# taz.de -- Die Grünen nach dem Ampel-Aus: Grün und gerecht?
       
       > Im anstehenden Wahlkampf wird es um Wirtschaftspolitik und soziale Fragen
       > gehen. Wie stellen sich die Grünen beim Thema Umverteilung auf?
       
 (IMG) Bild: Die Grünen am 6. November, dem Abend, an dem die Ampel endete
       
       Als am Mittwochabend nach 21 Uhr der Bundestagswahlkampf startete, da
       wankten die Grünen. Olaf Scholz hatte gerade in der perfekt ausgeleuchteten
       Kulisse des Kanzleramts seine fulminante Rausschmiss-Rede auf Christian
       Lindner gehalten, [1][ein halbes Wahlprogramm war in seine perfekt
       vorbereitete Ansprache] auch schon eingebaut. Die Delegation der Grünen
       dagegen musste sich nach Ende des Koalitionsausschusses draußen aufbauen,
       im Dunkeln vor dem Zaun, und dann versprach sich in seinem Statement auch
       noch Robert Habeck am Ende eines Schachtelsatzes: „Wir wollten den sozialen
       Zusammenhalt, den sozialen Frieden und die Zukunft dieses Landes (…)
       gefährden.“ Wer mag es ihm verdenken, nach so einem Tag.
       
       Immerhin: Er wird in nächster Zeit noch Gelegenheiten haben, den Satz
       korrekt zu formulieren. Und vielleicht erfüllt er dann, auf dem Parteitag
       am nächsten Wochenende zum Beispiel, die Erwartung, die in der Partei viele
       an ihn haben: dass er seine Vorstellungen zum sozialen Frieden noch mit ein
       paar Worten mehr ausführt. Verteilungsfragen waren in den letzten 15 Jahren
       im Parteiprogramm in irgendeiner Form immer präsent. Jetzt sollen sie aber
       wirklich Priorität werden – nachdem in den Regierungsjahren in der Praxis
       so vieles schief ging, wie weite Teile der Partei finden.
       
       Die scheidende Parteichefin Ricarda Lang, prominenteste Verfechterin einer
       grünen Sozialpolitik, bezeichnet sich selbst als gescheitert. Die
       abtrünnigen Ex-Vorsitzenden der Grünen Jugend sind vor allem gegangen, weil
       ihnen bei den Grünen der Mut fehlt, [2][sich mit den Reichen anzulegen.]
       Und auch die letzten Reste der Kindergrundsicherung, mit denen sich die
       Grünen sozialpolitisch profilieren wollten, haben sich mit dem Ampel-Aus
       erledigt.
       
       Laut dem Politbarometer trauen die Menschen den Grünen so wenig zu, für
       soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wie zuletzt 2018. Es hat etwas Tragisches:
       In der Ampel traten die Grünen oft ambitionierter auf als die SPD,
       sträubten sich zum Beispiel am längsten gegen die Verschärfungen beim
       Bürgergeld. Von diversen Seiten unter Druck, stimmten sie am Ende aber auch
       hier zu.
       
       Vor allem aber: Das große Trauma der Grünen, das Heizungsgesetz, zu dem
       Robert Habeck zunächst kein Förderkonzept parat hatte, überstrahlt alles.
       Die Grünen könnten in anderen Bereichen noch so viel für
       Verteilungsgerechtigkeit tun – es hilft nichts, solange sie in ihrem
       Kernbereich, dem Klimaschutz, als unsozial wahrgenommen werden.
       
       ## Wundermittel: Verteilungspolitik
       
       Gerade aus diesem Scheitern kommt das Bedürfnis, dass es in Zukunft anders
       läuft. Schon der alte Bundesvorstand gab in seiner Analyse zur verlorenen
       Europawahl vor: mehr Fokus auf soziale Fragen. Die [3][designierten neuen
       Vorsitzenden knüpfen in Interviews daran an]. Ein Papier aus der
       Bundestagsfraktion, ein Gemeinschaftswerk des künftigen Wahlkampfmanagers
       Andreas Audretsch vom linken Flügel und der Reala Katharina Beck, sieht das
       Ende von Steuerprivilegien für Reiche vor. Auf dem Parteitag Ende kommender
       Woche wird sich die prominenteste Debatte ebenfalls um solche Fragen
       drehen.
       
       Zusammen mit anderen hat der Europaabgeordnete Rasmus Andresen einen Antrag
       eingereicht. Unter dem Titel „Gerechtigkeit statt Spardiktat“ fordern sie
       ein riesiges Bündel an Maßnahmen. Als in einem Mitgliedervoting entschieden
       wurde, welche Anträge auf dem Parteitag tatsächlich zur Abstimmung kommen,
       landete dieser auf Platz eins. Ein Zeichen dafür, wie sich die Prioritäten
       auch an der Basis verschoben haben.
       
