       haben. Wer nicht intensiv wirtschaftet, geht ohne entsprechende
       Kompensationszahlungen finanziell vor die Hunde. Wir müssen dahin kommen zu
       sagen, dass Landwirtschaft nicht nur der Produktion von Lebensmitteln,
       sondern auch dem Erhalt biologischer Vielfalt dient. Und das ist eine
       Aufgabe, die von der gesamten Gesellschaft finanziert werden muss.
       
       Wo gibt es denn noch insektenfreundliche Landschaften? 
       
       In Rumänien finden Sie Gegenden, wo es wie im Deutschland der 50er, 60er
       Jahre aussieht, wo es kaum Einfluss von Agrarindustrie gibt. Das quillt
       über vor Insekten! Und wenn ich über eine Blumenwiese in den albanischen
       Alpen laufe, habe ich im Vergleich zu einem Brandenburger Rapsfeld die
       zehn- bis hundertfache Biomasse. Eine Wiese ist in Deutschland meist nur
       noch ein Grasacker, eine hocheffiziente Monokultur. Da wird alles
       plattgemacht, eine einzige schnellwachsende Art wie Lolium perenne
       eingesät, und die kann dann fünfmal geschnitten und zu Silage verarbeitet
       werden. Das Schlimmste beim Insektensterben ist wohl schon passiert, bevor
       die Monitoringprogramme begonnen wurden. Die 1990 begonnene Krefelder
       Studie zeigt meiner Ansicht nach nur die Spitze des Eisbergs.
       
       Wie beurteilen Sie die Rolle der sogenannten Neonicotinoide? 
       
       Dass diese hochwirksamen Insektizide einen wichtigen Einfluss auf die
       beschriebenen Biomasse-Verluste haben, ist äußerst wahrscheinlich. Ganz
       genau weiß man es nicht, aber problematisch sind diese Substanzen auf jeden
       Fall. Sie verteilen sich über die Landschaft und gelangen am Ende auch in
       die Naturschutzgebiete, wo die Krefelder ja ihre Monitoring-Fallen
       aufgestellt hatten. Gut möglich, dass eine Falle im Rapsfeld schon vor
       langer Zeit leer geblieben wäre. Nur in den Naturschutzgebieten konnte in
       den letzten 20, 30 Jahren überhaupt noch so viel verschwinden. Aber auch
       die schleichende Eutrophierung ist für die Insekten ein enormes Problem.
       
       Vereinfacht gesagt: die Überdüngung. Warum tut die Insekten nicht gut? 
       
       Die hohen Stickstoffeinträge sorgen für ein schnelleres Aufwachsen der
       Vegetation und begünstigen einzelne, besonders wuchsstarke Arten. Gerade
       Gräser, die ja keine Nektarblüten produzieren, wachsen wie gedopt – und die
       viel zahlreicheren Magerarten, die die Lebensgrundlage ganz vieler Insekten
       darstellen, werden zurückgedrängt. Ein perfider Effekt ist auch, dass das
       schnell aufwachsende Gras den Boden beschattet und das Mikroklima dort
       unten feuchter und kühler macht. Viele der frühen Entwicklungsstufen von
       Insekten leben aber in diesem Bereich, die verpilzen dann und bekommen
       nicht die nötigen Wärmesummen. Die Eutrophierung der Landschaft hat genau
       den gegenteiligen Effekt wie die Klimaerwärmung. Die ist, ganz salopp
       gesagt, noch nicht stark genug, um das zu kompensieren.
       
       Noch mal zur Landschaft: Die sieht auf dem Weg zu Ihrem [1][Institut in
       Müncheberg] eigentlich ganz idyllisch aus: Links und rechts liegen große
       Felder, aber am Straßenrand gibt es blühende Wiesenstreifen. So stelle ich
       mir eine Agrareinöde eigentlich nicht vor. 
       
