# taz.de -- Historiker Jürgen Zimmerer über Genozide: „Es gibt keine Hierarchie des Leides“
> Gaza, Sudan, Ukraine – die Gegenwart ist voller Kriege und Gewalt. Aber
> was davon ist Genozid? Der Historiker Jürgen Zimmerer über eine verzerrte
> Wahrnehmung.
(IMG) Bild: Zerstörung in Gaza: „Weder darf man Israel vorschnell verurteilen noch darf man jede Untersuchung des Vorwurfs als antisemitisch abtun.“
taz: Herr Zimmerer, der Gaza-Krieg ist seit dem Herbst vorerst beendet. Ist
die Frage jetzt überhaupt noch relevant, ob Israel dabei war, dort einen
Genozid zu begehen?
Jürgen Zimmerer: Auf jeden Fall. Der [1][Konflikt um Gaza] ist ja noch
nicht beendet, und was die israelischen Kriegsziele waren und sind, ist von
erheblicher Bedeutung auch für die Einschätzung der Friedensmöglichkeiten.
Auch hat Israel das Recht, dass der Genozidvorwurf geprüft und ausgeräumt
wird, sollte er unzutreffend sein. Schließlich verjährt Genozid auch nicht.
Die Weltgemeinschaft kann und muss deswegen auch nachträglich versuchen,
die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Sowohl der Terrorangriff
der Hamas als auch Israels Reaktion darauf haben sich tief ins kollektive
Bewusstsein vieler Gesellschaften der Welt eingeschrieben. Wir werden uns
noch lange mit Ursachen, Verlauf und Folgen beschäftigen müssen.
taz: Sie und viele andere Genozidforschende sind im Kern Historiker.
Braucht es den zeitlichen Abstand zur Gewalt, um zu beurteilen, ob ein
Genozid vorliegt?
Zimmerer: Grundsätzlich ist es möglich, einen laufenden Genozid als solchen
zu identifizieren, das versuchen ja auch die Gerichte. In [2][Ruanda 1994]
etwa war, während die Verbrechen geschahen, bereits klar, dass es sich um
einen Genozid handelt. In anderen Fällen ist die Beweislage schwieriger,
lassen sich bestimmte Kriterien nicht ausreichend nachweisen. Zum Beispiel:
Lässt sich die Gewalt eindeutig auf die Intention und den Befehl des
Oberkommandos zurückführen? Es ist oft nicht einfach, zum Zeitpunkt des
Geschehens an die nötigen Informationen zu kommen, vieles unterliegt der
Geheimhaltung. Das sieht man auch bei der Bewertung von Israels Vorgehen in
Gaza. Gleichzeitig kann man aber auch nicht sagen: Wir warten ab und in 40
Jahren kommen wir dann zu einem Fazit. Das wäre absurd.
taz: War es also ein Genozid, was da in Gaza vom israelischen Militär
ausging?
Zimmerer: Man sollte diese Vorwürfe sehr ernst nehmen, auch wenn ich selbst
in meinem Urteil zurückhaltend bin, da ich weder Arabisch oder Hebräisch
spreche noch ein Experte für die Region bin. Aber es gibt Kolleg*innen, die
diese Kompetenzen haben und die darauf hinweisen, dass ein Genozid
vorliegen könnte. Weder darf man Israel vorschnell verurteilen noch darf
man jede Untersuchung des Vorwurfs als antisemitisch abtun. Und
letztendlich wird sich spätestens am Frieden zeigen, wie weitreichend die
israelischen Kriegsziele waren. Wird es dann einen Frieden in Freiheit oder
Gleichberechtigung für Palästinenser*innen wie für jüdische Israelis
geben oder wird eine Gruppe vertrieben oder zerstört sein.
taz: Die International Associtation of Genocide Scholars IAGS hat Anfang
September eine Resolution verabschiedet, wonach Israel eindeutig einen
Genozid begangen habe.
Zimmerer: Das ist wichtiges Symbol, allerdings glaube ich nicht, dass sich
so etwas per Mehrheitsbeschluss der Mitglieder entscheiden lässt, wie es
die IAGS getan hat.
taz: Haben die Kritiker also recht, die der IAGS vorwerfen, bloß eine
Gruppe antiisraelischer Aktivisten zu sein?
