# taz.de -- Berliner Theatertreffen: Frei gedacht, mehr gelacht
       
       > Das Schauspiel Magdeburg ist mit der Romanadaption „Blutbuch“ zum ersten
       > Mal in der Geschichte des Hauses zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
       
 (IMG) Bild: Die Magdeburger Inszenierung „Blutbuch“ vom Kim de l'Horizon ist beim Berliner Theatertreffen im Mai 2025 eingeladen
       
       Eine Stunde und 46 Minuten mit dem RE1 sind kein Katzensprung, und doch
       waren wir in den letzten drei Jahren so oft wie nie zuvor in der
       sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt Magdeburg: Dort gibt es seit der
       Spielzeit 22/23 immer wieder „geiles Theater“, wie
       [1][Leitungsteam-Mitglied Clara Weyde] vor ein paar Wochen formulierte.
       
       Da stand noch nicht einmal fest, dass das Schauspiel Magdeburg dieses Jahr
       mit der Romanadaption „Blutbuch“ zum zweiten Mal mit einer Inszenierung von
       Jan Friedrich zum Münchner Festival Radikal Jung eingeladen ist, außerdem
       zum Heidelberger Stückemarkt und zum ersten Mal in der Geschichte des
       Hauses [2][zum Berliner Theatertreffen.]
       
       Deutsche Stadttheater mit Teamleitungen sind allen
       Machtmissbrauchsdiskursen zum Trotz immer noch eine Seltenheit. Clara Weyde
       (Regie), Clemens Leander (Kostüm) und Bastian Lomsché (Dramaturgie) sind
       zwischen 1983 und 1988 geboren, zwei im Westen, einer im Osten.
       
       Sie kennen sich aus Hamburg und wirkten am Ende ihrer ersten Spielzeit
       selbst ein wenig verblüfft, wie gut sie zusammenarbeiten: „Unser
       Arbeitsprozess kühlt automatisch ab, man reagiert nicht aus der Defensive
       heraus, und es liegen einfach mehr Argumente aus drei verschiedenen
       Perspektiven auf dem Tisch. So kommen wir zu ausgewogenen, sachlichen
       Entscheidungen“, erklärte Clara Weyde.
       
       ## Ein Haus mit Fantasie
       
       Vor allem aber wollten die drei das Magdeburger Schauspielhaus an der
       Otto-von-Guericke-Straße „massiv zum Brummen“ bringen. „Wir wollten einen
       Ort, an dem frei gedacht wird, mehr gelacht wird, wo mehr Fantasie
       stattfindet, der gleichzeitig auch in die Stadt vernetzt ist.“
       
       Eindrücklich zeigte sich dieses Brummen in der letzten Spielzeit bei einer
       Vorstellung von [3][Kim de l’Horizons „Blutbuch“]. Der große queere
       Romanerfolg des Jahres 2022, in dem die nonbinäre Erzählfigur das eigene
       Coming of Age schildert und dabei tief in die Familiengeschichte der Mütter
       hinabsteigt, lockt auch nach der Premiere noch viel ebenfalls queeres und
       quirliges Publikum ins Schauspielhaus. „‚Blutbuch‘ läuft super“, bestätigt
       Bastian Lomsché am Telefon. „Dafür reisen manche Leute sogar aus Berlin,
       Leipzig und Hannover an.“
       
       Die Inszenierung des jungen ostdeutschen Regisseurs Jan Friedrich
       überrascht mit ihrer Liebe zum Text bei gleichzeitiger Eigenständigkeit:
       Obwohl die Magdeburger Inszenierung dicht an Kims autofiktionaler Prosa
       bleibt und deren poetische und popliterarische Tonarten herausstellt,
       treibt Friedrich das Spiel des Ensembles in immer fluidere Formen.
       
       ## Kim de l'Horizons „Blutbuch“
       
       Dabei performen sich die Kims seines starken Ensembles mit Live-Video,
       Halbpuppen und Schrift aus der grauen Welt der Schweizer „Großmer“
       (Großmutter), ihren Tabus und Leerstellen heraus. Obwohl immer neue
       Spielstile den Humor in Kims Schreiben auf der Bühne weiterspinnen, gibt
       die Inszenierung auch dem Schmerz Raum, der in Kims Familie über
       Generationen schweigend weitergereicht wurde.
       
       „Onkel Werner“ öffnete im vergangenen September einen Schmerzensraum
       anderer Art. Hier gelang Jan Friedrich eine überraschende Übertragung von
       Tschechow nach Ostdeutschland: Aus „Onkel Wanjas“ Enttäuschung über den
       einst bewunderten Schwager Alexander wird Werners wutbürgerlicher Frust
       über Schwägerin Alexandra, die als linke Politikerin in der Hauptstadt
       gescheitert ist.
       
       Was sie bei ihrer Rückkehr mit einer deutlich jüngeren Geliebten nicht
       daran hindert, sich gegenüber den Daheimgebliebenen als Checkerin
       aufzuspielen, die die Familie drängt, ihre Ersparnisse in Bitcoins zu
       investieren. In Werners blümchentapezierter Container-Pension prallen
       Weltbilder und Gefühle aufeinander.
       