       Man hat ja auch mittlerweile erkannt, dass wir auf einen Kollaps der
       biologischen Diversität zusteuern. Sogenannte Greening-Programme, bei denen
       zum Beispiel auf Grünstreifen am Ackerrand Blütenmischungen miteingesät
       werden, gibt es schon länger, und auch die Straßenbaubehörden lassen sich
       beraten, wie sie eine Böschung insektengerecht bearbeiten und damit noch
       Kosten sparen. Solche Blühstreifen können als Trittsteine oder Korridore
       zwischen Naturschutzgebieten fungieren.
       
       Das heißt? 
       
       Die Naturschutzgebiete im Offenland sind Überlebensinseln für gefährdete
       Arten. In den meisten imitieren wir im Prinzip Nutzungsmethoden, die bis in
       die 60er Jahre üblich waren. Wenn in einer dieser oft beschämend kleinen
       Inseln eine Population erlischt, was auf ganz natürliche Weise vorkommen
       kann – etwa durch einen späten Frost –, dann ist die weg und kommt nicht
       wieder dort hin. Wir brauchen deshalb eine sogenannte
       Metapopulationsstruktur, ein vernetztes System von Habitaten und
       Populationen. Ein wichtiger Aspekt, an dem wir forschen, ist dabei die
       genetische Komponente: Der Genpool von Arten ist sehr unterschiedlich an
       das Überleben in Isolation angepasst. Manche halten es durch, wenn wir sie
       dauerhaft in Naturschutzgebieten „einsperren“, die brauchen keinen Genfluss
       von außen. Andere nicht: Wenn die durch einen Flaschenhals gehen, also
       stark dezimiert werden, können sich durch Zufallsprozesse auch unangepasste
       Gene durchsetzen, die das Ende der ganzen Population bedeuten können. Dann
       gehen Sie durch ein wunderbares Naturschutzgebiet und denken: Hier müsste
       eine bestimmte Art doch prima leben können – aber gerade die stirbt auf
       einmal weg. Einige dieser Arten verlieren wir gerade ganz radikal.
       
       Welche denn? 
       
       Schmetterlingsarten, die früher weit verbreitet waren, wie das Weißbindige
       Wiesenvögelchen oder der Wachtelweizen-Scheckenfalter. Dagegen haben
       richtige Spezialisten wie die Ameisenbläulings-Arten immer in kleinen,
       isolierten Populationen gelebt. Die sind evolutiv darauf getrimmt, so lange
       zu überleben.
       
       Wenig Probleme haben offenbar Insekten, die wir als Plage wahrnehmen. Bei
       den Mücken erfahren wir das fast jedes Jahr am eigenen Leib. 
       
       Ich mag Stechmücken auch nicht so gerne, aber sie gehören einfach dazu.
       Vielen Vogelarten dienen sie als Nahrung. Wenn Populationen einzelner Arten
       regelrecht explodieren, ist das aber genau die Folge davon, dass wir die
       biologische Vielfalt immer weiter reduzieren. Vielfältige Systeme sind viel
       resilienter gegen extreme Ausschläge. Sehen Sie sich den Schwammspinner an,
       dessen Raupen den Wald kahlfressen, oder den berüchtigten
       Prozessionsspinner, der gesundheitliche Probleme bei Menschen hervorruft.
       Wie gesagt: Den Kuckucken würden diese Raupen ja schmecken, aber es gibt zu
       wenig Kuckucke. Die Lösung ist auch kein noch so tolles Insektizid, denn
       damit schädige ich das Gesamtsystem und muss im Folgejahr wieder spritzen.
       Ein gutes Gleichgewicht schützt vor Extremen.
       
       Wenn heute schon so viele Insekten fehlen, die ja als Bestäuber fungieren,
       warum gibt es nicht längst große Ernteverluste? 
       