Zimmerer: Nein, auch wenn die IAGS schon immer Leute vertreten hat, die
ihre Rolle eher in der aktiven Prävention von Genozid sahen als in dessen
wissenschaftlicher Erforschung. Aber das bedeutet nicht, dass die IAGS per
se eine israelkritische Schlagseite hat. Das mögen nicht alles promovierte
Genozidforscher*innen sein, aber es sind Leute, die sich intensiv mit
dem Thema auseinandersetzen. Deshalb sollte man diese Resolution ernst
nehmen und nicht einfach vom Tisch wischen.
taz: Welche Kriterien müssten erfüllt sein, damit auch Sie von einem
Genozid sprechen?
Zimmerer: Laut UN-Konvention liegt ein Genozid vor, wenn die Intention
nachweisbar ist, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten,
und man beginnt, dieses Ziel auch umzusetzen. Das ist die völkerrechtliche
Herangehensweise. Es gibt aber auch andere, die versuchen, die politischen
Engführungen der UN-Konvention zu vermeiden, denn bestimmte Opferkategorien
wurden nicht mit aufgenommen. Die Sowjetunion legte ihr Veto gegen Klasse
als Opferkategorie ein, die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich
wehrten sich derweil gegen politische Gruppen als Kategorie. Genozid ist
eben nicht nur ein Völkerrechtstatbestand, sondern auch eine historische
oder sozialwissenschaftliche Analysekategorie.
Wenigstens innerhalb der Sozialwissenschaften herrscht dann aber
hoffentlich Einigkeit oder?
Manche Forscher sehen einen Genozid im Unterschied zum Krieg, andere
beschreiben Genozid als möglichen Teil beziehungsweise als Radikalisierung
eines Krieges. Teils wird als Kriterium gesehen, dass die Opfer
verteidigungsunfähig sind, teils ist das ebenso irrelevant wie die Frage,
ob sie Widerstand leisten.
taz: Wenn über Genozid gesprochen wird, denken viele Leute automatisch an
den Holocaust. Ist das ein Problem?
Zimmerer: Viele denken: Wenn es ein Genozid ist, ist es wie der Holocaust
und deshalb ist es besonders schlimm. Schlimmer zum Beispiel als ethnische
Säuberungen. Aber es gibt hier keine Hierarchie des Leides oder der Gewalt.
Auch meinen Holocaust und Genozid nicht das gleiche. Holocaust ist ein
spezifisches historisches Ereignis, Genozid ist eine Kategorie von
Ereignissen, die untereinander durchaus unterschiedliche Züge aufweisen
können. Und das im öffentlichen Diskurs oftmals vorherrschende Verständnis
vom Holocaust selbst ist ja auch nicht korrekt. Für viele ist der Holocaust
einfach Auschwitz, also die Gaskammern von Birkenau, der industrielle
Massenmord, „klinisch sauber“ durchgeführt von einigen wenigen Tätern.
taz: So wird der Holocaust auch in Schulbüchern oft noch dargestellt…
Das ist eine Entlastungsfiktion gerade für nichtjüdische Deutsche: Die
Mehrzahl der Holocaust-Opfer starb nicht in den Gaskammern – wo der Tod
übrigens auch nicht blutlos und steril war. Die meisten wurden von den
Einsatzgruppen der SS und Polizei erschossen. Das waren nicht nur ein paar
Schreibtischtäter und SS-Wachmänner, sondern zehntausende unserer
Urgroßväter und Großväter, die sprichwörtlich knöcheltief im Blut standen.
taz: Verzerrt das auch die landläufige Vorstellung von Genoziden?
Zimmerer: Ja! Die Gleichsetzung etwa von Genozid mit Auschwitz führt dazu,
dass man aus der Abwesenheit von Vernichtungslagern und dem ganzen
bürokratischem Apparat, die Letztere unterstützte, auf die Abwesenheit von
Genozid schließt. Neben den verschiedenen Formen des Mordens im Holocaust
verliert man auch die Radikalisierungsprozesse, die Verbindung etwa mit dem
Krieg, aus dem Auge. Auch rührt daher der Vorwurf, manche würden die
israelische Kriegsführung mit dem Holocaust gleichsetzen. Dem ist aber
nicht so.
taz: Inwiefern?
Genozid kann sehr unterschiedliche Formen annehmen: Der gemeinsame Nenner
ist, dass man eine bestimmte Gruppe in einem bestimmten Gebiet zerstören,
ihr physisches und auch kulturell-gesellschaftliches Leben zerstören
beziehungsweise unmöglich machen will. Im Falle des Holocaust umfasste die
Opfergruppe alle Jüdinnen und Juden, und zwar auf der ganzen Welt, in
anderen Fällen war die Gruppe der Opfer kleiner oder territorial
beschränkt. Auch muss nicht die Ermordung der Menschen im Vordergrund
stehen, es kann auch deren kulturelle Zerstörung sein, so dass sie zwar
überleben, aber als Gemeinschaft zerstört sind.
taz: Bisher haben wir vor allem über mögliche Verbrechen durch Israels
Militär gesprochen. Was ist mit dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023?