       Grundsätzlich gilt das sogar flügelübergreifend. Unter dem Eindruck der
       Inflation und des Gegenwinds der letzten Monate dämmert es auf der einen
       Seite den Realos: Neue Milieus zu erreichen, können sie vergessen, solange
       es den Menschen nicht gut geht. Auf der anderen Seite wollen die
       Parteilinken trotz des Umfragetiefs nicht noch mehr Abstriche bei
       Kernthemen wie Klima und Sozialem machen. In einer ambitionierten
       Verteilungspolitik sehen sie eine Art Wundermittel. Haben die Leute mehr
       Geld, machen sie den Rest auch wieder mit. Doch bei aller Einigkeit im
       Grundsatz: Verteilungsgerechtigkeit ist ein großes Wort. Von Steuern über
       Sozialleistungen bis hin zu staatlicher Infrastruktur und sogar
       Investitionen in die Wirtschaft kann man sehr vieles darunter packen. Was
       die Grünen im Wahlkampf im Detail fordern werden, ist umstritten.
       
       So ist im Gerechtigkeitsantrag für den Parteitag zwar einiges Konsens,
       etwa die Einführung des Klimagelds. Zu anderen Punkten gibt es aber zig
       Änderungsanträge. Auch wenn das Thema bisher unter dem öffentlichen Radar
       läuft, könnte die Debatte darüber kontroverser verlaufen als die über die
       grüne Migrationspolitik.
       
       ## Man wolle kein gesellschaftliches Gegeneinander
       
       Manche in der Partei hoffen nach dem Koalitionsbruch zwar, dass die
       umstrittensten Forderungen noch zurückgezogen werden. Im abrupt gestarteten
       Wahlkampf käme offener Streit ungelegen. Der Antragsteller Andresen, ein
       Parteilinker, gibt sich aber entschlossen: Die Vorstellung, in den
       Wahlkampf zu stolpern, ohne das inhaltliche Profil zu stärken, sei
       verrückt.
       
       Zur Kampfabstimmung könnte es zum Beispiel beim Thema Vermögensteuer
       kommen. Die Reala Katharina Beck möchte diesen Punkt aus Andresens Antrag
       streichen und bietet stattdessen ihre Vorschläge aus dem Fraktionspapier
       an, unter anderem das Schließen der Steuerschlupflöcher bei großen
       Erbschaften. Man müsse taktisch-strategisch erkennen, was durchsetzbar ist,
       heißt es in der Begründung.
       
       Bei anderen Änderungsanträgen geht es um die grundsätzliche Haltung. So
       will eine Gruppe die Formulierung streichen, dass unter der Inflation
       „nicht die Handvoll der reichsten Deutschen“ leide, sondern Millionen
       andere. In ihrer Begründung heißt es, man wolle kein gesellschaftliches
       Gegeneinander. Die Inflation belaste alle.
       
       Hinter der Diskussion steckt ein Zielkonflikt. Einerseits: Den Grünen hängt
       der Ruf der Besserverdienerpartei an. Um im Wahlkampf damit durchzudringen,
       dass sie es ernst meinen, wäre Klarheit in der Sache und in der Sprache
       hilfreich. Lieber 16 Euro Mindestlohn also, wie es in Andresens Antrag
       heißt. Und nicht, wie in einem weiteren Änderungsantrag gefordert, „eine
       Lohnuntergrenze von 60 Prozent des mittleren Lohns von
       Vollzeitbeschäftigten“. Läuft perspektivisch aufs Gleiche raus, versteht
       nur niemand.
       
       Andererseits haben die Grünen aber schon schlechte Erfahrungen damit
       gemacht, mit ambitionierten Plänen anzutreten, ohne auf die Fallstricke zu
       achten. Vor der Bundestagswahl 2013 warben die Grünen unter Spitzenkandidat
       Jürgen Trittin mit einem Steuerkonzept, das die Reichen belastet und die
       breite Masse entlastet hätte. Am Wahltag gingen sie damit unter.
       
       ## Wer nichts hat, gilt vielen als selber schuld
       
       „Umfragen, in denen sich Mehrheiten für mehr Gleichheit aussprechen, sind
       das eine. Wenn es aber ernst wird, wachsen die Widerstände und Ängste“,
       erinnert sich Trittin in seiner gerade erschienen Autobiografie. Das liege
       nicht zuletzt daran, dass sich in Deutschland viele für reicher halten, als
       sie sind – und fälschlicherweise fürchten, sie wären die Leidtragenden
       einer Politik für mehr Gleichheit.
       