       Gute Frage. In vielen Treibhäusern werden heute Hummeln eingesetzt. Sie
       kaufen als Landwirt ein Volk, das dann Ihre Zucchini bestäubt. Es werden
       auch Bienenstöcke durch die Gegend gekarrt, um Bestäubungsdienstleistungen
       zu erbringen. In anderen Weltregionen sieht es noch kritischer aus: Aus den
       USA weiß ich, dass Imker es sich von den Mandelbauern teuer bezahlen
       lassen, ihre Stöcke zur richtigen Zeit in die Plantagen zu stellen. Und in
       China wird schon überlegt, Bestäubungsdrohnen einzusetzen. Das sind bizarre
       Szenarien. Und die Frage ist immer: Wo genau liegt der Schwellenwert, ab
       dem es schmerzhaft wird? Die Wissenschaft spricht von „tipping points“, von
       Kipppunkten: Wie viel kann man einem System zumuten, bis es kippt? Wenn wir
       aus ganz Deutschland ein Maisfeld machen, können wir darin noch vernünftig
       leben? Das wissen wir nicht. Und man sollte es auch nicht ausprobieren.
       
       Ist es richtig, dass Insekten in Berlin viel weniger Probleme haben als im
       dünn besiedelten Brandenburg? 
       
       Das ist gar kein Wunder, in der Großstadt wird ja auch nicht mit
       Pflanzengiften herumgespritzt. Und sie hat noch andere Vorzüge: Es gibt
       viele Gärten, da baut der eine das an und der andere jenes. Die Menschen in
       der Stadt wollen etwas blühen sehen. In der Brandenburger Agrareinöde haben
       Sie im Frühjahr die Rapsblüte und dann ist Schluss. Dort bekommen Insekten
       in weiten Bereichen ab Mitte Juni ein Riesenproblem. Die verhungern! Aber
       man muss Brandenburg mit einem lachenden und einem weinenden Auge
       betrachten, denn es gibt hier gleichzeitig sehr große Naturschutzgebiete,
       nach denen man sich im übrigen Deutschland die Finger leckt.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Bei den ehemaligen Truppenübungsplätzen haben wir tolle Sachen, aber auch
       Feuchtgebietskomplexe wie das Ruhlsdorfer Bruch zwischen Strausberg und der
       Märkischen Schweiz. Da gibt es blütenreiche Feuchtwiesen vom Feinsten. Man
       muss den Kollegen, die im Rahmen der Wiedervereinigung für den Naturschutz
       zuständig waren, unheimlich dankbar sein. Die haben geackert wie die
       Wahnsinnigen, um zu sichern, was da war.
       
       Das Monitoring, also die Überwachung von Artenreichtum und Anzahl, ist bei
       Insekten schwierig. Können sich interessierte Menschen daran irgendwie
       beteiligen? 
       
       Es gibt seit gut zehn Jahren das [2][Tagfalter-Monitoring], das vom
       Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig-Halle geleitet wird. Da
       können Sie sich anmelden und Schmetterlinge zählen, die Kollegen sind sehr
       nett und hilfreich, organisieren Netze und erklären die Bestimmung. Das ist
       eine ganz tolle Sache, die richtig gut läuft. Bei schwieriger zu
       erfassenden und zu bestimmenden Insektengruppen wäre das natürlich weitaus
       komplexer.
       
       Was kann man noch für die Insekten tun? 
       
       Äußern Sie sich politisch! Sagen Sie Ihren Volksvertretern, dass Sie nicht
       in einer Einöde leben wollen. Wenn das viele tun, wird es auch ernst
       genommen. Man kann Interessenvertreter unterstützen wie den NABU, die dafür
       sorgen, dass biologische Vielfalt erhalten bleibt. Die kaufen Flächen und
       organisieren deren Pflege, die machen Druck auf die Politik. Und dann kann
       natürlich jeder etwas machen, der einen Garten hat: eine Blühhecke pflanzen
       oder einfach ein paar Brennnesseln wachsen lassen. Damit rettet man nicht
       die Spezialisten unter den Insekten, aber ein Tagpfauenauge legt da schon
       mal seine Eier ab. Und wenn der Nachbar über den Wildwuchs bei Ihnen motzt,
       erklären Sie ihm: Der schöne Falter da auf deinem Sommerflieder, der kommt
       von mir.
       
       13 Jun 2018
       
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