       ## In die Stadt Magdeburg hineinwirken
       
       „Blutbuch“ und „Onkel Werner“ sind aber auch Beispiele dafür, wie das
       Leitungsteam mit Stoffen in die Stadt hineinwirken will. Als „extrem mutige
       Entscheidung“ hat Jan Friedrich den Beschluss der drei bezeichnet, einen
       schon geplanten Klassiker gegen den Roman auszutauschen, den er gerade
       begeistert gelesen hatte. „Onkel Werner“ wiederum wird vom Publikum
       kontrovers diskutiert, ein Publikumsgespräch haben auch mal Rechte zu
       kapern versucht.
       
       Bastian Lomsché denkt schon an die Landtagswahlen 2026, bei denen die AfD
       in Sachsen-Anhalt über 50 Prozent einfahren will: „Bislang gab es keine
       direkten Angriffe. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Der Kulturkampf
       ist ausgerufen, und wir positionieren uns klar dagegen.“
       
       Schon in der ersten Spielzeit hatte das Team versucht, auf Magdeburg als
       traditionsreichen Industriestandort, als Stadt des Schwermaschinenbaus in
       der DDR, der Ingenieurs- und Medizinwissenschaften Bezug zu nehmen. „Was
       die Stimmung hier prägt, ist die Erfahrung verschiedener Enttäuschungen“,
       hatte Clara Weyde schon 2023 festgestellt. Damals hoffte man auf den Bau
       einer Chipfabrik des US-Konzerns Intel, den die Ampelregierung mit fast 10
       Milliarden Euro bezuschussen wollte.
       
       Das Theater Magdeburg ist ein Mehrspartenhaus, das unter dem Schweizer
       Intendanten Julien Chavaz die besten Auslastungszahlen ever vermeldet. In
       Bezug auf das Schauspiel schränkt Bastian Lomsché ein, dass die Auslastung
       bei knapp 75 Prozent liegt. Magdeburg sei eigentlich keine Theaterstadt.
       Tatsächlich stellt das Schauspielhaus mit nur 200 Plätzen im großen Saal
       für 240.000 Einwohner:innen ein eher bescheidenes Angebot.
       
       Trotzdem ist die Stimmung unter den 90 Mitarbeiter:innen gerade
       prächtig. „Alles, was wir mit dem Ensemble, dem Haus und dem Wirken in die
       Stadt versucht haben, hat sich bestätigt und verstetigt“, sagt Lomsché. Die
       Festival-Einladungen und die überregionale Wahrnehmung seien aber auch für
       die am Theater wichtig, „die schon vorher da waren und nach uns bleiben
       werden“.
       
       ## „Das Floß der Medusa“
       
       Zuletzt feierte am Schauspiel Magdeburg „Das Floß der Medusa“ Premiere. Die
       französische Fregatte „Medusa“ war 1816 auf kolonialer Beutefahrt, als sie
       vor der westafrikanischen Küste auf eine Sandbank lief, weil der
       Befehlshaber lieber inkompetenten Linientreuen statt erfahrenen Seeleuten
       das Kommando übergab. Die Verantwortlichen retteten sich und ließen 150
       Söldner auf einem Floß zurück, von denen nur 15 überlebten – alle anderen
       starben, wurden ermordet und kannibalisiert.
       
       Regisseurin Mirjam Loibl erzählt die Geschichte vom Zivilisationsbruch der
       Aufklärung nicht historisch-realistisch. Sie übersetzt das Überlieferte in
       intensive Atmosphären und zeitgenössische Assoziationen. So verwandelt sich
       das Ensemble aus einem Chor der Kolonialclowns in eine Crew in Orange und
       „cancelt“ die einzige Stimme der Vernunft. Zwei Schauspieler lösen sich aus
       der Gruppe und sprechen das Telefonat des Hafenkommandanten mit dem sich
       verdünnisierenden Kapitän der schiffbrüchigen „Costa Concordia“.
       
       Als die Todgeweihten auf dem Floß treiben, verschiebt sich die Inszenierung
       in Richtung Tanztheater. Stumm verknäulen sich die Spieler ineinander,
       Gesten der Rettung gehen in Ringkampf, Umarmungen ins Fressen über.
       „Verlassen von jedem Gesetz“ warten sie auf ihr Ende, bis einer zum
       Hungermonolog über Moules frites anhebt.
       
       Während vom Bühnenhimmel Rauchkringel wie Medusen durch die Tiefsee
       schweben, wird der Sprecher zur über 200 Jahre alte Muschel, die schon
       viele Mächtige und Gierige überdauert hat. Auch wenn nicht jedes Bild
       überzeugt, ist dieses Experiment auf jeden Fall faszinierend genug, um
       demnächst wieder in den RE1 zu steigen.
       
       8 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Magdeburger-Schauspieldirektorin/!5973635
 (DIR) [2] /Deutschkroatische-Regisseurin/!6073966
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Behrendt
       
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