       Das deckt sich mit Forschungsergebnissen, über die der Soziologe Steffen
       Mau mit Kollegen in seinem Buch „Triggerpunkte“ schreibt: 80 Prozent ihrer
       Befragten fanden demnach, dass Einkommen und Vermögen in Deutschland zu
       weit auseinandergingen. Viel polarisierter sind allerdings die Antworten
       auf die Frage, ob die Erbschaftsteuer für Reiche und die Bürgergeldsätze
       für Arme steigen sollten. Die Autoren erklären das auch damit, dass es in
       Deutschland parallel zur Ungleichheitskritik einen großen Glauben ans
       Leistungsprinzip gebe: Wer nichts hat, gilt vielen als selber schuld.
       
       In der Krise hat sich diese Annahme vielleicht sogar noch verfestigt. Dass
       sich die Ampel am Ende genötigt sah, ihr gerade erst eingeführtes
       Bürgergeld in Teilen wieder abzuwickeln, hatte auch mit der
       gesellschaftlichen Stimmung zu tun. In der grünen Programmdebatte schlägt
       sich das jetzt ebenfalls nieder: Anders als noch vor der letzten Wahl geht
       es in all den Papieren der letzten Wochen höchstens noch am Rande um
       Transferleistungen, die explizit den Ärmsten helfen.
       
       Statt um Bürgergeld und Kindergrundsicherung geht es um verlässliche Kitas
       und bezahlbare Mieten. Der Fokus hat sich verschoben bis in die
       Mittelschicht, bei der das Geld in der Krise auch knapp geworden ist.
       Anders gesagt: In den letzten Jahren hatten die Grünen für ihre
       Wähler*innen, von denen ja tatsächlich nur wenige ganz unten stehen, in
       Verteilungsfragen ein moralisches Angebot: Wir helfen den Armen. Künftig
       könnte die Mittelschicht auch aus Eigeninteresse grün wählen.
       
       ## Der Wahlkampf hat begonnen
       
       Bleibt aber noch eine letzte Frage: Mit welchen Gesichtern die Grünen
       vermitteln wollen, dass ihnen die finanzielle Lage der Menschen ein
       Anliegen ist. Ricarda Lang hätte es sein können, steht jetzt aber nicht
       mehr in der ersten Reihe. Familienministerin [4][Lisa Paus sollte es mit
       der Kindergrundsicherung] werden, daraus wurde aber auch nichts. Umso mehr
       kommt es nun also auf den Kanzlerkandidaten an.
       
       Robert Habeck allerdings ist in diesen Fragen selbst den meisten Grünen ein
       Rätsel. Er hatte mal ein soziales Gewissen. Unter ihm als Parteichef legten
       sich die Grünen auf eine Grundsicherung ohne Sanktionen fest – der
       endgültige Abschied von Hartz IV. Er überzeugte Skeptiker*innen in der
       Partei damals davon, dass die Schuldenbremse gelockert werden müsse, und er
       setzte die Forderung nach einem Klimageld als Ausgleich für den CO2-Preis
       durch.
       
       Seit seinem Umzug ins Wirtschaftsministerium ist davon nur noch wenig
       geblieben. Sollte er weiterhin sensibel für die finanziellen Nöte der
       Menschen sein, dann verbirgt er das gut. Das Desaster um das Heizungsgesetz
       ist dafür nur das prominenteste Beispiel. Den Regierungszwängen – die
       knappen Kassen, der Finanzminister, die Sorge um die Harmonie in der
       Koalition – setzte Habeck wenig entgegen.
       
       Jetzt ist die Koalition am Ende. Der Wahlkampf hat begonnen. Habeck könnte
       wieder umschalten. In seinem Bewerbungsvideo um die Grünen-Kandidatur, am
       Freitag online gegangen, deutet er das schon mal an. Er spricht darin über
       die Sorgen der Menschen „um den Arbeitsplatz, einen Kita-Platz, eine gute
       Schule, eine bezahlbare Wohnung, bezahlbares Pendeln“.
       
       Das eigene Image schnell genug zurückzudrehen, so dass die Wähler*innen
       ihm abnehmen, dass ihn als das kümmert, wird aber sportlich. Wie viel Zeit
       bis zur Wahl genau bleibt, weiß im Moment niemand. Auf jeden Fall aber:
       viel weniger als gedacht.
       
       8 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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