Zimmerer: Ich denke schon, dass man hier von genozidaler Absicht sprechen
kann. Die Zerstörung Israels, wie von zumindest einem Teil der Hamas
propagiert, wäre zweifellos ein genozidaler Akt. Ich kann allerdings nicht
beurteilen, ob die Hamas zu irgendeinem Zeitpunkt die reelle Möglichkeit
gehabt hätte, Israel zu vernichten. Aber dass sie Jüdinnen und Juden
getötet oder vergewaltigt haben, weil sie Jüdinnen und Juden waren, ist
evident.
taz: Ein anderes aktuelles Beispiel: die Gewalttaten im Sudan.
Zimmerer: Auch hier gilt, dass es zahlreiche Indizien dafür gibt, dass die
massiven Kriegsverbrechen, die wir auf jeden Fall konstatieren können, Teil
einer generellen Strategie der Vernichtung der gegnerischen Gruppe „als
solcher“ sind. Spätestens seit den jugoslawischen Nachfolgekriegen in den
1990er Jahren ist zudem anerkannt, dass etwa Vergewaltigungen Teil einer
genozidalen Strategie sein können. Zudem kommt im Fall des Sudan dazu, dass
es dort eine längere Tradition ethnischer Säuberung, wenn nicht gar des
Genozids gibt, die zumindest bis auf 2003 zurückgeht. Damals wurde bereits
die Gewalt arabischer Milizen gegen afrikanische Bauern in Darfur unter dem
Stichwort des Genozids diskutiert. Die heutigen Konfliktlinien ähneln den
damaligen.
taz: Auch Russland wird wegen des Angriffs auf die Ukraine teils Genozid
vorgeworfen. Wird der Begriff zunehmend zum politischen Instrument?
Zimmerer: Es ist nicht primär ein politisches, sondern ein juristisches
oder analytisches Instrument. Es gibt auch im Falle Russlands Hinweise, die
es nachvollziehbar machen, den Vorwurf des Genozids zu überprüfen. Dagegen
verwahrt sich natürlich Russland. Aber dass wissenschaftliche Erkenntnisse
durch politische Akteure gezielt affirmativ genutzt oder eben diskreditiert
werden, ist nicht neu. Als etwa die russischen Verbrechen im Kijiwer Vorort
Butscha 2022 als Genozid bezeichnet wurden, war die politische Reaktion in
Deutschland eine ganz andere als heute, wo es um Israel geht.
taz: Der Bundestag hat ja auch die sowjetischen [3][Verbrechen gegen die
Ukrainer*innen in den 1920er Jahren] als Genozid anerkannt…
Zimmerer: Das ist auch interessant, wenn man bedenkt, dass der Bundestag
bis heute den Genozid des deutschen Kaiserreichs an den Herero und Nama
Anfang des 20. Jahrhunderts nicht so eingestuft hat. Es scheinen also nicht
nur erinnerungspolitische Überlegungen eine Rolle zu spielen. Andererseits
ist auch die Idee problematisch, das Parlament könne per Abstimmung
sozusagen eine historische Wahrheit festlegen.
taz: Droht der Begriff Genozid in dieser Gemengelage seine Brauchbarkeit zu
verlieren?
Zimmerer: Wofür die Opfer des Dritten Reiches gekämpft haben – nicht
zuletzt jüdische Intellektuelle wie Raphael Lemkin –, ist, dass es
spezifische Verbrechen gibt, die nicht nur auf den Sieg über den Gegner
zielen, sondern auf dessen Zerstörung als Gesellschaft und in extremer Form
auf dessen physische Auslöschung. Diese Erkenntnis darf nicht deshalb
diskreditiert werden, weil manche den Begriff instrumentalisieren. Die
Weltgesellschaft hat lange gebraucht, damit solche Gewalt genau benannt und
die Verantwortlichen verfolgt werden. Das sollte man nun nicht leichtfertig
aufgeben. Dass Genozid als ein Verbrechen besonderer moralischer
Verwerflichkeit gilt, der Begriff eine besondere Signalwirkung hat, ist ja
auch ein Erfolg der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, ein Erfolg des
„Nie Wieder“.
23 Dec 2025
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